Nach dem zusammen mit Thea Dorn verfaßten Meisterstück Die deutsche Seele legt Richard Wagner nun eine weitere Bestandsaufnahme vor, in schmalerem Umfang und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Habsburg ist ein lockerer Streifzug durch den historischen und geographischen Raum der Donaumonarchie, aus deren Humus auch der 1952 im Banat geborene Autor selbst stammt.
Als roter Faden dient ihm dabei das Blättern in einer fiktiven »Bibliothek«, in der sich diese »verlorene Welt« widerspiegelt. Zum »Bibliothekar« und Reiseführer hat Wagner den 1890 in Wien geborenen, heute nur mehr Spezialisten bekannten theologisch-philosophischen Schriftsteller Erwin Reisner erkoren, der zeitweise in Siebenbürgen lebte.
Wagners kurzweilige, elegante Skizzen behandeln unter anderem: den Lauf der Donau vom Schwarzwald ins Schwarze Meer, die Titel des Kaisers Franz Joseph, den politischen Katholizismus, Bram Stokers Dracula,das »Lied vom Prinzen Eugen«, die »Stadt im Windschatten« Triest, Rezepte für Dobroschtorte, Mohnstrudel und Quark-Pogatschen und »das Kino des Prager Frühlings«. Gastauftritte haben Ludwig Wittgenstein und Sigmund Freud, Robert Musil und Joseph Roth, Rainer Maria Rilke und Franz Kafka, Elias Canetti und Emil Cioran, György Konrád und Bela Lugosi, Paul Celan und Milan Kundera – die Liste der illustren Sprößlinge des trans- und cisleithanischen Raumes ist schillernd und schier endlos.
Wagners Anrufung der »Welt von Gestern« formuliert aber auch eine Frage an die Gegenwart: »Ein wichtiger Indikator für das Gleichgewicht einer Gesellschaft ist das in ihrer Öffentlichkeit akzeptierte Verhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sprich: Wie viel Vergangenheit braucht diese? Wie viel Gegenwart weiß sie sich zu verschaffen? Wie viel Zukunft billigt sie sich zu?«.
Wagner macht keinen Hehl daraus, daß er das heutige Verhältnis zu diesen Dingen aus dem Gleichgewicht gekippt sieht: wir leben in einer Zeit, die besonders seit dem Fall des Ostblocks »rasant an Gedächtnis verloren« hat. Die Frage nach einer kulturellen und politischen Ordnung und Identität Europas, die der Herkunft eine Zukunft geben und die Vielfalt in eine Einheit bringen kann, bleibe weiterhin offen: »Es ist keiner mehr da, der zu uns sprechen könnte, und mit der Anrede ›meine Völker‹ zu beginnen wüßte«, wie einst der österreichische Kaiser.
»Die Lebenskunst, von der wir gerne sprechen, hat ihre Rahmenbedingungen. Zu ihrer Festlegung haben die Habsburger und ihr Imperium einen wesentlichen Beitrag geleistet. Nachzulesen in der Bibliothek einer verlorenen Welt«, schreibt Wagner. Zwar beglückt von der Lektüre, aber doch melancholisch klappt man Wagners Betrachtungen wieder zu. Man blickt aus dem Fenster, und beginnt sich ernsthaft zu fragen, ob Europa, das alte, das wirkliche, das europäische Europa heute doch nur mehr in Büchern – und nur dort aufzufinden ist.