Er trat damit einen im Mai vereinbarten Gegenbesuch an, denn im Frühsommer hatte Götz Kubitschek in Budapest in der Stiftung vorgetragen, und zwar zum Thema: »Deutschland – eine zerrissene Nation.« Kubitschek beschrieb in seiner Vorrede zu Tallais Referat seinen Besuch in Budapest als Lehrstunde. Ihm sei in den Gesprächen mit Journalisten und Wissenschaftlern und auf den Gängen durch die Stadt klargeworden, daß es sich beim »ungarischen Weg« unter Orban zugleich um ein politisches Minimum und Maximum handle – für Deutschland ebenso notwendig wie wohl bereits unerreichbar.
Gabor Tallai trug in Schnellroda zum Thema »Freiheit« vor und beindruckte durch jenes lässige Selbstbewußtsein, das denen zueigen ist, die lange gewartet und hart gearbeitet haben und nun wissen, daß ihre Zeit gekommen ist. Er stellte seine Vortrag ein Motto von Albert Camus voran: „Ich glaube an die Wahrheit, doch meine Mutter ist mir wichtiger.”
Textfassung des Vortrags von Gábor Tallai
Freiheit. An diesem Wort, diesem Begriff haftet für einen Ungarn und die Bürger Ost- und Mitteleuropas insgesamt nicht der kleinste Hauch von Abstraktion. Freiheit ist für uns zum Beißen, sie ist wie unser täglich‘ Brot. Als die kommunistische Diktatur nach einem halben Jahrhundert endlich zusammenbrach, das sowjetische Reich wie durch einem Zauber seine erstickenden Konturen verlor, war das in den Augen der Ost- und Mitteleuropäer ein langersehnter, wundervoller Moment der Rückkehr – einer Rückkehr zur Normalität und in die nie vergessene Welt von Möglichkeiten, einer Rückkehr zur wahren Selbstbestimmung, sowie zur faßbaren, persönlichen Verantwortung. Es war eine Rückkehr in die Welt der Vorväter. Auch die Geschichte selbst ist von den Völkern jenseits des einstigen Eisernen Vorhanges nie als eine Abstraktion wahrgenommen worden. Sie ist geblieben, was sie in Wirklichkeit immer war und sein wird: die Geschichte der Ahnen, Eltern, Verwandten, Freunde und Mitglieder der auf historischem Boden wachsenden kulturellen und nationalen Gemeinschaft.
Spricht ein Politiker oder Historiker in Warschau oder in Budapest über den Verlust von Souveränität, die Besetzungen des jeweiligen Landes durch Fremdmächte, den Holocaust, den Gulag, die Zwangsvertreibung, die Kollektivierung, die Verstaatlichung des Privateigentums, die auf menschenfeindlichen Ideologien basierende Vernichtung, die Verfolgung und Ausgrenzung von Mitbürgern, das Schwinden der Meinungsfreiheit, den vehementen Haß gegenüber dem christlichen Glauben und den von ihm ableitbaren, aus ihm erwachsenen Werten, also über die Zerstörung des Individuums par excellence, so stehen für die meisten von uns knallharte Schicksale und Familiengeschichten dahinter. Das ertragene Leid hat nichts Subtiles, es ist so konkret, dermaßen faßbar, daß viele unserer Landsleute auch heute noch mit den Tränen kämpfen oder vor Wut die Fäuste ballen, wenn sie daran denken.
Genauso müßte es im Falle des wiedervereinten Deutschlands sein. Diese Nation gehört nämlich ebenfalls zu den härtesten Freiheitskämpfern Europas. Deutsche antikommunistische Helden waren es, die als erste im Sommer 1953, kurz nach dem Tode Stalins, dem Sowjetreich die Stirn boten. Sie forderten freie Wahlen. 1.400 politische Gefangene wurden befreit. In 650 Orten kam es zu teils massiven Protesten. Werden die Namen dieser Männer und Frauen samt ihrer Schicksalsgeschichten im Unterricht behandelt? Fünfzig Freiheitskämpfer wurden ermordet, 13.000 kamen ins Gefängnis, mindestens 1.600 von ihnen wurden verurteilt. Wie viele Straßen und Plätze sind heute nach ihnen benannt? Ich weiß, in Berlin gibt es die Straße des 17. Junis, doch wie viele Straßen und Plätze tragen die Namen antikommunistischer Helden in die Zukunft? Liest man auf der Homepage der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen die Liste inhaftierter und hingerichteter DDR-Bürger samt Biographien, dann bekommt man ein ähnliches Bild, wie im Falle Ungarns. Neben den vielen ursprünglichen Antikommunisten sind in hoher Zahl auch ehemalige Befürworter und Kollaborateure des Terror-Regimes zu Freiheitskämpfern geworden, ihre Schicksalsgeschichten sind der massive Beweis für die unzerstörbaren ethischen Maximen unserer Kultur, für demokratische Entschlossenheit und für das ewige Verlangen nach Gerechtigkeit im orginären Sinne.
In Ungarn haben die Freiheitskämpfer von 1956, die sogenannten „Pester Jungs und Mädels“ ihren Platz im Pantheon der ungarischen Geschichte eingenommen. Gut, es hat gedauert, aber vor etwa zwei Jahren war Ungarn voll mit Großplakaten mit jungen Gesichtern und ihren Namen, allesamt antikommunistische Helden, die einst ihr Leben für unsere Freiheit gegeben haben. Auch der bevorstehende 30. Jahrestag der antikommunistischen Revolution von 1989 und 1990 soll in Ungarn gebührend gefeiert werden, denn die Freiheit ist auch damals nicht vom Himmel gefallen. Ebenso wie in Deutschland! Erinnert man hierzulande im Unterricht an die unglaublich tapferen Bürger der Montagsdemonstrationen vom Herbst 1989? Hunderttausende nahmen an ihnen teil, es waren Deutsche, die den einfachen Satz prägten: „Wir sind das Volk!”. Ich kenne kein schöneres Glaubensbekenntnis für Freiheit und Demokratie. Und doch nennt man die Geschehnisse von 1989 in der Bundesrepublik oft nur „Wende”, benutzt also einen abwertenden, nichtssagenden Begriff, der in aller Eile von Egon Krenz, einem Erzkommunisten, eingeführt worden war. Hört man dieses Wort als Ungar oder Pole, empfindet man es als schändliche Demütigung aller antikommunistischen Freiheitskämpfer einschließlich ihrer Opfer. Daß die Kommunisten nichts mit 1989 und 1990 anfangen konnten, ist verständlich, denn das Auseinanderfallen ihrer Utopie, die sich als Alptraum entpuppt hatte, traf sie so hart wie ein böser Zauber. Bezeichnender Weise hatte aber auch ein beachtlicher Teil der westdeutschen Elite enorme mentale Schwierigkeiten beim Deuten der Ereignisse. Erinnern Sie sich an Otto Schilys Geste, als er im März 1990 den ungebrochenen Freiheitswillen und die demokratische Beständigkeit einer ganzen Nation mit dem Aufzeigen einer Banane diffamierte?
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Meine Damen und Herren!
Wie dem auch sei, die Vorgeschichte der glorreichen antikommunistischen Revolutionen in unserer Region samt ihrer zahlreichen Teilnehmerlisten zeigt, daß trotz des eruptiven Charakters der Ereignisse all das, was vor gut 30 Jahren geschah, nichts mit einem Zauber zu tun hat. Die Freiheit wurde erkämpft, der jahrzehntelange Weg zu ihr beschenkte uns mit Helden und Märtyrern! Er gab uns Stärke, Selbstbewußtsein und Vertrauen. Die Völker Osteuropas klammerten sich nämlich an ihr historisches Bewußtsein, an ihre demokratischen, kulturellen und nationalen Werte: es war das einzige, was ihnen blieb, und es half ihnen, den sogenannten internationalen Sozialismus, also den Kommunismus, zu überstehen. Jeder war und ist sich in unserer Region Alexander Solschenizyns Wahrheit bewußt: „Die Nation ist ein Schatz der Menschheit”.
Spielte also die ungarische oder die deutsche Nationalelf, waren die Stadien in den ’50-ern und ’60-ern, aber auch später voll! Es war nämlich der einzige Platz, an dem man ungestraft und aus voller Kehle „Hajrá magyarok!”, das heißt „Es leben die Ungarn!” oder „Deutschland vor, noch ein Tor!” rufen durfte. Keiner der beiden Anfeuerungsrufe bedeutete, daß andere Nationen nicht leben sollen, sie bedeuteten einfach, daß wir, Ungarn, oder Sie, Deutsche, zusammengehören, daß uns alle etwas verbindet, daß wir einander kennen und einander mögen. Letztendlich bedeuteten sie, daß die Haßlehren der totalitären Diktaturen und das aggressive Gebot der künstlichen Aufspaltung unserer Gesellschaften in sich einander antagonistisch gegenüberstehenden Klassen die historisch-kulturelle Identitätsgemeinschaft der Nationen nicht zerstören können, und dass wir gerade durch dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit unsere gesunde Offenheit gegenüber der Welt bewahren können. Was gesunde Offenheit ist, brachte der Kabarettist Christian Wallner auf den Punkt: „Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein.” (Zitat Ende) Gut, ich muss zugeben, die Ungarn waren für den Sieg der deutschen Nationalelf 1954 in Bern nicht allzu offen, aber wie wichtig er für das Zurückerlangen deutscher Identität und deutschen Selbstvertrauens war, zeigt Rainer Werner Fassbinders Film, »Die Ehe der Maria Braun«. Die letzte Sätze lauten: „Aus. Aus. Deutschland ist Weltmeister, schlägt Ungarn mit 3:2 in Bern.”
All das, was also 1989 und 1990 geschah, war zweifellos eine Rückkehr, denn auch wenn Westeuropa sein historisches Gedächtnis verloren hat – besser gesagt: den letzten Rest davon noch verlieren will, besitzen viele Länder Osteuropas eine lange und tiefe historische und demokratische Tradition, und in einigen Fällen, wie etwa in Ungarn und Deutschland, ist diese weitaus reicher und schwerwiegender als in einigen westlichen Staaten unseres Kontinents. Und ja, Freiheit ist bei unseren Völkern stets mit Souveränität verbunden, mit nationaler Unabhängigkeit. So besitzt bei den von totalitären Diktaturen gequälten mittel- und osteuropäischen Staaten nationale Identität einen absolut positiven Klang! Sie bedeutet Freiheit. Frei waren die Ungarn und auch die Deutschen immer dann, wenn sie ohne Präsenz fremder Besatzungsmächte nach ihren Sitten, ihrem Glauben und ihren eigenen Werten leben konnten. Bei beiden Ländern handelt es sich um Gesellschaften, die über ein jahrtausendealtes souveränes Identitätsbewusstsein verfügen, und über eine historisch-kulturelle Erfahrungsbasis, die sogar noch etwas älter ist.
Alles, was ich Ihnen bislang vortrug, ist für einen Ungarn, und sollte für einen deutschen Staatsbürger auch ohne Universitätsabschluss, eingebranntes Grundwissen sein, was jedoch keineswegs bedeutet, dass es sich um abgeschmackte, belang- und einflusslose Stereotypen handeln würde. Um über meine Heimat zu berichten: alle wesentlichen Namen, welche die Ungarn ihrer Zukunft weitergeben, sind in erster Linie Figuren der nationalen Freiheit. Haben Ungarn nämlich etwas Herausragendes, Eminentes aus ihrer Geschichte gelernt, so kann es mit einem einzigen Satz formuliert werden: Sind wir unabhängig und frei, bestimmen wir selbst über unser Schicksal, dann haben menschenfeindliche Ideologien und übernationale Machtkämpfe keine Chance, und die natürlichen Konflikte des Zusammenseins überschreiten nie die Grenze der unvollkommenen, doch jederzeit lebenswerten Normalität.
Die Tatsache, dass sich unsere Region der Europäischen Union angeschlossen hat, und sogar offenen Herzens anschließen wollte, zeigt also die Entschlossenheit, den guten Willen und die brüderliche Zuneigung dieser Länder. Denn hätten sie sich ausschließlich durch ihre historischen Erfahrungen leiten lassen, dann hätten sich der Beitritt und die mit ihm verbundene Aufgabe von Teilen unserer Souveränität keineswegs als logisch erwiesen. Es war nämlich keine auf Gleichberechtigung basierende Vereinigung Europas! Die Eliten der älteren und wirtschaftlich stärkeren Mitgliederstaaten hatten alle Bedingungen – einem Diktat gleich – im Voraus festgelegt, diese mussten strikt erfüllt werden, es gab kein Wenn und Aber, kein Verhandeln, keine Einigung – was geschah, war vielmehr einem merkwürdigen Anschluß ähnlich. Im Falle der mittel-europäischen Staaten sah es so aus: „Ihr dürft beitreten, erfüllt alle Forderungen, öffnet eure Märkte, macht den Weg für unsere Firmen frei und im Gegenzug lassen wir eure Bürger erst einmal auf den freien Fluss von Arbeitskräften warten, wir kaufen die besten Stücke eurer Wirtschaft auf, ruinieren einen Teil eurer traditionellen Produktion samt Landwirtschaft, um unseren Produkten einen sicheren Markt zu beschaffen, schaufeln das Geld in unsere Banken, und ja, ihr bekommt im Gegenzug Mittel aus dem Kohäsionsfonds, seid also keine Nettozahler. Punkt.” Doch seien wir ehrlich, auch diese Fördermittel wurden statt von einheimischen Firmen größtenteils von den rasch gegründeten Tochterfirmen westeuropäischer Unternehmen abgerufen. Diese bauten und bauen auch heute einen wesentlichen Teil unserer Infrastruktur auf, korrumpieren bis heute unsere Politik, wobei der Gewinn ohne zu zögern zurück in den Westen fließt. Business as usual.
Doch wieder sollen wir nüchtern und ehrlich sein: Zwar wurde all dies von den mittel- und osteuropäischen Bürgern relativ früh wahrgenommen, man hat damit leben können. Es gibt einen recht vulgären, aber deutlichen ungarischen Spruch: „Az erősebb kutya baszik”. Ich übertrage ihn etwas zurückhaltend: „Der stärkere Hund schafft es halt”. Es handelt sich um einen angeborenen geschichtsbedingten Pragmatismus: Everybody knows, that’s how it goes. Die Wiedervereinigung Deutschlands und die Integration der neuen Länder in die Bundesrepublik verliefen meinen Informationen nach ähnlich, mit dem Unterschied, dass unheimlich schnell unglaubliche Summen in den Neuaufbau der verkommenen Infrastruktur investiert worden sind. Doch die knapp 17 Millionen Staatsbürger der ehemaligen DDR wurden zu Bürgern zweiter Klasse, alle wichtigen Positionen in Politik, Bildung, Wirtschaft fielen rasch in die Hände der aus Westdeutschland eingetroffenen, eingeschifften Elite. Es war, wie man bei den zahlreichen Begegnungen erfahren musste, die dritte oder gar vierte Garnitur, es waren also nicht unbedingt die hellsten Köpfe. Um der Sache persönliches Gewicht zu schenken (ich stamme aus einer deutsch-ungarischen Ehe): Mein ostdeutscher Vater mußte über ein Jahr lang kämpfen, damit sein Mitte der ’70-er Jahre erworbener Universitätsabschluß als gültig anerkannt wird. Er war Ingenieur auf dem Fachgebiet Kybernetik (!) und hatte in Magdeburg studiert. So schlecht konnte seine Ausbildung nicht sein, denn die Sowjets haben ihn des Öfteren „eingeladen“, weil er in gut gehüteten Forschungslaboren für sie programmieren sollte. Er war kein Mitglied der kommunistischen Partei, nach 1990 durfte er erfahren, daß er im Falle eines Ausnahmezustandes samt Familie interniert worden wäre. Aber gut, er war halt ein Ossi.
Und so kommen wir zum wahren Konfliktpunkt, zum schmerzhaften Riss, der sich mitten durch Europa zieht und auch Deutschland zweiteilt. All das, was nach dem wundervollen Jahr 1989 geschah, was ich gerade zu schildern versuchte, hätten die Völker Mittel- und Osteuropas meiner Auffassung nach in Kauf genommen. Doch dass sich die westlichen Partner und ihre Eliten unserer Leidensgeschichte, unseren historischen Erfahrungen verschlossen haben, dass sie die Opfer der kommunistischen Diktaturen ignorierten und sogar kleinredeten, dass sie den Kommunismus selbst nur als fehlgeschlagenen, jedoch durchaus akzeptablen Versuch zur Weltverbesserung deuteten, und dabei ständig unsere demokratische Entschlossenheit in Frage stellten – das war und ist ein Verrat aller Werte, die unsere gemeinsame europäische Geschichte durch Jahrtausende langes Ringen, durch viel Blut und Schmerz hervorgebracht hat. Wird also in Trier, im Herzen Europas eine über fünf Meter hohe Karl Marx-Statue errichtet (die Skulptur ist ein Geschenk der kommunistischen Volksrepublik China!), lobt der Vorsitzende der Europäischen Kommission und ein deutscher Kardinal das Lebenswerk einer Person, die den präzise und konsequent durchgeführten Bauplan unserer Qualen erarbeitet hat, dann bleibt nicht viel Gemeinsames übrig. Das Argument, Marx ist 1888 verstorben und sei somit nicht verantwortlich für die Gräueltaten seiner geistigen Kinder ist makaber und eröffnet ein weites Feld: der absolute Wahrheitsanspruch, die die traditionelle Gemeinschaft der Bürger trennende Klassenkampflehre samt ihrer tödlichen Dichotomien, die Akzeptanz von Gewalt beim Weg zur Macht, sowie die gewaltsame Auflösung des Privateigentums und somit die Vernichtung der Selbstbestimmung des Individuums, und ja, auch die Wurzeln des modernen Antisemitismus’ – all das ist die pure Essenz von Karl Marx.
Sprechen wir also über die Zukunft Europas, über die Zukunft der Europäischen Union, ist man als Osteuropäer – und als Ungar mehr denn je – dazu gezwungen, mit diesen einleitenden Gedanken für ein wenig Platz für Empathie zu sorgen. Ohne den Begriff der kognitiven Dissonanz weitgehend zu erörtern – es handelt sich im Grunde genommen um ein psychologisches Phänomen der permanenten Realitätsleugnung – können Personen, welche diesem unterliegen nur durch eine langandauernde und komplexe Therapie behandelt werden. Betrachten Sie diese Einleitung als eine erste und kostenlose Sitzung für Betroffene.
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Meine Damen und Herren! Liebe Freunde!
Europa war in seiner langen Geschichte nie ein Schmelztiegel verschiedener Identitäten, sondern vielmehr ein Brutkasten von neuen. Erwartet also jemand, dass nach dem Muster der Vereinigten Staaten in einigen Jahrzehnten auf Grund der vielfachen digitalen, virtuellen und globalen Verbundenheit eine den alten Kontinent beherrschende paneuropäische Identität entstehen könnte, dann wird er meines Erachtens nach enttäuscht. Die uns international verbindenden Netzwerke sind zwar neben ihrem starken wirtschaftlichen Charakter weitgehend kultureller Natur, doch zugleich sind sie äußerst empfindsam, wie eine dünne Haut. Wird es ernst, und ernst wird es immer, so geschieht das, was Attila József, ein glänzender ungarischer Dichter einmal kristallklar formuliert hat: „Die Kultur fällt von mir, wie anderen das Kleid in der reinsten, lautersten Liebe”. (Zitat Ende) Was dann bleibt, ist stärker und tiefer! Es ist das Verlangen nach dem Innigsten, nach Sicherheit, nach Zusammengehörigkeit, nach Urvertrauen und nach dem jahrhundert‑, oder sogar jahrtausendealten Wissen der Vorfahren. Wird es ernst, dann hilft nur die tragende Kraft einer wahren Identität. Wer bin ich? Zu wem gehöre ich? Wer gehört zu mir? Wer versteht mich? Wem bin ich wichtig, wer ist bereit, für mich Opfer zu bringen und für wen bin ich bereit dasselbe zu tun? Ein Mensch ohne Identität ist ein äußerst gefährliches Phänomen, denn ihn verbindet nichts mit der Gemeinschaft, so ist er stets bereit, für seine momentanen und eigennützigen Ziele alles andere zu opfern, da ihm dieses Andere, samt dessen Vertretern nicht viel bedeuten. Berühren wir also das Thema der europäischen Zukunft, dann geht es vielmehr um den Verlust an Identität, um einen brutalen Kulturbruch und um das Erbe totalitärer Diktaturen und ihrer langen Nachwirkung.
Diese Nachwirkung betrifft paradoxer Weise Westeuropa weitaus härter! Der britische Historiker Tony Judt schrieb dazu: „1989 hatte eine viel zerstörerische Auswirkung auf Westeuropa, als auf den Osten. Den Osteuropäern war es nämlich bis dahin weitgehend klar, dass sie in einer Welt der Lügen lebten, und dass die offizielle Deutung ihrer Geschichte kaum im Einklang mit ihren persönlichen Erfahrungen stand… die Bürger des Westens hingegen wurden mit dem ganzen System von Illusionen und Verschweigen konfrontiert.” (Zitat Ende) In dieser Aussage verbirgt sich jedoch noch eine beklemmendere Deutungsdimension. Der Westen hat nämlich samt seiner politischen und intellektuellen Eliten zur Zeit der bipolaren Weltordnung nicht wenig von der kommunistischen Diktatur gelernt. Durch das zwangsmäßige Nebeneinanderleben der beiden Systeme kam es natürlicherweise zur Kooperation und ja, auch zur Kollaboration. Durch die lange Koexistenz sind die Methoden und Vorgehensweisen antidemokratischer Regime seitens der „Westler” erlernt worden. Rückblickend auf die sogenannte Wiedervereinigung Deutschlands, auf die Aufnahmeprozedur neuer EU-Staaten, sollte endlich eingestanden werden: gerade die durch die ’60-er Jahre geprägten neuen Eliten Westeuropas – die sogenannten 68-er, mit all ihren einst so stolzen Marxisten, Trotzkisten, Anarchisten und Maoisten – gehörten zu den eminentesten Schülern kommunistischer Diktaturen und verstanden beachtlich rasch, wie effizient politische Gegenspieler, Vertreter anderer Meinungen oder traditionelle Identitätsgemeinschaften ausgeschaltet werden können, wie man mit antidemokratischen Mitteln Vorteile von Macht flächendeckend ausbaut und ausübt.
Die kommunistische Diktatur sah in den historisch fundierten Identitäten den ärgsten Feind, sei es die nationale oder die christlich- oder jüdisch-religiöse Identität! Identität ist nämlich unter anderem mit traditionellen Werten, eingespielten Handlungsabläufen verbunden und verhindert so den schnellen, totalen Umbau einer Gesellschaft. Die Tatsache, dass unsere Identitätstraditionen durch langes und mühsames Sammeln von Erfahrungen und Wissen fast ausschließlich dem Erhalt des Lebens und dem Wohlergehen der Gemeinschaft dienten, wird weitgehend ignoriert oder verschwiegen. So wird zum Beispiel der Erste sowie der Zweite Weltkrieg dem blutrünstigen, dem die Welt aufteilenden und aufreibenden Nationalismus zugeschrieben, trotz der bereits offensichtlichen Erkenntnisse, dass es sich um ein imperiales Ringen international agierender Großmächte handelte, ein Ringen, das eine einzige Frage zu beantworten versuchte: wer herrscht über Europa? Es ist die gleiche Fragestellung wie bei den napoleonischen Kriegen, mit dem Unterschied, dass der Wiener Kongress und die Friedenschlüsse aus den Jahren 1814 und 1815 beinah 100 Jahre Bestand hatten. Das 20. Jahrhundert bescherte uns wiederum – anhand des unermesslichen und seitens der Politik nicht begründbaren Leidens zwischen 1914 und 1918 – ein neues und gefährliches Muster des politischen Alltags. Der durch intellektuelle und politische Eliten vertretene Weltverbesserungswahn, dessen Wurzeln bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen, sah nämlich in der Vergangenheit, in den historisch-kulturellen Traditionen europäischer Nationen eine verhasste Notbremse! So begannen alle bekannten Diktaturen totalitärer Natur mit dem zentral-organisierten Auflösungsversuch alter Identitäten. Der internationale Sozialismus, das heißt der geistig in Deutschland erarbeitete und dann aus Russland herauswachsende Kommunismus und der deutsche Nationalsozialismus verliefen alle nach einem äußerst ähnlichem, sich sehr nahestehendem Denk- und Handlungsmuster. Zu diesem gehörte neben dem absoluten Wahrheitsanspruch die kollektive Feinddefinition, die Vernichtung traditioneller Identitätsgemeinschaften, die Ausschaltung verhasster Gegenspieler (politische Opposition, Kirche, zivile Bewegungen, Organisationen etc.). Wenn dies nicht ausreichend funktionierte, dann kam es zum gewaltsamen Versuch, diese altbewährten Identitätsgruppen einfach umzugestalten, um sie so in das totalitäre Machtgewebe einbinden zu können. Kommunismus und für eine weitaus kürzere Zeit auch der Nationalsozialismus waren beide dermaßen „erfolgreich”, dass sie im Handumdrehen nicht nur die absolute Deutungshoheit über die Realität selbst erwerben konnten, sondern auch die Sprache samt Sprachgebrauch vereinnahmen. Große Hilfe leisteten dabei die intellektuellen Eliten Europas – ohne ihr effizientes Mitwirken hätten totalitäre Regime nie einen so durchschlagenden Erfolg erzielen können. Liest man unter anderem André Gide, G. B. Shaw, György Lukács, Karl Radek, Nikolai Bucharin, Jean Paul Sartre, Louis Aragon, H. G. Wells oder den deutschen Joseph Goebbels sowie den norwegischen Literaturnobelpreisträger Knut Hamsun, ist es regelrecht erdrückend, mit welcher Wucht sich die Welt der Gebildeten menschenfeindlichen Zielen zur Verfügung stellte und dabei andere, die wahre Natur dieser Systeme erkennende Autoren wie unter anderem George Orwell, Arthur Koestler, Albert Camus aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen versuchte.
Gestatten Sie mir, meinen Deutungsversuch bezüglich der Zukunft Europas nun auf den Punkt zu bringen. Wenn wir die Diskussionen unserer Zeit über die Zukunft unseres Kontinents verfolgen, den Sprachgebrauch aus dem Blickwinkel gesellschaftlicher, geopolitischer und ideologischer Debatten untersuchen sowie die Anprangerungs- und Ausgrenzungsversuche wie auch die Stigmatisierung politischer und intellektueller Gegenspieler auf dem europäischen Meinungsfeld betrachten, dann fällt es einem Osteuropäer mit dem Erfahrungsschatz zweier totalitärer Regime relativ leicht, parallele Erscheinungen zu unserer qualvollen Vergangenheit zu finden. Das 20. Jahrhundert verfolgt uns immer noch, es fließt sozusagen in unseren Adern, worüber man sich keineswegs wundern sollte. Der lange Schatten der Diktaturen wird nicht einfach nur unterschätzt, er wird gar nicht wahrgenommen. Da sich jedoch der freie Westen die unter die Haut schleichenden totalitären Denk- und Handlungsmuster teilweise angeeignet hat (wobei die sogenannte 68-er Generation eine immense Rolle spielt) und die Erfahrungen Osteuropas bis zum heutigen Tage weitgehend ignoriert, sind wir an einem Scheideweg angelangt. Im Gegensatz zu den Bürgern Mittel- und Osteuropas ist ein beachtlicher Teil der politischen und intellektuellen Elite des sogenannten Westens nämlich noch immer ein Gefangener des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich um eine mentale Gefangenschaft mit ernsthaften Folgen. Diese Elite glaubt – so wie die ehemaligen Kommunisten – nicht an die Demokratie und nicht an das Prinzip des Mehrheitswillens. Gelingt eine Abstimmung nicht nach ihrem Wunsch und Willen, so wird diese ignoriert (Frankreich, 2005) oder es wird nach einer neuen Abstimmung verlangt (Brexit), wobei die Wähler stigmatisiert und diffamiert werden. Auch an der Meinungsfreiheit und der Freiheit des Gewissens liegt dieser Elite nicht viel. Aus den Vertretern historisch fundierter Identitätsgemeinschaften, wie Familie, Nation und christliche Glaubensgemeinschaften hat diese Elite ein kollektives Feindbild erschaffen, wobei sie sich Tag für Tag vom jüdisch-christlichen Kulturkreis samt seines Wissensgutes distanziert, und bereits nervös wird, wenn sich jemand traditionell als Mann oder Frau bekennt. Und weil diese Elite – wiederum den ehemaligen Kommunisten gleich – an sich und an den legitimen Erhalt der eigenen Position nicht mehr glauben kann, sucht sie nach etwas Totalitärem, nach etwas Unanfechtbarem.
Das geistige Fundament der Kommunisten basierte laut Theorie auf der absurden Lehre absoluter Gleichheit auf Erden und der Abschaffung von Unterdrückung und Ausbeutung. Endziel war angeblich die Befreiung der Arbeiterklasse und die Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft und des Weltfriedens. Punkt. Was daraus wurde, wissen wir. Westeuropa samt seiner sich nach 1945 bildenden Führungsschichten – leider egal ob sie sich momentan als christlich- oder sozialdemokratisch, links, grün oder als liberal definieren – beruft sich im Jahre 2018 auf das sich bis an die Grenzen des Sonnensystems erstreckende Gemeinwohl, das im Gegensatz zur US-Verfassung weitaus gewichtiger und bestimmender ist, als die Freiheit des einzelnen Individuums. Ein großer Unterschied! Weitere Eckpfeiler des westlichen Wertekodexes sind die bis ins Absolute gesteigerten und auf diese Weise regionale Eigeninteressen am Erhalt von Stabilität und Wohlergehen einer demokratisch organisierten Gemeinschaft ignorierende Menschenrechte. Auch das untragbare Prinzip der offenen Gesellschaft samt obligatorischer Vielfalt wird akzeptiert und sogar verabsolutiert. Im Kommunismus wurde jeder verdammt, der die internationale Arbeiterbewegung und die unzerbrechliche Bruderschaft unter kommunistischen Staaten und ihren Parteien nicht als Richtschnur für seinen düsteren Alltag betrachtete. Nun haben wir folgende Situation: Folgt man dem psychologischem Urmuster und liebt seine Mutter mehr als die ganze Menschheit, die verabsolutierten Menschenrechte, die verbindliche Vielfalt und das absolute Gemeinwohl, dann gehört man zur alten und verhassten Welt des Blutvergießens. Und so sind wir schon bei der Geschichte angekommen, die als etwas Fremdes, als etwas Gefährliches wahrgenommen wird. Der weitverbreitete Begriff der Stunde Null, also des Jahres 1945 hat schon von Weitem einen bitteren Nebengeschmack, denn nach diktatorischen Richtlinien wird der Beginn aller als wesentlich eingestuften Ereignisse immer auf ein konkretes Datum reduziert: bei den Kommunisten war es das Jahr 1917, jetzt soll es das Jahr 1945 sein. Die an den europäischen Universitäten so populären Lehren eines Jürgen Habermas’ sind in meinen Augen deshalb die eindeutige Essenz neutotalitären Denkens. Ist nämlich 1945 die Stunde Null und soll unser gesellschaftliches Zusammenleben durch eine „postnationale Identität” auf einer „postnationalen Ebene” ersetzt werden, dann wächst uns als Osteuropäer ein schlechtes und wohlbekanntes Gefühl im Magen. Frank Füredi, der ungarisch-britische Soziologe war meines Wissens nach einer der ersten, der diese Problematik in seinem Buch „Ungarn im Fadenkreuz” (englischer Titel: Populism and the European Culture Wars: The Conflict of Values between Hungary and the EU, 2017) tiefgehend untersucht hatte. Die Habermas-These, wonach unsere historischen – seiner Deutung nach „nicht mehr hinterfragbaren” – Traditionen samt der ganzen geschichtlichen Kontinuität direkt nach Auschwitz führen und daher untragbar seien, ist eine brutale Fehldeutung mit schweren Folgen. Frank Füredi zitierend „hatte nämlich der Holocaust und die mörderische Natur des gesamten Nazi-Regimes nichts mit unserer historischen Tradition zu tun, ganz im Gegenteil. Wie Hannah Arendt es in ihrer wichtigen Studie »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« so einleuchtend beschrieb, bedeutete gerade der Totalitarismus einen Bruch mit der historischen, traditionellen Kontinuität des Westens”. Füredis Schlussfolgerung lautet: „Wenn etwas, so ist es gerade die Tragödie des Holocaust’, die nach einer Wiederherstellung der durch den Totalitarismus zerstörten Tradition in der europäischen Geschichte fordert.” (Zitat Ende)
Verzeihen Sie mir, dass ich hin und her springe, ohne die Absicht, Ihnen eine strenge Argumentationskette mit Postulaten, Thesen, trockenen, jedoch nüchternen Schlussfolgerungen darzubieten. Ich bin mir sicher, viele von Ihnen haben längst begriffen wovon ich zu reden versuche. Auch ich vertrete nämlich die Meinung des schüchternen Kolumbianers: es sei „unnütz, jemanden einen Gedanken erklären zu wollen, dem eine Anspielung nicht genügt”. (Nicolás Gómez Dávila) Unser Kontinent wird nicht weiterkommen, solange er seine Vergangenheit samt Erfolgen und Misserfolgen, samt Tugenden und Sünden nicht akzeptiert. Solange er seinen einzigartigen, aus dem antiken und jüdisch-christlichen Kulturkreis herauswachsenden Charakter samt dessen Werten nicht wahrnehmen will, bleiben wir stecken. Solange wir uns den Lehren der Geschichte verschließen, solange wir in primitiven Dichotomien denken, solange wir die Werte unserer alten und jederzeit zur Wiedergeburt, zur Renaissance fähigen europäischen Kultur stur ablehnen, Utopien pflanzen, aus denen durch unsere Unvollkommenheit nur Dystopien wachsen können, solange gibt es kaum Hoffnung. Zuerst müssen Grundsätze geklärt werden. Es ist nicht der erste Kulturkampf auf europäischem Boden. Auch dieser wird nicht einfach sein, denn wir stehen jetzt dem Erbe des 20. Jahrhunderts gegenüber. Es ist das unheimliche Erbe totalitärer Diktaturen, welches bis heute den Geist unserer Gesellschaften und Eliten vergiftet. Um diesen und seine Befürworter bezwingen zu können, sollten wir den ersten Schritt wagen: wir müssen uns selbst wieder mögen, ja sogar lieben lernen. Der zweite Schritt: wir müssen erwachsen werden, erwachsen werden wollen. Erwachsen zu sein bedeutet vieles, in erster Line aber die Fähigkeit, Verantwortung übernehmen zu können und Entscheidungen zu treffen. Als Alexis de Tocqeville sich gegen 1840 Gedanken über die Merkmale eines zukünftigen Despotismus machte, beschrieb er mit unglaublicher Präzision die Umstände unserer Zeit. Zitat: „…ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller anderen fremd gegenüber: seine Kinder und seine persönlichen Freunde verkörpern für ihn das ganze Menschengeschlecht; was die übrigen Mitbürger angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, und er fühlt sie nicht; er ist nur in sich und für sich allein vorhanden, und bleibt ihm noch eine Familie, so kann man zumindest sagen, dass er kein Vaterland mehr hat.
Über diesen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins Einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild. Sie wäre der väterlichen Gewalt gleich, wenn sie wie diese das Ziel verfolgte, die Menschen auf das reife Alter vorzubereiten; statt dessen aber sucht sie bloß, sie unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten…” (Über die Demokratie in Amerika, 2. Band, 1841, übers. von Hans Zbinden, Zürich, 1987, S: 141–150) (Zitat Ende)
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Liebe Freunde!
Um in der Zukunft Europas ein neues und erfolgreiches Kapitel eröffnen zu können, und das sage ich als Ungar, brauchen wir die Kraft, das Wissen und die Erfahrungen der ganzen deutschen Nation. Wer Ihre historischen Traditionen auf die Gräueltaten des Dritten Reiches reduziert, wer in jedem Deutschen einen direkten Nachfahren der Nationalsozialisten sieht, benutzt die Instrumente totalitärer Diktaturen samt kollektivem Feindbild und genetisch vererbbaren Sünden. Gerade der antikommunistische Widerstand der ehemaligen DDR-Bürger, ihr Wissen und ihr Erfahrungsschatz zweier totalitärer Regime macht Sie zu etwas Besonderem. Bauen Sie darauf!
Es gibt so Vieles, was uns einzigartig und wertvoll macht. Auch ohne ein gläubiger Christ zu sein, spürt jeder Europäer, wie stark und liebevoll uns das Christentum geprägt hat. Auch die Emanzipationsprozesse Europas sind einzigartig und mit Blick auf ihre Erfolgsgeschichte schier unglaublich. Der Kommunismus konnte den Arbeiter weder zufrieden, geschweige denn glücklich machen. Und heute? Die Mehrzahl der europäischen Arbeitnehmer erlebt einen Wohlstand und eine soziale Sicherheit, die es noch nie zuvor gab. Im 19. Jahrhundert durften Frauen nur begrenzt erben, sie hatten kein Wahlrecht, wurden in vielen Ländern unseres Kontinentes noch als Eigentum betrachtet, ein Universitätsabschluss kam für sie nicht in Frage! Doch seit 1971 haben Frauen auch in der Schweiz ein Wahlrecht, in Frankreich seit 1949. Na gut, in Ungarn seit 1919 und in Deutschland seit 1918.
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Meine Damen und Herren! Liebe Freunde!
Wie es mit der Geschichte Europas weitergeht, hängt in erster Linie von den Fragen ab, welche wir uns stellen, denn eine falsche Fragestellung ist der sicherste Weg zu falschen Antworten. Aus osteuropäischer Sicht: Fragestellungen totalitärer Natur führen zu totalitären Antworten. Um die sich als „liberal” bezeichnende, in Wirklichkeit jedoch totalitäre Ideologie und ihre allgegenwärtige Deutungshoheit überwinden zu können, muss zuerst die Sprache zurückgewonnen werden. Diktaturen aller Art fangen nämlich mit Verboten und der Vereinnahmung der Sprache an. Freiheit soll wieder das bedeuten, was sie ist. Nach all den Qualen die uns übernational agierende Imperien gebracht haben, soll die Nation, dieser erprobte, anthropomorphe und erfassbare Rahmen für Demokratie und Meinungsfreiheit, für die Freiheit des Gewissens, für das Recht auf Selbstbestimmung kein Schimpfwort mehr sein. Der sogenannte liberale Kanon hat den Begriff Freiheit nämlich ausgehöhlt. Der ansonsten intellektuell attraktive Satz – „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt“, hat seine wahre Bedeutung verloren. Denn wer wird darüber entscheiden, ab wann meine Rechte verletzt werden? Da niemand damit beauftragt ist, dies zu beurteilen, entscheidet unseren Erfahrungen nach in dieser Frage immer das Leben. Im Klartext: es ist der Stärkere, der diese Entscheidung trifft, wobei der Schwächere permanent auf der Streckte bleibt. Ich empfehle ihnen einen anderen Orientierungspunkt zur Definition von Freiheit. Gut, er stammt aus unserem christlichen Erbe, aber er ist weitaus tragfähiger. “Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.” (Tobias 4:16).
Es bleiben Fragen, die nach einer Antwort verlangen:
- Was ist Deutschlands Rolle in der Europäischen Union?
- Gehört Deutschland zum Westen oder ist es ein Land des Ostens? Oder gehört es zur gleichen Zeit dem Westen und dem Osten zu?
- Welche Bereiche sind in der Europäischen Union dazu geeignet, sie gemeinsam zu verwalten und welche nicht?
- Wie können legitime Souveränitäts-Bewegungen innerhalb europäischer Staaten gehandhabt werden?
- Was waren die traditionellen Stärken des europäischen Zusammenlebens verschiedener Nationen, die unseren Kontinent jahrhundertelang so erfolgreich machten und auf die wir auch im 21. Jahrhundert bauen sollten?
- Wie steht die Europäische Union den neuen Machtzentren der Welt gegenüber? Was sind unsere eminentesten Interessen als europäische Gemeinschaft?
- Hat der Islam in seiner unsäkularisierten Form einen Platz in Europa?
- Wie können wir einen Integrationsprozess anderer Kulturen innerhalb unserer Länder erwarten, wenn wir unsere eigene Kultur nicht als wertvoll betrachten?
- Wie können wir unseren Kindern ein Identitätsgefühl geben, dass ihnen Selbstvertrauen und Stolz schenkt?
Das sind aber schon Themen eines anderen Vortrages. Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
Das blaue Quadrat
Marx von Ungarn aus lesen. Danke. So knapp und doch präzise kann formuliert werden, was in der nebenan laufenden Debatte über den ollen Kalle und seinen Krampf nicht auf den Punkt kommt.