Ich bin mit Autoaufklebern großgeworden. Früher hatte fast jeder welche: gegen Atomkraft, Herz für Kinder, Freizeitpark XY oder sowas. Unser Bäcker im Ort fuhr mit „Alt, aber bezahlt“ herum, und ich dachte, er meint sein Brot – wobei ich das als Kind für einen irgendwie coolen Standpunkt hielt.
Hier im „Osten“ haben sie noch manchmal solche Aufkleber. Es sind (nach dem üblichen Koordinatensystem) niemals linke Botschaften, erfreulich sind sie dennoch selten. „Todesstrafe für Kinderschänder“ ist so ein Klassiker, daneben gibt es zahlreiche, die sogar ich als gewissermaßen libertärer Geist für reichlich sexistisch halte.
Heute hing ich an einem PKW dran, auf dessen Heckscheibe ganz groß stand: “Rasseliste“. Wow. Das nenne ich Traute. Krasser Typ. Klein darunter (ich mußte s e h r nah ranfahren, Bundesstraße, Tempo 120, die Neugier siegte): „Erst kennenlernen, dann urteilen.“ Doppelt-Wow!
Dann aber wau-wau, denn ein Hundekopf war abgebildet. Es ging wohl um sogenannte Kampfhunde. An welchen Fragen sich die Leute aufreiben!
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28. September – „Dein Schönstes heute?“, das ist unsere familiäre Abendfrage nach dem Gebet. Kubitschek: „Den Ferdinand wiederzusehen.“ Den Ferdinand hat er heute abgeholt, nämlich vom Metzger. Das war schön!
Die große Frage war : Kommt er als Fleisch oder als Wurst zurück? Letzteres wäre dann der Fall gewesen, wenn Ferdinand bereits zu bockig gewesen wäre. Dann wäre er unter Zumengung von Schwein verwurstet worden.
Es ist jedes Jahr das Gleiche, wenn unsere Böcke pubertieren. Die Schwestern und Cousinen bespringen sie bereits als kleine Zicklein. Irgendwann beginnen sie, streng zu riechen. Dann sind sie zunächst immer noch niedlich und verschmust. Irgendwann überwiegt die Aggressivität.
Ferdinand war in den vergangenen zwei Wochen einfach nur noch ätzend. Jeder Riegel wurde mit testosteronbedingter Gewalt aufgehebelt, der Umgang war unmöglich. Ihn ins Freie zu führen, zum Weiden, war für uns Frauen ein Hasadeursstück – wie er seine Hörner einsetzen konnte! Vor allem: seine arme Schwester!
Er heute kam als Fleisch zurück. Heute gab‘s „Nierle, Leberle“. Und Herzle. Wie schön, wenn ein Dialekt für alles Verniedlichungsformeln parat hält.
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29. September – Soo gern tät ich einen Blog führen unter der Überschrift „Was man als Kind höchst umstrittener Eltern so erlebt“. Das wäre prall und lebensnah! Täglich Neues! Das Problem ist, daß ich selbst halt kein Kind höchst umstrittener Eltern bin und hier gewisse Stories unserer Zöglinge schon „am Rande des Erträglichen“ (Zitat Tochter 3) zu Markte trage.
Mindestens einmal pro Woche im Schnitt erhält eines unserer Kinder eine Mail, einen Brief usw. in dem Grundton:
Liebe X, vor ein paar Tagen habe ich erfahren, wer Deine Eltern wirklich sind. Du wirst verstehen, daß das ein Schock für mich war. Ich möchte gern reden. Es nimmt mich so mit. Ich habe so viele Fragen. Ich hab mich bei Euch zu Hause wohl gefühlt, aber ich wußte nichts vom Hintergrund. Natürlich, liebe X, weiß ich, daß man für seine Eltern nichts kann. Ich will Dich nicht verletzen. Ohne Dir zu nahe treten zu wollen, hätte ich ein paar Fragen…
Legendär sind die Begegnungen, von denen die eine Tochter mittlerweile ein Dutzend erlebt hat:
Es ist komisch. Ich kann es nicht beschreiben. Aber Du siehst überhaupt nicht aus wie jemand, der Philosophie studiert. Du siehst überhaupt ganz anders aus als alle Mädchen, die ich kenne. Aber Du studierst Philosophie! Blöde Frage: Wollen wir mal Schach spielen miteinander und über Politik diskutieren, wenn es sich ergibt?“ (Das sind keine ordinären Anmachvariationen. Die Tochter ist mittlerweile interkulturelle Korrespondentin. Mit ihren Japanern, Iranern, Israelis und aufgeweckten Deutschen – alles Campusbekanntschaften – geht es seit langem hart zur Sache, politisch. Im Schach gewinnt sie übrigens immer.)
Jetzt hat unser Küken als Drittes sein Studium aufgenommen. Jeden Tag neue, aufregende Meldungen aus dem Osten! Heute wurde sie auf der Straße angesprochen, von einem „Älteren“ (50 plus), der ihr hochgebildet („nein, Mama, definitiv kein notgeiler Typ!“) erschien. Sie möge verzeihen, daß er so neugierig sei, nach ihrem mitgeführten Instrument zu fragen. Ihn interessiere, ob es da – die Frage fiel nach längerem Gespräch, ich finde das sehr „typisch Sachsen“ – ein Elternhaus gäbe, das eine musische Erziehung vorgeprägt habe? Was das für ein Elternhaus sei?
Tochter, munter: „Ja, also mein Vater geigt sehr gern. Wir sind von Kleinkindalter an zu klassischen Konzerten mitgenommen worden. Meinen Eltern war es wichtig, daß wir Kinder alle ein Instrument lernen…“ – „Also kommst Du aus einer Musikerfamilie?“ – Tochter: „Nö, nicht grad. Mein Papa hat einen Verlag, eher politisch. Antaios, Götz Kubitschek.“ – „Moment mal. Kubitschek? Kommt mir bekannt vor. AfD oder so? Muß ich mich unbedingt informieren.“
Seither besteht reger Mailkontakt. Wie immer: „Ich hätte da aber da doch einige Fragen.“ Wie immer: Kids are allright.
Lotta Vorbeck
"Tochter, munter: „Ja, also mein Vater geigt sehr gern. Wir sind von Kleinkindalter an zu klassischen Konzerten mitgenommen worden. Meinen Eltern war es wichtig, daß wir Kinder alle ein Instrument lernen…“ – „Also kommst Du aus einer Musikerfamilie?“ – Tochter: „Nö, nicht grad. Mein Papa hat einen Verlag, eher politisch. Antaios, Götz Kubitschek.“ - „Moment mal. Kubitschek? Kommt mir bekannt vor. AfD oder so? Muß ich mich unbedingt informieren.“"
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Ja, da tut der Zufallsbekannte (50 plus) wahrlich gut daran, sich bezüglich des vom Herrn Papa der Tochter 3 geführten Verlages zu informieren ...