Wie ein erratischer Block ragt sein Werk aus der gehegten Landschaft der deutschen Geschichtswissenschaft heraus. An seinen Namen knüpft sich eine einzigartige philosophische Durchdringung der Epoche des Faschismus, aber auch ein als Historikerstreit verbrämter Kulturkampf, dessen Ausgang den Kurs der hiesigen Geschichtspolitik bis heute bestimmt. Kaum einem anderen deutschen Zeithistoriker wurde so große internationale Anerkennung zuteil, aber keinem sollte eine gelenkte Öffentlichkeit auch so massive Ablehnung entgegenbringen. Noch immer verstellt der längst selbst historische Historikerstreit die Sicht auf ein reiches und vielschichtiges Lebenswerk, welches nach dem Weltbürgerkrieg der Ideologien schließlich auch die Weltgeschichte im ganzen und die historische Existenz des Menschen als solche ins Visier nahm.
Ernst Nolte war ein Ausnahme-Historiker, der sich im Unterschied zu vielen seiner arbeitsteilig spezialisierten Fachkollegen stets den Blick für das Ganze der Geschichte bewahrte und in zeitlich wie räumlich weiten Horizonten dachte. Nicht von ungefähr erschienen Übersetzungen sei- ner wichtigsten Werke in Italien, Frankreich und Spanien; in Ungarn, Jugoslawien und der Tschechoslowakei; in Rumänien, Rußland und sogar in Korea. Und im Iran hat der dissidente Historiker Mehdi Tadayoni es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Noltes Gesamtwerk ins Persische zu übersetzen. In Anbetracht seines Ruhmes im Ausland brauchte sich Nolte von dem Zerrbild, das eine typisch deutsche Denunziationskultur von ihm zeichnete, in seinem Selbstverständnis nicht beirren zu lassen: Er war ein skeptischer Liberaler alter Schule, und unsere liberale, offene Gesellschaft leistete ihren Offenbarungseid, indem sie ihn aus dem öffentlichen Diskurs ausschloß.
Fraglos wirkte Nolte in seinem gediegenen Auftreten wie in seinem immer auch auf Grundsätzliches abhebenden Denkstil auf eine unzeitgemäße Weise konservativ. Doch stand dieser geistige Konservatismus nicht von vornherein für eine politische Position; vielmehr kam ein geradezu apolitisches Pathos der Distanz darin zum Ausdruck, welches Nolte als eine unabdingbare Voraussetzung der Freiheit der Wissenschaft betrachtet und stets gegen ideologische Borniertheiten und politische Restriktionen aller Art verteidigt hat.
Dabei verdankte sich die metapolitische Weitsicht, die Nolte allenthalben an den Tag legte, nicht zuletzt seiner philosophischen Herkunft: Immerhin wird die Spannbreite seines Geschichtsdenkens von den Ecksteinen Marx und Nietzsche markiert. Nolte selbst sagte einmal, es gebe in seinem Gesamtwerk sowohl »ausgesprochen linke« als auch »ausgesprochen rechte Thesen«, und damit stehe er gleichsam »zwischen den Fronten«, wo es »nie besonders behaglich« sei. Dieser Standort liegt allerdings weit entfernt von jener schillernden Zone, in der die Ex- treme sich berühren; und wirklich gab sich Nolte in all seinen Werken als Verteidiger des von den extremen Positionen notorisch verachteten »liberalen Systems« zu erkennen, welches für ihn das empfindliche Herzstück des alten Europa darstellte. In seinem europäischen Traditionsbewußtsein bewährte sich Nolte als großzügiger Vertreter einer längst dahingeschwundenen geistigen Liberalität, und dies mußte unweigerlich die Ressentiments kleinmütiger Geister und enger Herzen wecken.
Der Preis, den Nolte für solche geistige Freiheit zu zahlen hatte, war seine zunehmende Einsamkeit im konformistischen Wissenschaftsbetrieb. Diese verdankte sich indessen nicht nur dem verstockten Unverständnis eines Großteils der etablierten Historikerzunft, sondern durchaus auch Noltes unnachgiebigem und scheinbar grenzenlosem Willen zum Verstehen selbst.
Es waren gerade die tragischen Ausweglosigkeiten und heillosen Abgründe der »historischen Existenz« des Menschen, die in Nolte den Wunsch nach versöhnendem Verständnis hervorriefen, um ihm dessen Erfüllung doch immer wieder zu versagen. Und freilich fühlte sich Nolte besonders zu den Unglücksperioden und Ausnahmezuständen der deutschen Geschichte hingezogen, über die er sich nie ein selbstgerechtes Urteil gestattete: Weder die Weltgeschichte noch die Nürnberger Prozesse waren für ihn das Weltgericht, und den Beruf des Historikers unterschied er klar von dem eines Großinquisitors. Letztlich lag in jener hermeneutischen Empathie, die er keineswegs nur deutschen Übeltätern entgegenbrachte und die doch gern als alles verzeihende Apologie mißverstanden wurde, eine heimliche Trauer und Melancholie über die Conditio humana verborgen.
Noch die mörderische Konstellation von Nationalsozialismus, Bolschewismus und Judentum im »europäischen Bürgerkrieg« wußte er im Lichte anthropologischer Urphänomene zu deuten: der archaischen Ambivalenz von Faszination und Entsetzen, der schillernden Affinität von Erhabenem und Schrecklichem, der nothaften Konversion von passiver Vernichtungsangst in reaktiven Vernichtungswillen. So war selbst, was in der faschistischen Epoche mit aller Macht wieder durchschlug, für Nolte nichts, was nicht schon in den frühesten Krisen und Katastrophen der menschlichen Geschichte zutage getreten wäre. Sogar in historischen Singularitäten sah er mancherlei Allgemeinhistorisches aufblitzen, und noch die aktuellsten Schrecknisse fanden im ältesten Schauder vor dem Ungeheuren des Menschen einen fernen Widerhall. Ein Geschichtsdenken aber, dem sich die Weltgeschichte von Anbeginn als ein Theater der Grausamkeit darstellte, konnte nicht den Ausdruck einer schönen Seele tragen; es mußte eine zuweilen kalt anmutende Reserviertheit an den Tag legen, welche die eigenen Wunden im Verborgenen hielt.
Am 11. Januar 1923 erblickte Ernst Nolte in Witten an der Ruhr das Licht einer Welt, die in Aufruhr war. Seine Kindheitsjahre fielen mit denen der nationalsozialistischen Bewegung weitgehend zusammen. In der kleinen Industriestadt am südlichen Rande des Ruhrgebiets war aber auch die kommunistische Partei sehr stark, und schon als Kind verfolgte Nolte aufmerksam die Aufmärsche und Auseinandersetzungen der einander feindlich gesinnten Parteiarmeen. Die frühe Erfahrung, in einem Zeitalter großer ideologischer Konflikte zu leben, sollte sein späteres Geschichtsverständnis ebenso nachhaltig prägen wie die linkskatholisch-pazifistische Einstellung seines Vaters Heinrich Nolte, der als Rektor einer Volksschule in Hattingen wirkte. Bereits als Schüler empfand Nolte seine Fremdheit einer Bewegung gegenüber, die von jungen Männern verlangte, hart wie Kruppstahl, flink wie Wiesel und zäh wie Leder zu werden und in Zeltlager und Kasernenhof ihr Ideal zu erblicken. Fremd mußte umgekehrt aber auch seinen Altersgenossen der junge Mann erscheinen, der sich durch eifriges Studium zu dem ausbildete, was der Volksmund eine Intelligenzbestie zu nennen pflegte.
In den Kriegsjahren erlebte Nolte das unverdiente Privileg, studieren zu dürfen, während seine Schulkameraden an allen Fronten kämpften und sein jüngerer Bruder im Alter von achtzehn Jahren in der Nähe von Sedan fiel, als eine schwere Belastung; und nachmals glaubte er, diese Last nur durch die selbstauferlegte Verpflichtung zur geistigen Aufarbeitung dieser katastrophalen Geschehnisse abtragen zu können. So suchte Nolte, der in Münster Germanistik und Anglistik und in Freiburg Philosophie und Griechisch studierte, aus der Not eines kriegsuntauglichen Intellektuellen die Tugend eines um eine satisfaktionsfähige Deutung der deutschen Katastrophe ringenden Historikers zu machen.
Nicht zuletzt den strengen Lehrjahren bei Martin Heidegger vor und nach Kriegsende war es geschuldet, daß aus dem Gymnasiallehrer und Studienrat Nolte schließlich ein philosophierender Geschichtsdenker wurde, dessen Leben und Schaffen im übrigen von der studierten Linguistin und als Übersetzerin und Dolmetscherin tätigen Annedore Mortier, die er 1956 zur Frau nahm und die ihm zwei Kinder schenkte, bis zuletzt anteilnehmend begleitet wurde.
1963 erschien das bahnbrechende frühe Hauptwerk Der Faschismus in seiner Epoche, das Nolte sogleich berühmt machte und ihm einen Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Marburg verschaffte, und auf dem die in Zehnjahresabständen folgenden großen Werke Deutschland und der kalte Krieg und Marxismus und industrielle Revolution aufbauen konnten. In dieser »historischen Trilogie«, die seine erste Schaffensperiode repräsentiert, suchte Nolte »die Geschichte des Praktischwerdens und des Scheiterns der großen modernen Ideologien« umfassend darzustellen und zugleich von innen heraus zu begreifen. 1973 folgte Nolte einem Ruf der Freien Universität Berlin, an deren Friedrich-Meinecke-Institut er bis zu seiner Emeritierung Neuere Geschichte lehrte.
Den Beginn der zweiten Schaffensperiode markiert das 1987 erschienene Werk Der europäische Bürgerkrieg 1917– 1945, in dem Nolte seine bisherige ideologiehistorische Perspektive auf den Faschismus als radikalem Antimarxismus an der real- historischen Feindschaft zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus konkretisierte. Daß Nolte ein pointiertes Resümee dieses umfangreichen Buches vorab in der FAZ publizierte, hatte indessen fatale Fol- gen, denn der Artikel »Vergangenheit, die nicht vergehen will« bot Jürgen Habermas einen willkommenen Anlaß, um jenen zu Unrecht so ge- nannten Historikerstreit zu entfesseln, in dem auch Andreas Hillgruber, Joachim Fest und Michael Stürmer deutschnationaler Geschichtsapologetik bezichtigt wurden und der schließlich mit einem klaren geschichtspolitischen Sieg der Partei des Soziologen und seiner Gefolgsleute endete.
Unversehens war aus einem berühmten ein berüchtigter Historiker geworden, und die unerschrockene Sachlichkeit, mit der Nolte 1993 die wichtigsten Streitpunkte in den neueren Kontroversen um den Nationalsozialismus diskutierte und 2002 in Der kausale Nexus weiter differenzierte, festigte nur seinen negativen Ruhm als historischer Revisionist, der die Singularität des Holocausts »geleugnet« habe — gerade so, als wäre diese ein religiöses Dogma und keine wissenschaftlich begründungsbedürftige These.
In Wahrheit war Nolte 1963 der erste deutsche Historiker gewesen, der mit aller Emphase die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung nicht nur behauptet, sondern auch theoretisch entfaltet hatte – und an dieser Auffassung hat er bis zum Lebensende festgehalten. Erklärtermaßen verlieh Nolte dem Judentum und »den Millionen seiner Opfer die höchste aller Ehren«, indem er herausstellte, »daß sie, die als Bazillen vertilgt wurden, nicht als unglückliche Objekte eines widerwärtigen Verbrechens starben, sondern als Stellvertreter bei dem verzweifeltsten Angriff, der je gegen das menschliche Wesen und die Transzendenz in ihm geführt wurde«. – Seit 1986 jedoch ist Nolte unter allen Historikern, welche die Singularitätsthese verfechten, der einzige, dem noch in aktuellen Nachrufen deren Bestreitung vorgeworfen wird.
Gegen Legionen legasthenischer Gesinnungspublizisten stand Armin Mohler freilich auf verlorenem Posten mit seiner luziden Klarstellung, das Ergebnis von Noltes anstößigem Vergleich der nationalsozialistischen mit den bolschewistischen Massenverbrechen sei »gerade nicht die prophezeite Relativierung der deutschen Verbrechen, sondern die radikalste uns bekannte Zementierung ihrer ›Singularität‹«.
Die nahezu konsensuelle Falschbehauptung der Singularitätsleugnung sollte ersichtlich den intellektuellen Schock abwehren, daß Nolte einen Blick über den deutschen Tellerrand hinaus gewagt und die zig millionenfachen Opfer von Lenin bis Mao – die von so manchen der vormals durch die Institutionen marschierten und unterdessen längst saturierten Achtundsechziger insgeheim noch immer als Revolutionsikonen verehrt werden – in seine Betrachtungen mit einbezogen hatte. Und obschon auch linke, zumal marxistisch geschulte Zeitgenossen ganz selbstverständlich einen allgemeinen »kausalen Nexus« zwischen kommunistischen Revolutionen und faschistischen Konterrevolutionen postulierten, löste Nolte doch eine verstörende Wiederkehr des von ihnen Verdrängten aus, indem er sie folgerichtig auch mit dem besonderen Nexus zwischen dem »Gulag« und »Auschwitz« konfrontierte.
Hierbei berief er sich unter anderem auf den polnischen Historiker Andrzej J. Kaminski, der selbst in nationalsozialistischen Konzentrationslagern inhaftiert gewesen war und in späteren Forschungen zu belegen wußte, daß diese »den sowjetischen nachgebildet« waren. Gleichwohl sollte Nolte aus seinem empirisch belastbaren Revisionismus ein vernichtender Vorwurf erwachsen, denn einstweilen hatte sich in der bundesrepublikanischen Leitkultur eine ideologische Orthodoxie etabliert, für die dieses Grundprinzip kritischer, ergebnisoffener Wissenschaft nurmehr eine bekämpfenswerte politische Häresie darstellte.
Vor diesem Hintergrund wird man Nolte den letzten Liberalen der deutschen Zeitgeschichtsschreibung nennen dürfen, denn bei aller Beharrlichkeit in der Sache ist es ihm nie um seine Person oder die machtbewußte Durchsetzung eigener Positionen gegangen, sondern immer um das Ethos der Wissenschaft als solcher, innerhalb deren Grenzen er auch gegnerische Auffassungen zu schätzen und zu verarbeiten wußte, nicht ohne sogar auf unverhohlen diffamierende Angriffe mit bewundernswerter Sachlichkeit und Milde zu reagieren. Als der Verfasser dieser Zeilen die Späten Reflexionen von 2011 in einer Rezension scharf kritisierte, durfte er selbst erfahren, daß Nolte, anstatt sich getroffen zurückzuziehen, die strittigen Punkte mit ihm brieflich weiterdiskutierte.
Lange Jahre hatte Nolte allen Grund, sich in Deutschland auf verlorenem Posten zu wähnen, und so wurde ihm Italien, wo er stets großes Ansehen genoß, zur zweiten Heimat. Immerhin mobilisierte er noch im Alter alle ihm zu Gebote stehenden Reserven, um seine verdiente Stellung als Großdenker der europäischen Ideologiengeschichte zu halten. In seinem 2009 erschienenen Buch über den Islamismus suchte er diesen als die nach Bolschewismus und Faschismus Dritte Widerstandsbewegung gegen die liberale Moderne ins Bewußtsein zu rufen, zumal das in einer libertären Postmoderne versandende Europa mit seiner schwächelnden Appeasementpolitik keinerlei Selbstbehauptungswillen mehr erkennen läßt.
Es sieht demnach ganz danach aus, als würde Nolte seine einstmaligen Gegner geistig überleben, denn die von ihnen lange genug verdrängten, von ihm selbst aber schon beizeiten aufgeworfenen Fragen stellen sich heute allenthalben mit einiger Dringlichkeit. Auch sind nicht wenigen aus der dritten Generation nach dem Dritten Reich die Frageverbote der Ewiggestrigen des anderen Lagers kaum mehr recht verständlich, und so können sie heute unbefangen von einem lernen, der von weiter herkommt. Nolte selbst jedenfalls glaubte, seine Zeit werde noch kommen, und auch daran mag es liegen, daß der Verfasser ihn bei einem letzten Besuch im vergangenen Sommer so heiter und gelassen erlebt hat wie noch nie zuvor. Am 18. August dieses Jahres verstarb dieser singuläre Denker nach kurzer Krankheit.