Polarisierung

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

»Das Land scheint bis an den Rand  der  Dys­funk­tio­na­li­tät  pola­ri­siert und umkämpft zu sein«, schrieb der ame­ri­ka­ni­sche Psy­cho­lo­ge Jona­than Haidt im Jahr 2012 über die USA. »Immer weni­ger Men­schen sehen sich als mode­rat oder in der Mit­te, immer mehr als ent­we­der kon­ser­va­tiv oder links.« Die­se Zuspit­zung habe seit den neun­zi­ger Jah­ren ste­tig zuge­nom­men. Die Wahl­kämp­fe wur­den immer schmut­zi­ger, der gegen­sei­ti­ge Haß immer grö­ßer. Heu­te, wäh­rend die finan­zi­el­le und poli­ti­sche Lage immer schlim­mer wird, hät­ten die Ame­ri­ka­ner das Gefühl, sie befän­den sich auf einem sin­ken­den Schiff, des­sen Crew sich lie­ber damit beschäf­tigt, ein­an­der zu bekrie­gen, als die Lecks zu stop­fen. Vier Jah­re spä­ter kul­mi­niert die­se Ent­wick­lung im Wahl­kampf­match zwi­schen Donald Trump und Hil­la­ry Clin­ton. Seit lan­gem stan­den sich nicht mehr der­art scharf ent­ge­gen­ge­setz­te Kan­di­da­ten gegen­über, die emble­ma­tisch für eine Neu- auf­la­dung und Neu­grup­pie­rung der poli­ti­schen Gegen­sät­ze zwi­schen den bei­den Groß­par­tei­en stehen.

Trump ist es gelun­gen, als ener­gi­scher Außen­sei­ter die zahn- und pro­fil­los gewor­de­nen »Cuck­ser­va­ti­ves« und Neo­con-Fal­ken weg­zu­fe­gen und der repu­bli­ka­ni­schen Par­tei einen fri­schen, popu­lis­ti­schen Appeal zu ver­lei­hen. Ins­be­son­de­re wei­ße Mit­tel­ständ­ler und Arbei­ter füh­len sich von sei­nem Pro­gramm ange­spro­chen: Siche­rung der Gren­zen, stär­ke­re Kon­trol­le der Ein­wan­de­rung, Stär­kung des frei­en Unter­neh­mer­tums der Flei­ßi­gen, Ablö­sung des »fal­schen Lieds des Glo­ba­lis­mus« durch einen tat­kräf­ti­gen Patrio­tis­mus alter Schu­le und nicht zuletzt das Ende der Tyran­nei der poli­ti­schen Korrektheit.

Dem­ge­gen­über steht Clin­ton als dino­sau­ri­sche Vete­ra­nin des glo­ba­lis­ti­schen Estab­lish­ments, deren Wahl­kampf unter ande­rem von der Wall Street, Sili­con Val­ley, Gold­man Sachs und Sau­di-Ara­bi­en geför­dert wird. Im Gegen­satz zu dem gemä­ßig­ten Bill Clin­ton setzt sie innen­po­li­tisch auf das vol­le Pro­gramm der Lin­ken: »Diver­si­ty«, Femi­nis­mus, Geschlech­ter­gleich­heit, »Black Lives Mat­ter«, offe­ne Gren­zen und pri­mä­res Wer­ben um die Stim­men ras­si­scher Min­der­hei­ten, der LGBT-Gemein­schaft und der urba­nen links­li­be­ra­len Wei­ßen. Sie hat auch den Groß­teil der Medi­en auf ihrer Sei­te, die ihren Gegen­spie­ler mit einem bei­spiel­lo­sen, hys­te­ri­schen Haß über­schüt­ten und dabei kaum mehr vor­täu­schen, objek­tiv und unpar­tei­isch zu berich­ten: Sie zeich­nen Trump als – Über­ra­schung! – neu­en »Hit­ler«, wäh­rend sei­ne Anhän­ger rou­ti­ne­mä­ßig als bigot­te, von »Angst« und Para­noia getrie­be­ne »Ras­sis­ten« hin- gestellt wer­den. Eine Het­ze, die wie­der­holt zu kör­per­li­chen Atta­cken auf Trump-Fans durch auf­ge­putsch­te extre­me Lin­ke geführt hat.

Die­se Lage ist durch­aus mit Deutsch­land ver­gleich­bar: Wäh­rend Mas­sen­me­di­en, Estab­lish­ment­po­li­ti­ker, Mei­nungs­ma­cher und ein­schlä­gig moti­vier­te »Exper­ten« unab­läs­sig ver­su­chen, die AfD als eine Art NSDAP 2.0 in nuce hin­zu­stel­len, üben sol­cher­art ermu­tig­te Anti­fas einen regel­rech­ten Ter­ror gegen deren Poli­ti­ker und Anhän­ger aus, ohne mit ernst­haf­ter Kri­tik und Kon­se­quen­zen rech­nen zu müs­sen. Ähn­lich wie in den USA behaup­tet das um sei­nen Macht­er­halt fürch­ten­de Estab­lish­ment, die Demo­kra­tie, die Ver­fas­sung, »die Men­schen­rech­te« und so wei­ter zu ver­kör­pern, um sich gegen jeg­li­che Kri­tik zu immu­ni­sie­ren und die Oppo­si­ti­on als »Demo­kra­tie-«, »Ver­fas­sungs-« oder »Men­schen­fein­de« hin­zu­stel­len. Die­se Dämo­ni­sie­rung stei­gert sich um so mehr, je deut­li­cher sich die nega­ti­ven Fol­gen der Ein­wan­de­rungs­po­li­tik zeigen.

So war im August 2016 im Ber­li­ner Haupt­bahn­hof eine Aus­stel­lung mit dem Titel »Die Wöl­fe sind zurück« zu sehen, die dar­auf abziel­te, »Haß und Gewalt« in Deutsch­land anzu­pran­gern. Es ver­steht sich von selbst, daß die 66 mar­tia­li­schen Wer­wolf-Skulp­tu­ren mit Namen wie »NSU-Mann«, »Blin­der Has­ser« oder»Mitläufer« aus­schließ­lich die Haß­ge­fahr »von rechts« ver­kör­pern soll­ten, wor­auf beglei­ten­de Tex­te aus­drück­lich hin­wie­sen: PEGIDA, AfD, NPD wur­den genannt und Lutz Bach­mann, Björn Höcke oder André Pog­gen­burg als Bei­spie­le für die lau­fen­de »Ver­lu­de­rung der poli­ti­schen Kul­tur« zitiert: »In der Fol­ge bren­nen Asyl­hei­me, das Bun­des­kri­mi­nal­amt mel­det für 2016 bereits mehr ras­sis­ti­sche und rechts­ra­di­ka­le Straf­ta­ten denn je.«

Kein Wort über den stei­len Anstieg von Aus­län­der­kri­mi­na­li­tät, Ver­ge­wal­ti­gungs­wel­len, eth­ni­schen und sozia­len Kon­flik­ten und die Aus­brei­tung des radi­ka­len Islams. Die Macher waren offen­bar nicht imstan­de, zu erken­nen, daß ihre Hor­ror-Panik­ma­che selbst ein schla­gen­des Bei­spiel für eine »Ver­lu­de­rung der poli­ti­schen Kul­tur« par excel­lence war: blind­wü­ti­ger, kras­ser und buch­stäb­li­cher kann man wohl kaum gan­ze Grup­pen von Anders­den­ken­den ent­mensch­li­chen und ver­teu­feln. Die Aus­stel­lung erschien um so bizar­rer, als sie kaum einen Monat nach der Wel­le isla­mis­ti­scher Ter­ror­an­schlä­ge in Niz­za, Saint-Éti­en­ne-du-Rouvray, Würz­burg und Ans­bach und dem Mas­sa­ker von Mün­chen im Juli 2016 eröff­net wor­den war. Sel­ten ist das patho­lo­gi­sche Mus­ter der ver­zerr­ten lin­ken Welt­wahr­neh­mung deut­li­cher zuta­ge getre­ten als hier: Nicht die tat­säch­li­chen Schläch­ter, Kil­ler und Bom­ben­le­ger sind aus die­ser Sicht die Wer­wöl­fe, son­dern die­je­ni­gen, die vor ihnen gewarnt haben.

Auch wenn die AfD noch kei­nen Trump und kei­ne Le Pen her­vor­ge­bracht hat und die Posi­ti­on Mer­kels bis­her nur ankrat­zen konn­te, so  ist sie den­noch zum Kris­tal­la­ti­ons­punkt einer gesell­schaft­li­chen Pola­ri­sie­rung gewor­den, die sich eben­so wie in den USA oder in Groß­bri­tan­ni­en apro­pos »Brexit« vor­wie­gend am immer viru­len­ter wer­den­den The­ma der Ein­wan­de­rung und der unge­si­cher­ten Gren­zen ent­zün­det hat.

Deut­li­cher noch hat sich die Lage in Öster­reich zuge­spitzt. Wie auch immer die Neu­wahl des Bun­des­prä­si­den­ten am 4. Dezem­ber aus­ge­hen wird: Bei­de Kan­di­da­ten ste­hen für eine Spal­tung, die tie­fer reicht als die bis­her übli­che Ver­tei­lung der Macht zwi­schen Rot und Schwarz. Nun ste­hen sich immer­hin die Kan­di­da­ten der Erz­fein­de unter den Par­tei­en gegen­über, jener Par­tei, die als am wei­tes­ten »rechts«, und jener, die als am wei­tes­ten »links« wahr­ge­nom­men wird. Daß inzwi­schen die Hälf­te der Öster­rei­cher trotz der über­wie­gen­den media­len Unter­stüt­zung für Van der Bel­len und der Dau­er­ver­fe­mung der FPÖ bereit ist, einen blau­en Prä­si­den­ten zu akzep­tie­ren, ist ein deut­li­ches Zei­chen, daß der Wider­wil­le gegen die Poli­tik der offe­nen Gren­zen und damit auch des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus wächst und das Ver­trau­en in die alten Eli­ten gehö­rig gesun­ken ist. Es ist bezeich­nend, daß Van der Bel­lens Wahl­pla­ka­te exzes­siv an den Patrio­tis­mus und das »Wir«-Gefühl der Öster­rei­cher appel­lier­ten (»Für unser viel­ge­lieb­tes Öster­reich«), also an Sen­ti­ments, die bis­lang eigent­lich Sache der FPÖ waren.

Van der Bel­len hat­te mit­hin begrif­fen, daß es ohne die­ses The­ma der Stun­de nicht gehen wür­de. Die von außen her­an­drän­gen­de Kri­se und die Desta­bi­li­sie­rung nach innen wecken offen­bar star­ke Sehn­süch­te nach Sicher­heit und »Hei­mat«, auch bei Wäh­ler­schich­ten, die ihre affek­ti­ve Abnei­gung gegen die FPÖ nicht über­win­den kön­nen. Die Mei­nungs­kluft geht mit­ten durch Fami­li­en, Ehen, Freun­des­krei­se, Arbeits­plät­ze, Kir­chen­ge­mein­den, Eltern­grup­pen, Schu­len und sozia­le Netz­wer­ke, wobei nach wie vor die Anhän­ger der »blau­en« Sei­te in der Regel stär­ker von sozia­lem und beruf­li­chem Druck, Aus­gren­zung und Anfein­dung bedroht sind.

Nun kann jeder­mann täg­lich die Erfah­rung machen, die nor­ma­ler­wei­se nur poli­tisch beson­ders enga­gier­ten Men­schen vor­be­hal­ten ist: daß man vor einem auf­ge­brach­ten Gegen­über steht, das offen­bar in einer Par­al­lel­welt lebt und die Wirk­lich­keit gänz­lich anders als man selbst wahr­nimmt. Mit einem Schlag scheint die höf­li­che und prak­ti­sche Fik­ti­on auf­ge­ho­ben, daß wir alle in der­sel­ben Welt leben, die­sel­ben Din­ge sehen und wis­sen und zu den­sel­ben ratio­na­len Urtei­len fähig sind. Rasch spricht man sich gegen­sei­tig die viel­ge­rühm­te bür­ger­li­che Mün­dig­keit ab. Es bleibt aller­dings nicht beim »Ich-seh-etwas-was-du-nicht-siehst«-Spiel, son­dern bald dreht sich jeg­li­che Dis­kus­si­on um tief­sit­zen­de mora­li­sche Wer­te und emo­tio­na­le Iden­ti­fi­ka­tio­nen, Din­ge, die unse­re Wahr­neh­mun­gen erheb­lich filtern.

In sei­nem Buch The Righ­teous Mind ver­such­te der ein­gangs zitier­te Jona­than Haidt, die Ana­to­mie poli­ti­scher und reli­giö­ser Spal­tun­gen zu ergrün­den: Wie kommt es etwa, daß sich zwei Streit­part­ner nahe­zu spie­gel­bild­lich vor­wer­fen, unmo­ra­lisch, irra­tio­nal oder unlo­gisch zu sein? Grund­la­ge sei­ner Betrach­tun­gen ist, daß unse­re Wert­ur­tei­le in ers­ter Linie affek­tiv, emo­tio­nal und intui­tiv getrof­fen und erst danach ratio­nal begrün­det wer­den. Die Intui­ti­on, das »Bauch­ge­fühl«, ist unser wah­rer »Meis­ter«, wäh­rend der argu­men­tie­ren­de Ver­stand nur sein »Die­ner« ist.

Dar­um sind die wenigs­ten Men­schen durch rein ratio­na­le Argu­men­te umzu­stim­men. Haidt nennt nun die fünf »Geschmacks­knos­pen« unse­rer mora­li­schen Matrix: »Care / Harm« bezieht sich auf den Schutz der Schwä­che­ren und Bedürf­ti­gen, wor­aus die Abscheu vor Grau­sam­keit und Mit­leid mit Not­lei­den­den folgt; »Fair­ness / Chea­ting« auf Gerech­tig­keit, Rezi­pro­zi­tät und Pro­por­tio­na­li­tät; »Loyal­ty / Betra­y­al« auf Ver­trau­en, Treue und Loya­li­tät, vor allem gegen­über der eige­nen Grup­pe, dem der Ver­rat gegen­über steht, der durch alle Zei­ten und Kul­tu­ren hin­durch als eine der schlimms­ten ethi­schen Ver­feh­lun­gen galt; »Aut­ho­ri­ty / Sub­ver­si­on« auf den Respekt vor Insti­tu­tio­nen und sozia­len Hier­ar­chien; »Sanc­ti­ty / De- gra­da­ti­on« bezieht sich auf Fra­gen der Wür­de und der Rein­heit oder Sau­ber­keit im phy­si­schen und über­tra­ge­nen Sin­ne – in die­sen Bereich gehört auch der Bereich der reli­giö­sen Wer­te, der »Ethik der Gött­lich­keit« und der »Psy­cho­lo­gie des Hei­li­gen«, die uns bestimm­te Orte, Men­schen, Prin­zi­pi­en und Gegen­stän­de als »hei­lig« ver­eh­ren oder ande­re tabui­sie­ren läßt. Sie sind die sym­bo­li­schen Stüt­zen der Gemein­schafts­mo­ral, und wer sie angreift, atta­ckiert das Herz der Gemein­schaft selbst.

Haidt stellt nun fest, daß Kon­ser­va­ti­ve in der Regel über ein brei­te­res mora­li­sches Spek­trum ver­fü­gen als Lin­ke, die dazu nei­gen, die bei­den erst­ge­nann­ten mora­li­schen Fel­der, »Care« und »Fair­ness«, über­zu­be­to­nen, wenn nicht gar zu ver­ab­so­lu­tie­ren. Weil es ihnen schwer­fällt, Moral jen­seits die­ser bei­den Fel­der zu den­ken, hal­ten sie Kon­ser­va­ti­ve oder eben Rech­te oft für unmo­ra­lisch oder gar »böse«. Umge­kehrt hal­ten Rech­te Lin­ke meis­tens eher für dumm und krank­haft als für »böse«. Das kon­ser­va­ti­ve Spek­trum umfaßt alle fünf Fel­der, aller­dings mit stär­ke­rer Beto­nung der letz­ten drei.

Haidt spricht vom »kon­ser­va­ti­ven Vor­sprung«, denn die­se sind in der Tat von grö­ße­rer Bedeu­tung, wenn es dar­um geht, eine funk­tio­nie­ren­de und sinn­stif­ten­de, den Ein­zel­ne ent­las­ten­de Gemein- schaft zu schaf­fen. Wer nur die ers­ten bei­den Fel­der der mora­li­schen Matrix begreift, wird, so Haidt, kaum ein Ohr für die sakra­len Unter­tö­ne des ame­ri­ka­ni­schen Mot­tos »E plu­ri­bus unum« haben: »Der Pro­zeß, durch den aus plu­ri­bus (vie­len ver­schie­de­nen) ein unum (eine Nati­on) wird, ist ein Wun­der, das sich in jeder erfolg­rei­chen Nati­on der Welt vollzieht.

Natio­nen zer­fal­len oder tei­len sich, wenn sie auf­hö­ren, die­ses Wun­der zu voll­brin­gen.« Daher sei es pro­ble­ma­tisch, daß die Demo­kra­ten seit den sech­zi­ger Jah­ren zuneh­mend zur Par­tei der plu­ri­bus gewor­den sei­en: »Demo­kra­ten fei­ern im all­ge­mei­nen die ›Viel­falt‹, unter­stüt­zen Ein­wan­de­rung ohne Assi­mi­la­ti­on, leh­nen es ab, Eng­lisch als natio­na­le Spra­che fest­zu­ma­chen, tra­gen ungern Flag­gen­an­ste­cker und sehen sich selbst als Weltbürger.«

Das sind schlech­te Vor­aus­set­zun­gen für das Amt des Prä­si­den­ten, der schließ­lich die Auf­ga­be hat, gleich­sam als »Hohe­pries­ter« der natio­na­len Ein­heit zu wir­ken. In der Tat hat der ers­te schwar­ze Prä­si­dent der USA nach Kräf­ten sein »Bes­tes« getan, um die Bezie­hun­gen der Ras­sen in sei- nem Land nach­hal­tig zu zer­rüt­ten, indem er eine ein­sei­ti­ge schwar­ze Iden­ti­täts­po­li­tik geför­dert hat. Hier kann man auch die Gefahr einer zu engen mora­li­schen Matrix sehen: Haidt hält fest, daß Moral sowohl »bin­det« als auch »blen­det« – sie hält eine Grup­pe effek­tiv zusam­men und stärkt ihr Wir-Gefühl, macht jedoch die­je­ni­gen, die sich auf der mora­lisch unbe­dingt rich­ti­gen Sei­te wäh­nen, oft blind für ihre eige­nen Feh­ler und Makel. Gerech­tig­keit wird dann zur Selbst­ge­rech­tig­keit und Doppelmoral.

Man kann hier­aus leicht eine Theo­rie der poli­ti­schen Spal­tung im Zuge der »Flücht­lings­kri­se« ablei­ten. Die »Gut­men­schen« wol­len »hel­fen« und haben ein schlech­tes Gewis­sen wegen der »unfai­ren« Ver­tei­lung von Lebens­qua­li­tät und Wohl­stand, wäh­rend ihnen zugleich der Sinn für Loya­li­tät zur eige­nen Grup­pe abhan­den gekom­men ist. Zugleich erschei­nen ihnen bestimm­te Din­ge wie Patrio­tis­mus oder ihre deut­sche Iden­ti­tät als Volk und Nati­on als »unrein« und mit einem star­ken Tabu belegt. Die »Kon­ser­va­ti­ven« oder Rech­ten sehen in dem über­mä­ßi­gen Ansturm der »Flücht­lin­ge« eine Gefahr für die eige­ne Grup­pe und Nati­on, für Recht, Ord­nung und das sozia­le Gefü­ge, und falls Isla­mi­sie­rung und Über­frem­dung dro­hen, auch eine Gefahr für die eige­ne Lebens­wei­se. Wenn Haidt nun auf­grund die­ser Erkennt­nis­se zu mehr gegen­sei­ti­gem Ver­ständ­nis und kon­struk­ti­ve­ren Dis­pu­ten auf­ruft, darf man skep­tisch sein, ob der­lei noch funk­tio­nie­ren kann.

Auf der intel­lek­tu­el­len Ebe­ne eben­so wie auf der all­täg­li­chen der Nor­mal­ver­brau­cher läuft es am Ende schlicht auf einen Kon­flikt zwi­schen Rea­lis­ten und Rea­li­täts­ver­leug­nern hin­aus, deren Ver­stand zur blo­ßen Abwehr‑, Blen­dungs- und Pro­jek­ti­ons­ma­schi­ne ver­kom­men ist. Wie Alain de Benoist in élé­ments (Nr. 159) schrieb: »Die pro­gres­sis­ti­sche Lin­ke steckt in der Ver­leug­nung fest.

Der Akt der Ver­leug­nung bedeu­tet nach Freud die Wei­ge­rung, bestimm­te Wahr­neh­mun­gen anzu­er­ken­nen, also sich zu ver­hal­ten, als ob die Wirk­lich­keit, die man wahr­nimmt, nicht exis­tiert.« Die »wirk­li­chen Men­schen, die das Volk aus­ma­chen«, glau­ben zum Bei­spiel nicht an die »Ein­wan­de­rungs­ek­sta­se« und die Abschaf­fung der Gren­zen, an »Gender«-Theorien, an die bun­te »Viel­falt« und gleich­zei­ti­ge angeb­li­che Nicht­exis­tenz der Ras­sen oder an die Ver­bes­se­rung des Schul­sys­tems durch Nivel­lie­rung. Kurz: »Sie sehen, was sie sehen, und sie stel­len fest, daß die Medi­en nicht dar­über spre­chen, was sie sehen; und wovon sie spre­chen, ent­spricht nicht der Wahrheit.«

Ange­sichts die­ser Lage reagiert die herr­schen­de Klas­se, die in einem »fik­ti­ven Uni­ver­sum« lebt, mit »Weh­kla­gen, Exkom­mu­ni­ka­tio­nen und Pre­dig­ten«. Die Exkom­mu­ni­ka­tio­nen sehen fol­gen­der­ma­ßen aus: »Die­je­ni­gen, die sich dar­auf ver­stei­fen, daß sie sehen, was sie sehen, wer­den be- schul­digt, nach ›rechts‹ zu rut­schen.« Dar­um bedeu­tet die aktu­el­le poli­ti­sche Pola­ri­sie­rung mehr als einen blo­ßen Kampf der Wer­te und Inter­es­sen. Man kann schlicht­weg nicht mit Leu­ten dis­ku­tie­ren, die in Fra­ge stel­len, ob es über­haupt ein Schiff gibt, ob es ein Leck gibt oder ob es Was­ser gibt, oder ob das Was­ser und die Lecks für das Schiff gut sind oder es gar am Sin­ken hindern.

Aus der Sicht der Rea­lis­ten sägen sich auch die Flücht­lings­will­kom­men­hei­ßer, Hyper­mo­ra­lis­ten, Xeno­phi­len und Ger­ma­no­pho­ben den Ast ab, auf dem sie sit­zen. Und die­je­ni­gen, die am tiefs­ten in die­ser Patho­lo­gie ste­cken, sind längst von der Ver­leug­nung der Wirk­lich­keit zur psy­cho­lo­gi­schen Pro­jek­ti­on über­ge­gan­gen: Sie wer­den uns, die wir sehen, was wir sehen, und sagen, was wir sehen, auch in Zukunft zu den Sün­den­bö­cken der Fol­gen ihrer Ver­blen­dung machen, wer­den uns immer blind­wü­ti­ger vor­wer­fen, »gefähr­lich«, dumm, haßer­füllt, hal­lu­zi­nie­rend, bös­ar­tig, unmo­ra­lisch und angst­neu­ro­tisch zu sein, und all das ist es viel- leicht, was sich in Wahr­heit hin­ter ihrer schein­bar so arg­lo­sen, angeb­lich so haß‑, angst- und dis­kri­mi­nie­rungs­frei­en Ober­flä­che verbirgt. ¡

 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)