»Das Land scheint bis an den Rand der Dysfunktionalität polarisiert und umkämpft zu sein«, schrieb der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt im Jahr 2012 über die USA. »Immer weniger Menschen sehen sich als moderat oder in der Mitte, immer mehr als entweder konservativ oder links.« Diese Zuspitzung habe seit den neunziger Jahren stetig zugenommen. Die Wahlkämpfe wurden immer schmutziger, der gegenseitige Haß immer größer. Heute, während die finanzielle und politische Lage immer schlimmer wird, hätten die Amerikaner das Gefühl, sie befänden sich auf einem sinkenden Schiff, dessen Crew sich lieber damit beschäftigt, einander zu bekriegen, als die Lecks zu stopfen. Vier Jahre später kulminiert diese Entwicklung im Wahlkampfmatch zwischen Donald Trump und Hillary Clinton. Seit langem standen sich nicht mehr derart scharf entgegengesetzte Kandidaten gegenüber, die emblematisch für eine Neu- aufladung und Neugruppierung der politischen Gegensätze zwischen den beiden Großparteien stehen.
Trump ist es gelungen, als energischer Außenseiter die zahn- und profillos gewordenen »Cuckservatives« und Neocon-Falken wegzufegen und der republikanischen Partei einen frischen, populistischen Appeal zu verleihen. Insbesondere weiße Mittelständler und Arbeiter fühlen sich von seinem Programm angesprochen: Sicherung der Grenzen, stärkere Kontrolle der Einwanderung, Stärkung des freien Unternehmertums der Fleißigen, Ablösung des »falschen Lieds des Globalismus« durch einen tatkräftigen Patriotismus alter Schule und nicht zuletzt das Ende der Tyrannei der politischen Korrektheit.
Demgegenüber steht Clinton als dinosaurische Veteranin des globalistischen Establishments, deren Wahlkampf unter anderem von der Wall Street, Silicon Valley, Goldman Sachs und Saudi-Arabien gefördert wird. Im Gegensatz zu dem gemäßigten Bill Clinton setzt sie innenpolitisch auf das volle Programm der Linken: »Diversity«, Feminismus, Geschlechtergleichheit, »Black Lives Matter«, offene Grenzen und primäres Werben um die Stimmen rassischer Minderheiten, der LGBT-Gemeinschaft und der urbanen linksliberalen Weißen. Sie hat auch den Großteil der Medien auf ihrer Seite, die ihren Gegenspieler mit einem beispiellosen, hysterischen Haß überschütten und dabei kaum mehr vortäuschen, objektiv und unparteiisch zu berichten: Sie zeichnen Trump als – Überraschung! – neuen »Hitler«, während seine Anhänger routinemäßig als bigotte, von »Angst« und Paranoia getriebene »Rassisten« hin- gestellt werden. Eine Hetze, die wiederholt zu körperlichen Attacken auf Trump-Fans durch aufgeputschte extreme Linke geführt hat.
Diese Lage ist durchaus mit Deutschland vergleichbar: Während Massenmedien, Establishmentpolitiker, Meinungsmacher und einschlägig motivierte »Experten« unablässig versuchen, die AfD als eine Art NSDAP 2.0 in nuce hinzustellen, üben solcherart ermutigte Antifas einen regelrechten Terror gegen deren Politiker und Anhänger aus, ohne mit ernsthafter Kritik und Konsequenzen rechnen zu müssen. Ähnlich wie in den USA behauptet das um seinen Machterhalt fürchtende Establishment, die Demokratie, die Verfassung, »die Menschenrechte« und so weiter zu verkörpern, um sich gegen jegliche Kritik zu immunisieren und die Opposition als »Demokratie-«, »Verfassungs-« oder »Menschenfeinde« hinzustellen. Diese Dämonisierung steigert sich um so mehr, je deutlicher sich die negativen Folgen der Einwanderungspolitik zeigen.
So war im August 2016 im Berliner Hauptbahnhof eine Ausstellung mit dem Titel »Die Wölfe sind zurück« zu sehen, die darauf abzielte, »Haß und Gewalt« in Deutschland anzuprangern. Es versteht sich von selbst, daß die 66 martialischen Werwolf-Skulpturen mit Namen wie »NSU-Mann«, »Blinder Hasser« oder»Mitläufer« ausschließlich die Haßgefahr »von rechts« verkörpern sollten, worauf begleitende Texte ausdrücklich hinwiesen: PEGIDA, AfD, NPD wurden genannt und Lutz Bachmann, Björn Höcke oder André Poggenburg als Beispiele für die laufende »Verluderung der politischen Kultur« zitiert: »In der Folge brennen Asylheime, das Bundeskriminalamt meldet für 2016 bereits mehr rassistische und rechtsradikale Straftaten denn je.«
Kein Wort über den steilen Anstieg von Ausländerkriminalität, Vergewaltigungswellen, ethnischen und sozialen Konflikten und die Ausbreitung des radikalen Islams. Die Macher waren offenbar nicht imstande, zu erkennen, daß ihre Horror-Panikmache selbst ein schlagendes Beispiel für eine »Verluderung der politischen Kultur« par excellence war: blindwütiger, krasser und buchstäblicher kann man wohl kaum ganze Gruppen von Andersdenkenden entmenschlichen und verteufeln. Die Ausstellung erschien um so bizarrer, als sie kaum einen Monat nach der Welle islamistischer Terroranschläge in Nizza, Saint-Étienne-du-Rouvray, Würzburg und Ansbach und dem Massaker von München im Juli 2016 eröffnet worden war. Selten ist das pathologische Muster der verzerrten linken Weltwahrnehmung deutlicher zutage getreten als hier: Nicht die tatsächlichen Schlächter, Killer und Bombenleger sind aus dieser Sicht die Werwölfe, sondern diejenigen, die vor ihnen gewarnt haben.
Auch wenn die AfD noch keinen Trump und keine Le Pen hervorgebracht hat und die Position Merkels bisher nur ankratzen konnte, so ist sie dennoch zum Kristallationspunkt einer gesellschaftlichen Polarisierung geworden, die sich ebenso wie in den USA oder in Großbritannien apropos »Brexit« vorwiegend am immer virulenter werdenden Thema der Einwanderung und der ungesicherten Grenzen entzündet hat.
Deutlicher noch hat sich die Lage in Österreich zugespitzt. Wie auch immer die Neuwahl des Bundespräsidenten am 4. Dezember ausgehen wird: Beide Kandidaten stehen für eine Spaltung, die tiefer reicht als die bisher übliche Verteilung der Macht zwischen Rot und Schwarz. Nun stehen sich immerhin die Kandidaten der Erzfeinde unter den Parteien gegenüber, jener Partei, die als am weitesten »rechts«, und jener, die als am weitesten »links« wahrgenommen wird. Daß inzwischen die Hälfte der Österreicher trotz der überwiegenden medialen Unterstützung für Van der Bellen und der Dauerverfemung der FPÖ bereit ist, einen blauen Präsidenten zu akzeptieren, ist ein deutliches Zeichen, daß der Widerwille gegen die Politik der offenen Grenzen und damit auch des Multikulturalismus wächst und das Vertrauen in die alten Eliten gehörig gesunken ist. Es ist bezeichnend, daß Van der Bellens Wahlplakate exzessiv an den Patriotismus und das »Wir«-Gefühl der Österreicher appellierten (»Für unser vielgeliebtes Österreich«), also an Sentiments, die bislang eigentlich Sache der FPÖ waren.
Van der Bellen hatte mithin begriffen, daß es ohne dieses Thema der Stunde nicht gehen würde. Die von außen herandrängende Krise und die Destabilisierung nach innen wecken offenbar starke Sehnsüchte nach Sicherheit und »Heimat«, auch bei Wählerschichten, die ihre affektive Abneigung gegen die FPÖ nicht überwinden können. Die Meinungskluft geht mitten durch Familien, Ehen, Freundeskreise, Arbeitsplätze, Kirchengemeinden, Elterngruppen, Schulen und soziale Netzwerke, wobei nach wie vor die Anhänger der »blauen« Seite in der Regel stärker von sozialem und beruflichem Druck, Ausgrenzung und Anfeindung bedroht sind.
Nun kann jedermann täglich die Erfahrung machen, die normalerweise nur politisch besonders engagierten Menschen vorbehalten ist: daß man vor einem aufgebrachten Gegenüber steht, das offenbar in einer Parallelwelt lebt und die Wirklichkeit gänzlich anders als man selbst wahrnimmt. Mit einem Schlag scheint die höfliche und praktische Fiktion aufgehoben, daß wir alle in derselben Welt leben, dieselben Dinge sehen und wissen und zu denselben rationalen Urteilen fähig sind. Rasch spricht man sich gegenseitig die vielgerühmte bürgerliche Mündigkeit ab. Es bleibt allerdings nicht beim »Ich-seh-etwas-was-du-nicht-siehst«-Spiel, sondern bald dreht sich jegliche Diskussion um tiefsitzende moralische Werte und emotionale Identifikationen, Dinge, die unsere Wahrnehmungen erheblich filtern.
In seinem Buch The Righteous Mind versuchte der eingangs zitierte Jonathan Haidt, die Anatomie politischer und religiöser Spaltungen zu ergründen: Wie kommt es etwa, daß sich zwei Streitpartner nahezu spiegelbildlich vorwerfen, unmoralisch, irrational oder unlogisch zu sein? Grundlage seiner Betrachtungen ist, daß unsere Werturteile in erster Linie affektiv, emotional und intuitiv getroffen und erst danach rational begründet werden. Die Intuition, das »Bauchgefühl«, ist unser wahrer »Meister«, während der argumentierende Verstand nur sein »Diener« ist.
Darum sind die wenigsten Menschen durch rein rationale Argumente umzustimmen. Haidt nennt nun die fünf »Geschmacksknospen« unserer moralischen Matrix: »Care / Harm« bezieht sich auf den Schutz der Schwächeren und Bedürftigen, woraus die Abscheu vor Grausamkeit und Mitleid mit Notleidenden folgt; »Fairness / Cheating« auf Gerechtigkeit, Reziprozität und Proportionalität; »Loyalty / Betrayal« auf Vertrauen, Treue und Loyalität, vor allem gegenüber der eigenen Gruppe, dem der Verrat gegenüber steht, der durch alle Zeiten und Kulturen hindurch als eine der schlimmsten ethischen Verfehlungen galt; »Authority / Subversion« auf den Respekt vor Institutionen und sozialen Hierarchien; »Sanctity / De- gradation« bezieht sich auf Fragen der Würde und der Reinheit oder Sauberkeit im physischen und übertragenen Sinne – in diesen Bereich gehört auch der Bereich der religiösen Werte, der »Ethik der Göttlichkeit« und der »Psychologie des Heiligen«, die uns bestimmte Orte, Menschen, Prinzipien und Gegenstände als »heilig« verehren oder andere tabuisieren läßt. Sie sind die symbolischen Stützen der Gemeinschaftsmoral, und wer sie angreift, attackiert das Herz der Gemeinschaft selbst.
Haidt stellt nun fest, daß Konservative in der Regel über ein breiteres moralisches Spektrum verfügen als Linke, die dazu neigen, die beiden erstgenannten moralischen Felder, »Care« und »Fairness«, überzubetonen, wenn nicht gar zu verabsolutieren. Weil es ihnen schwerfällt, Moral jenseits dieser beiden Felder zu denken, halten sie Konservative oder eben Rechte oft für unmoralisch oder gar »böse«. Umgekehrt halten Rechte Linke meistens eher für dumm und krankhaft als für »böse«. Das konservative Spektrum umfaßt alle fünf Felder, allerdings mit stärkerer Betonung der letzten drei.
Haidt spricht vom »konservativen Vorsprung«, denn diese sind in der Tat von größerer Bedeutung, wenn es darum geht, eine funktionierende und sinnstiftende, den Einzelne entlastende Gemein- schaft zu schaffen. Wer nur die ersten beiden Felder der moralischen Matrix begreift, wird, so Haidt, kaum ein Ohr für die sakralen Untertöne des amerikanischen Mottos »E pluribus unum« haben: »Der Prozeß, durch den aus pluribus (vielen verschiedenen) ein unum (eine Nation) wird, ist ein Wunder, das sich in jeder erfolgreichen Nation der Welt vollzieht.
Nationen zerfallen oder teilen sich, wenn sie aufhören, dieses Wunder zu vollbringen.« Daher sei es problematisch, daß die Demokraten seit den sechziger Jahren zunehmend zur Partei der pluribus geworden seien: »Demokraten feiern im allgemeinen die ›Vielfalt‹, unterstützen Einwanderung ohne Assimilation, lehnen es ab, Englisch als nationale Sprache festzumachen, tragen ungern Flaggenanstecker und sehen sich selbst als Weltbürger.«
Das sind schlechte Voraussetzungen für das Amt des Präsidenten, der schließlich die Aufgabe hat, gleichsam als »Hohepriester« der nationalen Einheit zu wirken. In der Tat hat der erste schwarze Präsident der USA nach Kräften sein »Bestes« getan, um die Beziehungen der Rassen in sei- nem Land nachhaltig zu zerrütten, indem er eine einseitige schwarze Identitätspolitik gefördert hat. Hier kann man auch die Gefahr einer zu engen moralischen Matrix sehen: Haidt hält fest, daß Moral sowohl »bindet« als auch »blendet« – sie hält eine Gruppe effektiv zusammen und stärkt ihr Wir-Gefühl, macht jedoch diejenigen, die sich auf der moralisch unbedingt richtigen Seite wähnen, oft blind für ihre eigenen Fehler und Makel. Gerechtigkeit wird dann zur Selbstgerechtigkeit und Doppelmoral.
Man kann hieraus leicht eine Theorie der politischen Spaltung im Zuge der »Flüchtlingskrise« ableiten. Die »Gutmenschen« wollen »helfen« und haben ein schlechtes Gewissen wegen der »unfairen« Verteilung von Lebensqualität und Wohlstand, während ihnen zugleich der Sinn für Loyalität zur eigenen Gruppe abhanden gekommen ist. Zugleich erscheinen ihnen bestimmte Dinge wie Patriotismus oder ihre deutsche Identität als Volk und Nation als »unrein« und mit einem starken Tabu belegt. Die »Konservativen« oder Rechten sehen in dem übermäßigen Ansturm der »Flüchtlinge« eine Gefahr für die eigene Gruppe und Nation, für Recht, Ordnung und das soziale Gefüge, und falls Islamisierung und Überfremdung drohen, auch eine Gefahr für die eigene Lebensweise. Wenn Haidt nun aufgrund dieser Erkenntnisse zu mehr gegenseitigem Verständnis und konstruktiveren Disputen aufruft, darf man skeptisch sein, ob derlei noch funktionieren kann.
Auf der intellektuellen Ebene ebenso wie auf der alltäglichen der Normalverbraucher läuft es am Ende schlicht auf einen Konflikt zwischen Realisten und Realitätsverleugnern hinaus, deren Verstand zur bloßen Abwehr‑, Blendungs- und Projektionsmaschine verkommen ist. Wie Alain de Benoist in éléments (Nr. 159) schrieb: »Die progressistische Linke steckt in der Verleugnung fest.
Der Akt der Verleugnung bedeutet nach Freud die Weigerung, bestimmte Wahrnehmungen anzuerkennen, also sich zu verhalten, als ob die Wirklichkeit, die man wahrnimmt, nicht existiert.« Die »wirklichen Menschen, die das Volk ausmachen«, glauben zum Beispiel nicht an die »Einwanderungsekstase« und die Abschaffung der Grenzen, an »Gender«-Theorien, an die bunte »Vielfalt« und gleichzeitige angebliche Nichtexistenz der Rassen oder an die Verbesserung des Schulsystems durch Nivellierung. Kurz: »Sie sehen, was sie sehen, und sie stellen fest, daß die Medien nicht darüber sprechen, was sie sehen; und wovon sie sprechen, entspricht nicht der Wahrheit.«
Angesichts dieser Lage reagiert die herrschende Klasse, die in einem »fiktiven Universum« lebt, mit »Wehklagen, Exkommunikationen und Predigten«. Die Exkommunikationen sehen folgendermaßen aus: »Diejenigen, die sich darauf versteifen, daß sie sehen, was sie sehen, werden be- schuldigt, nach ›rechts‹ zu rutschen.« Darum bedeutet die aktuelle politische Polarisierung mehr als einen bloßen Kampf der Werte und Interessen. Man kann schlichtweg nicht mit Leuten diskutieren, die in Frage stellen, ob es überhaupt ein Schiff gibt, ob es ein Leck gibt oder ob es Wasser gibt, oder ob das Wasser und die Lecks für das Schiff gut sind oder es gar am Sinken hindern.
Aus der Sicht der Realisten sägen sich auch die Flüchtlingswillkommenheißer, Hypermoralisten, Xenophilen und Germanophoben den Ast ab, auf dem sie sitzen. Und diejenigen, die am tiefsten in dieser Pathologie stecken, sind längst von der Verleugnung der Wirklichkeit zur psychologischen Projektion übergegangen: Sie werden uns, die wir sehen, was wir sehen, und sagen, was wir sehen, auch in Zukunft zu den Sündenböcken der Folgen ihrer Verblendung machen, werden uns immer blindwütiger vorwerfen, »gefährlich«, dumm, haßerfüllt, halluzinierend, bösartig, unmoralisch und angstneurotisch zu sein, und all das ist es viel- leicht, was sich in Wahrheit hinter ihrer scheinbar so arglosen, angeblich so haß‑, angst- und diskriminierungsfreien Oberfläche verbirgt. ¡