Als im Juni dieses Jahres etwa 52 Prozent der Briten per Referendum für einen Ausstieg aus der Europäischen Union plädierten, verschärfte das die Legitimationskrise der EU und ihrer Eliten. Eigentlich hätte dies wie ein Weckruf für konservative Gegner des Brüsseler Konstrukts wirken müssen, im Stimmungsvakuum nach dem Auftakt des »Brexit« europäische Gegenkonzeptionen zu diskutieren. Allein, es folgte: nichts. Weder der Front National noch die AfD, weder UKIP noch Fidesz, aber auch keines der konservativen Institute oder Organe war in der Lage, eine europäische Linie zu formulieren und sie als gemeinsamen Standpunkt mit den anderen abzustimmen. Grund genug für eine Intervention: zehn Thesen zu Europa und zum notwendigen Neubeginn rechter Europakritik!
1.) Es gibt keine europäische Rechte, die das Attribut »europäisch« im eigentlichen Sinne verdient.
Es gibt kein einziges EU-Mitgliedsland, in dem relevante Teile der politischen Rechten gesamteuropäische Konzepte vertreten. Die europapolitische Agitation konservativer, freiheitlicher und nationaler Kreise richtet sich gegen »Brüssel« und seine Regulierungswut, gegen die supranationalen Institutionen, und sie plädiert für die Rückerlangung nationaler Souveränität, für die Rückkehr zu einem gaullistischen Status quo ante, in dem jede Nation für sich handelt und Europa häufig nur als Floskel besteht.
Ein frappierendes Beispiel hierfür sind jüngste Aussagen Markus Frohnmaiers: Der Bundesvorsitzende der AfD-Jugend bewirbt seine Junge Alternative in einem Gespräch mit dem Blog blauenarzisse.de schon des- halb als »europäische« Kraft, weil sie Kontakte zu Parteijugendorganisationen des Auslands pflege. Er spricht gar vom »Projekt Junges Europa«, das er leider nicht mit »jungeuropäischem« Inhalt im Sinne Giuseppe Mazzinis, sondern mit nationalistischem Pathos füllt: »Wir haben ein klares Leitmotiv in unserer alternativen Außenpolitik formuliert und zwar: Deutschland zuerst.« Dem kann man zustimmen, weil es die derzeit vernachlässigten Befindlichkeiten der nationalen Seele streichelt; dem kann man widersprechen, weil es weder eine grundsätzlich »alternative Außenpolitik« verheißt noch irgend etwas mit einem »Jungen Europa« zu tun hat. In jedem Fall wird durch solche programmatischen Aussagen kein gesamteuropäischer Rahmen aufgespannt, sondern viel eher ein rechtes Dilemma bestätigt: Europa taucht nur als okkasioneller Gemeinplatz auf, um klassisch nationale Sujets zu verkleiden.
2.) Europafeindlichkeit entsteht, weil die EU fälschlich mit »Europa« gleichgesetzt wird.
Europa ist nicht die Europäische Union, Brüssel nicht das Zentrum des europäischen Geistes. Die EU ist von ihrem Beginn an, wie der britische Soziologe Richard Seymour pointiert zusammenfaßte, »als ein kapitalistischer Block organisiert worden«. Sie ist demzufolge keine europäische Sache, sondern eine Sache der transnationalen Banken und Konzerne so- wie jener politischen und medialen Akteure, die von einer primär wirtschaftlichen Ausrichtung profitieren. Der Jurist Andreas Wehr nennt die EU ein Konstrukt, »das zur Bewahrung und Entwicklung der die kapitalistischen Wirtschaftsordnungen sichernden Prinzipien des freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital eingerichtet wurde«.
Anders gesagt: Die EU ist ein Elitenprojekt kapitalistischer Prägung und Europa der Schauplatz ihrer ökonomischen Versuche. Daß sich an diesem Integrationskonzept auch die Riege der multikulturell-linksliberalen Kreise beteiligen, verschärft die antieuropäische Note der Europäischen Union. Aber auch hier: ein rechtes Dilemma. Denn der zitierte Seymour ist Leninist, Wehr ist Marxist. Substantielle EU-Kritik ist also einstweilen die Domäne weniger Akteure am äußeren linken Rand, während von konservativer Seite aus – überspitzt gesagt – allenfalls über die Glühbirnenverordnung aus Brüssel doziert wird. Die EU als kapitalistisches Projekt zu begreifen, heißt im übrigen nicht, ihr das Prinzip der Marktwirtschaft vorzuwerfen. Im Gegenteil: Der monopolisierende Kapitalismus tendiert sogar dazu, Märkte auszuhebeln. Er hat nichts gemein mit selbständigem Unternehmertum des Mittelstandes, der von zwei Seiten unter Druck steht: Kapitalistische Großkonzerne und eine dem Finanz- und Industriekapital hörige, aufgeblähte Bürokratie à la bruxelloise schnüren ihm die Kehle zu.
3.) Ein neues Europa muß von vorn beginnen. Die Reformation der EU ist nicht möglich.
Einzelne Eingriffe »Brüssels« in den Alltag sind nicht das Kernproblem. Das wird vielmehr von der kapitalistischen EU in ihrer Gesamtheit verkörpert. Für eine Neufundierung des gesamteuropäischen Erbes jenseits rein materialistischer Denkweisen sollte alles Bestehende im europäischen Rahmen hinterfragt werden – auch die Wirtschaftsstruktur. Rührte man diese nicht an, so müßte man am Ende eine Welt akzeptieren, in der die von Slavoj Žižek wiederholt aufgezeigte, einzige reale Wahlmöglichkeit jene zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsorganisationsformen des Kapitalismus ist. Also bliebe etwa die Wahl zwischen der westlich-multikulturellen kapitalistischen Zivilisation nach EU-Abbild und autoritär-kapitalistischen Alternativen, vergleichbar den asia- tischen (chinesischen) oder sunnitisch-wahabitischen (saudi-arabischen) Varianten. Die Akzeptanz dieser verengten Wahl ist kennzeichnend für die technokratisch-reformistische Rechte, wie sie etwa von Bernd Lucke verkörpert wird.
Politische Akteure, die jenseits der kapitalistischen Logik denken, sollten dieser Kapitulationserklärung des Geistes ausweichen. Sie sollten eintauchen in die dreitausendjährige Geistesgeschichte unseres Kontinents, um aus dem »unverbrauchten Reichtum an Intelligenz, Energie und Schöpfertum, den wir ›Europa‹ nennen dürfen« (Gerd-Klaus Kaltenbrunner), Kraft zu schöpfen.
4.) »Europa« war und bleibt eine rechte Idee.
Oft wird vergessen, daß »der europäische Gedanke ursprünglich eine rechte Idee war«. Der Historiker Tony Judt führte das Einigungsstreben rechter europäischer Intellektueller auf die 1930er Jahre zurück, als eine doppelte Bedrohung durch »Amerikanismus« und »Bolschewismus« bestand und man einen eigenen, einen europäischen Weg suchte. Aber der europäische Gedanke als »ursprünglich rechte Idee« umfaßt mehr als die Praxis der Feindbestimmung. Dafür müssen bestehende (aber derzeit verdeckte) rechte Kontinuitätslinien aufgegriffen werden. Die größte dieser politischen Linien ist die Nennung einer dreifachen Zugehörigkeit eines Europäers: zur Heimatregion, zur Nation, zu Europa als übergeordne- tem Prinzip. Alain de Benoist betonte jüngst, eine Idee Pierre Drieu la Rochelles aktualisierend, daß sich in Europa »Nationen und Regionen nicht feindlich, sondern komplementär zueinander verhalten«. Entscheidend sei, daß keiner der drei Pfeiler absolut gesetzt werde. Und bei der Identitären Bewegung in Frankreich zählt die »triple appartenance« zu den Grundpfeilern ihrer Weltanschauung.
Die Kontinuitätslinien eines rechten Europabildes müssen mit zeitgemäßem Antikapitalismus und Antiimperialismus verknüpft werden.
5.) Die Idee der dreifachen Zugehörigkeit ist also die Basis rechts- oder jungeuropäischen Denkens. Sie sieht sich auf all diesen drei Feldern konfrontiert mit der gegenwärtigen Europäischen Union, deren fehlende geistige »Erdung« durch europäische Identitäten mit ihrem rein kapitalistisch und imperialistisch ausgerichteten – und daher vergänglichen – Nützlichkeitsdenken korreliert.
Kapitalistisch ist die EU, weil sie in ihrer Gesamtheit ein Projekt der Finanzmarkt‑, Konzern- und Freihandelslobby darstellt, das nicht das Wohl der europäischen Völker als Primärziel aufweist. Imperialistisch ist die EU, weil sie außenpolitisch als Akteur an der Seite der USA wirkt und Gewaltpolitik zur Erweiterung der Hegemonie kapitalistischer Großmächte betreibt. Beide Punkte sind nicht voneinander zu trennen. Soll ein rechtes Europabild auf der Höhe der Zeit auf den Pfeilern »Region, Nation, Europa« beruhen, muß es daher antikapitalistisch und antiimperialistisch ausgerichtet sein. Die Notwendigkeit eines europäischen Antiimperialismus schließt dabei die Notwendigkeit eines europäischen Antikapitalismus ein et vice versa.
6.) Die Erweiterung eines rechten Europabildes um zeitgemäße weltanschauliche Standpunkte ist die Antwort auf die Krise der Solidarität.
Ob explodierende Jugendarbeitslosigkeit, Austeritätszwänge, Banken- und Konzernpleiten, wachsende monetäre Kluft zwischen den Gesellschaftsschichten, Flüchtlingsströme: All diese akuten Krisenerscheinungen betreffen das Thema »Solidarität«. Es wird auch heute noch als ureigenes Metier der politischen Linken wahrgenommen. Hier sollte nun zweierlei geleistet werden: Zum einen gilt es, darauf hinzuweisen, daß die Linke die Krise der Solidarität selbst beschleunigt hat, indem sie ihre Stammklientel – die einkommensschwachen Schichten – den alltäglichen Verwerfungen der Massenzuwanderung ausgesetzt hat und eine industrielle Reservearmee in die Länder holt, die zwangsläufig mit ihnen um Arbeit und Wohnraum konkurrieren wird.
Zum anderen gilt es, die Krise der Solidarität und die Abkehr der neoliberalisierten Linken von den »populären Klassen« als Anlaß zu nehmen, die soziale Profilschärfung der Rechten wieder aufs Tapet zu bringen.
7.) Soziale Solidarität ist ein Grundstein für ein neues Europa.
Soziale Solidarität erfordert zuallererst die Erkenntnis, daß der Hauptwiderspruch innerhalb der EU nicht zwischen den europäischen Völkern verläuft, sondern zwischen den Bedürfnissen der Völker einerseits und dem Bedürfnis des transnationalen Kapitals andererseits. Der in der EU ausgefochtene Klassenkampf von oben wird von den herrschenden Eliten gegen die eigenen Völker geführt. Das zu erkennen, heißt auch, sich von den romantischen Vorstellungen eines »patriotisch« rückgebundenen Kapitalismus (nicht: Marktwirtschaft) zu verabschieden: Die Transnationalisierung des Kapitals ist so fortgeschritten, daß es keine genuinen nationalen Kapitalistenklassen mehr gibt, die man als »die eigenen« affirmieren könnte.
Insofern geht beispielsweise auch jede Schadenfreude ob der Sparmaßnahmen gegen Griechenland nach den jüngsten Krisenentwicklungen fehl. Was die Troika in Griechenland durchführt, könnte sie schon bald woanders weitertreiben. Griechenland ist die Blaupause für das Modell »entpolitisierte Technokratie«. Transnational agierende Banker und andere Finanzakteure können als »Experten« schalten und walten, während populistische Ressentiments (»Pleitegriechen« et al.) die Völker gegeneinander aufwiegeln.
Soziale Solidarität heißt daher auch, sich von der Identifikation mit »unserer« herrschenden Klasse zu verabschieden, nur weil sie »uns« nach allgemeiner Auffassung zur Exporteuropameisterschaft verhilft. Soziale Solidarität beinhaltet, zu erkennen, daß – um beim Beispiel zu bleiben – nicht »die Griechen« gerettet wurden, sondern daß sich der Finanzmarktkapitalismus auf Kosten Deutschlands und der anderen Länder ein weiteres Mal Zeit verschafft hat. Soziale Solidarität verlangt in der Folge gesamteuropäische Feindbestimmung gegen das von Alexis Tsipras benannte Dreieck aus Korruption, das sich aus dem bankrotten politischen EU-System, den bankrotten Banken und den moralisch bankrotten Medien zusammensetzt
8.) Nationale Solidarität führt zu europäischem Bewußtsein.
Neben dieser Form europäisch-sozialer Solidarität ist auch nationale Solidarität in europäischem Ausmaß notwendig. Wenn etwa Ungarn die Grenzen schließt, handelt es sich hierbei um ein Beispiel für eine Nation, die aus nationalem Interesse europäische Interessen vertritt. Bleibt man bei diesem Aspekt der Massenzuwanderung, so gilt es, sich bewußtzuwerden, daß nationale Solidarität auf europäischer Ebene überhaupt die Grundvoraussetzung ist, um der Migrationskrise zumindest quantitativ Herr zu werden. Der Ansturm auf Europa, der im engsten Sinne und angesichts der belegten Zahlen ein Ansturm auf Deutschland ist, aber zuerst die europäischen Grenzländer betrifft, muß gesamteuropäisch gelöst werden. Nationale Solidarität heißt daher, kein Land im Stich zu lassen und dezidiert politische, europäische Lösungen zu finden, um den gemeinsam bewohnten Kontinent und das gemeinsame geistige und historische Erbe zu bewahren. Das ist einer von vielen notwendigen Schritten, die helfen sollten, ein Bewußtsein europäischer Zusammengehörigkeit zu stiften.
9.) Neues Europa heißt: mehr als nur dagegen sein.
Sowohl die soziale als auch die nationale Solidarität unter Europäern, wie sie hier kursorisch angerissen wurden, sind zunächst verneinender Natur, d. h. antiimperialistisch, antikapitalistisch, gegen den Großen Austausch, gegen die spalterische nationalchauvinistische Enge usw. usf. Diese negative Herangehensweise ist aber kein Zeichen von Schwäche, sondern politische Normalität. Um den positiven Standpunkt zu umreißen, muß vorher geklärt werden, was bezüglich der gegenwärtigen Verfaßtheit Europas wesentlich falsch und folgerichtig abzulehnen ist.
Was man – nach Klärung der Feindbestimmungen – braucht, ist eine positive Vision eines einigen Europas, und das heißt: die Vision eines dreitausend- jährigen Kulturkreises, der von einem unvorstellbaren Reichtum an kulturellen, nationalen und religiösen Werten, an Regionen, Kulturen und Völkern geprägt ist, die sich wechselseitig befruchtet und beeinflußt haben. Diese tatsächliche Vielfalt, die sich von der propagandistischen Diversity offiziöser EU-Politik erheblich unterscheidet, muß für eine europäische Zukunft erhalten bleiben.
Europäische Ideen zu erschließen und neu zusammenzusetzen, hieße zu versuchen, von vorne zu beginnen, um fürderhin von »rechts« mehr bieten zu können, als die EU zu verdammen und die allein seligmachende Rückkehr des Nationalstaates zu preisen. Daß es keine paneuropäischen Patentrezepte gibt, auch nicht von rechter Seite, ist selbsterklärend. Doch angesichts des perpetuierten Krisenzustands der EU und der vorrevolutionären Zeiten, in denen wir uns befinden, ist die Zeit reif, Debatten über das europäische Morgen zu führen. Sie werden unter Drieu la Rochelles Maxime »Revolutionieren und Anknüpfen« stehen müssen. Gesucht wird: die konservative Revolution europäischer Dimension.
10.) Das europäische Feld zu besetzen, heißt, der Linken den entscheidenden Schritt voraus zu sein.
Stößt man keine neuen, innovativen Debatten über die Zukunft Europas an – sei es aus nationaler Gesinnung heraus oder weil man sich weigert,
»utopisch« zu denken –, überläßt man den Europadiskurs kampflos der politischen Linken. Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot ist dabei im linken Lager die versierteste Europadenkerin. Als solche ist sie aber auch der Prototyp einer europäischen Idealistin, die Richtiges analysiert, aber – aufgrund ihrer fehlenden Rückgebundenheit an Region, Nation und Europa als Erfahrungsräume der Heimat – Falsches folgert.
»Ihr« Europa kennt keine lokalen, regionalen, ethnischen, religiösen oder kulturellen Besonderheiten, die es als genuin europäisches Erbe zu bewahren gälte. Guérot kennt letztendlich nur den aufgeklärten, mündigen europäischen Weltbürger, der bindungslos, mithin zufällig auf dem Territorium der heutigen europäischen Staaten lebt. Diese fehlende Rückgebundenheit ist die Ursache aller weiteren Fehlschlüsse. Sie wird die linke Europavision ebenso zum Scheitern bringen wie die damit korrelierende Preisgabe der sozialen und nationalen Solidarität als Anker gesellschaftlichen Handelns. Heute ist also in vielerlei Hinsicht der richtige Zeitpunkt für eine Neujustierung europäisch-neurechten Denkens und die entsprechende Besetzung des europäischen Geländes.