Heimito von Doderer, geboren am 5. September 1896 in Weidlingau bei Wien, Österreichs berühmtester Schriftsteller trotz »Nazivergangenheit«, war ein veritabler europäischer Moralist, einer von der beobachtenden Sorte. Er starb am 23. Dezember 1966, sein Todestag jährt sich heuer zum 50. Mal. Erst im fortgeschrittenen Alter wurde er, der zuerst erfolglos Kurzprosa schrieb, mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte studierte und in Wiener Secessionskreisen verkehrte, dem deutschsprachigen Lesepublikum als der österreichische Gegenwartsautor bekannt.
In den 50er Jahren unterhielt Doderer mit Carl Schmitt und Armin Mohler Briefwechsel und war überzeugt, daß Ernst Jünger neben seinem Freund Albert Paris Gütersloh »der größte deutsche Schriftsteller überhaupt sei«. In dieser Linie läßt er sich lesen, und diese wiederum von der Moralistik her, die man seit dem 16./ 17. Jahrhunderts mit Namen wie Macchiavelli, Gracián, Montaigne, La Rochefoucauld, Rivarol verbindet. Sie ist etwas, das sehr wenig mit Moral, dagegen sehr viel mit den ›Mores‹ zu tun hat, das heißt mit den Lebens- und Seinsweisen des Menschen in ihrer »reinen, auch ›unmoralischen‹ Tatsächlichkeit« (Hugo Friedrich).
Doderer hat Zeit seines schriftstellerischen Tuns parallel Aphorismen produziert, teilweise aus seinen Romanen herauskopiert, teilweise eigens für sein alphabetisch angeordnetes Repertorium. Ein Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen von 1941 bis 1966 verfaßt. Manche seiner Figuren sprechen geradezu in Aphorismen, er zitiert auch mitunter seine Alter-ego-Protagonisten Sektionsrat Geyrenhoff, Leonhard Kakabsa, René Stangeler und Kajetan Schlaggenberg aus den Dämonen (1956), als wären sie Kollegen. Heimito (der singuläre Vorname ist eine Erfindung seiner offenbar auch mit der Kunst des Fabulierens begabten Mutter Wilhelmine, der der spanische Name »Jaime«, Koseform »Jaimito«, so gefiel, daß sie ihn eindeutschte, dem Jungen blieb der Spitzname »Heimchen«), Heimito von Doderer also (das adlige »von« war in Österreich seit Republiksgründung 1919 abgeschafft, als Künstlername jedoch zulässig, und wer wollte sich damit lieber zieren als so jemand wie Doderer, dem das Zeitaktuelle immer zuwider war?), lebte fast ausschließlich in Wien.
Er existierte in ärmlichen Verhältnissen, sein Adel nur mehr Papier- form, seine verschiedenen »Ateliers« waren spartanisch und nie von einer Frau (er war zweimal immerhin verheiratet) mitbewohnt oder mit ordnen- der Hand geschlichtet. 1916 geriet Doderer in russische Kriegsgefangenschaft und kehrte erst 1920 zurück, weil der Zug der Freigelassenen an der ukrainischen Grenze kehrtmachen mußte und zurück in andere Lager noch weiter nördlich geleitet wurde.
Doderer blieb immer klaglos, Kriegsgefangenschaft war für ihn kein Grund, sich den schnöden Zeitläuften außer durch innere Distanzierung zu widersetzen: »Mich soll alles Derartige nicht hindern, das Provisorium, in welchem wir leben, als ein Seiendes zu apperzipieren« (Tangenten, S. 333) – schrieb er 1945 in gleichermaßen mißlicher Lage. Die Jahre 1940 bis 1945 waren für das Werk Doderers ein entscheidender Abschnitt. Während er, im Alter von über 40 Jahren unfreiwillig ein zweites Mal zur Wehrmacht beordert, »im Bauch des Leviathans« durch halb Europa geschleift wurde und schließlich in Norwegen in nun britische Kriegsgefangenschaft geriet, dokumentierte er keinesfalls das Tagesgeschehen oder politische Einlassungen, sondern notierte Aphorismen, (oft autodidaktische) Reflexionen über philosophische Gedankengebäude, Charakterisierungen seiner Romanfiguren, entwarf seine Bücher buchstäblich an Reißbrettern und extrahierte daraus anthropologische Maximen.
Und er schrieb von 1931 bis 1940 unter dem für ihn erotisch-geheimen Arbeitstitel »Dicke Damen« seinen besten Roman, eine wahre »Konstruktionsmonstrosität« (Mosebach). Erst Jahre nach dem Krieg ist dieser Text als Die Dämonen (Titel und Inhalt spielen mit Dostojewskis Dämonen und »DD« – »Dicke Damen«) erschienen. In der Erstfassung nannte er ihn »Die Dämonen der Ostmark«, ausprobierend, ob man dem für Doderer lebenslang untergründig wirksamen Gegensatz von Juden und Ariern Romanform geben könnte. Eine Revision des Textes 1939 /40 führte aber schon damals zum Verwerfen dieses psychohistorischen Programms.
Was blieb, war ein hochkomplexer Wien-Roman der Zwischenkriegsjahre (Die Strudlhofstiege gehört als Prequel zum Komplex der Dämonen) mit mindestens vier Doderer-Reinkarnationen und naturalistischen Kaffeehausszenen mit »dicken Damen« (unbeschreiblich deren wohlverschnürte, duftende Körperfülle und ihr Mitteilungsdrang, sie hätten hunderte Telefone zugleich haben müssen, um ihre gesprächsweise Existenz sogleich zu verdoppeln, indes, der »Döblinger Hof« verfügte 1926 nur über zwei Telefonzellen).
Doderer als Moralist also. Es gibt in der europäischen Tradition zwei Arten von Moralisten, die »Erkenne-die-Lage- Moralisten« und die »Distinguierer«. Die ersteren formulieren Verhaltenslehren in einer agonalen Gesellschaft, pragmatische Handlungsmaximen, »Handorakel« zur schnellen Orientierung in den Niederungen der politischen Macht. Zu ihnen gehören politische Köpfe wie Macchiavelli, Gracián, Brecht, Carl Schmitt und der Doderer ebenfalls wohlbekannte Franz Blei.
»Von mir selbst habe ich nichts Ganzes aus einem Stücke, nichts Ein- faches, nichts Festes ohne Verwirrung und ohne Beimischung anzuführen, nichts, was ich in ein Wort fassen könnte. Distinguo ist das allgemeine Glied meiner Logik«, schrieb Michel de Montaigne in seinen Essais 1580. So ein Distinguierer war auch Heimito von Doderer. Der schrieb in beobachtendem Gestus 1962, die Lage wolle »appercipiert, nicht kritisiert sein; und sie wird sichtbar im Zerfall der falschen Ganzheiten. Nur wer den Mut hat, jene zerfallen zu lassen in der unvorgeordneten Apperceptivität, wird den Grund jeder Lage – im doppelten Sinne – erblicken«. (Doderer, Repertorium, »Jetzt«)
Martin Mosebach hat in dem brillanten Vortragstext Die Kunst des Bogenschießens und der Roman (2006) Doderers physische (Bogenschießen!) und seelische Haltung über dessen bei Kant geklauten Lieblings- begriff der »Apperzeption« erschlossen: »das Bereitsein, die Signale und Prägungen der Dingwelt und die aufsteigenden Bilder der Erinnerung zu empfangen.« Mehr muß ein Schriftsteller, für Doderer weit mehr als ein Beruf, eine Existenzform, nicht tun, aber dies ist eine schwere Aufgabe der Selbstzurücknahme.
»Eine in erster Linie sprachliche Katastrophe« – die Niederungen der Politik
»Es grollt im Gedärm der Stadt, Stürme ziehn vorüber, es dröhnt und trommelt, fast wie einst, dahinten in der Ferne der Jahre, damals in jenem Kriege. Das kommt vom Stollen der Untergrundbahn, welcher nahebei liegt. Man denkt vielleicht an den Krieg. Man sieht wieder den Himmel über der Frühjahrsschlacht einen Augenblick lang, die kompakt aufschießenden Erdbäumchen einschlagender Geschosse, Kegel, die auf der Spitze stehen, noch dick vom emporgerissenen Boden, körperhaft, jetzt in Brokken spritzend, im Qualm verschwebend. Du Leben. Jetzt hat man diese Anstellung.« (Doderer, Ein Mord, den jeder begeht, S. 289f.)
Das ist aus seinem zweiten Roman und – soweit ich weiß – die einzige Romanstelle seines Gesamtwerks, an der er – halb expressionistisch, halb neusachlich – explizit auf den Krieg rekurrierte. Lesern, die dem Schiffbruch des 20. Jahrhunderts von der Zuschauertribüne aus zuschauten, mußte es auffallen, daß er die Weltkriege umfuhr, als habe es sie nicht gegeben. Tagebuchstellen verfuhren ironisierend, etwa aus dem Jahre 1945: »Und jetzt sollen wir noch hintnach Notiz nehmen?« (Tangenten, 329). Er hat dem Zeitgeist nicht einmal »den kleinen Finger gereicht« (Mosebach). Ist das Escapism, wie Doderer sich selber, die öffentliche Nachkriegs-Außenperspektive probehalber ein- mal annehmend, fragte?
Franz Schuh hat einmal bemerkt, Doderers Liebe sei »die eines scharf vom Mitmenschen getrennten Individuums, das eigenmächtig einen anderen Menschen heranzieht oder abstößt«. Er hat sie abgestoßen. Seine Biographen ähneln sich darin, daß sie ihren Autor nicht mögen: Wolf- gang Fleischer war in den letzten Jahren des Schriftstellers sein junger Sekretär für Briefpost und andere Erledigungen und wurde nach Doderers Tod 1966 beschäftigungslos und ressentimentgeladen.
Das verleugnete Leben hieß dann auch seine Abrechnung mit seinem Chef, dessen Verstrickung ins Dritte Reich er penibel rekonstruierte. Von Fleischer kommt auch die Verleumdung, Doderer sei 1933 »Illegaler« gewesen, also Nationalsozialist, als die NSDAP verboten war, was durchaus unrühmlicher wäre, als bloß ein »Märzgefallener« zu sein. Und Alexandra Kleinlercher pickte sich dann gleich nur diesen Bestandteil des Lebens heraus: Zwischen Wahrheit und Dichtung. Antisemitismus und Nationalsozialismus bei Heimito von Doderer erschien 2006. Sie stellte klar, daß Doderer es geschafft hatte, genau in den zwei Monaten in die Auslandspartei einzutreten, wo diese weder verboten noch die Republik abgeschafft war, nämlich am 1. April 1933, was Doderers Biograph Klaus Nüchtern süffisant für »keinen Aprilscherz!« hielt.
Was bewog den weltfernen »Distinguierer« dazu, in die NSDAP einzutreten? Antisemitismus und Karrieregeilheit, meinen die drei Biographen. Ich habe da noch einen anderen Verdacht: Doderer hatte einen ähnlichen Humanismus ausgebildet wie seinerzeit Gottfried Benn. Wo jener die »Dorische Welt« beschwor, versuchte dieser »mit (seinem) ›konstruktiven Denken‹ eines neuen Römischen Reiches im Jahre 1933« (Tangenten, S. 472) ganz ahistorisch, wie Humanisten nun einmal sind, in die Geschichte einzutreten. Doderer war so beschaffen, daß er das wirklich glaubte, ein »Strong poet« (Harold Bloom), kein »Erkenne-die-Lage«-Moralist. Folge- richtig sah er nach der deutschen Niederlage diesen Weltuntergang auch als eine »in erster Linie sprachliche Katastrophe« (Tangenten, S. 414). Das muß erklärt werden, hält man sonst Doderer spätestens jetzt wohl für einen völlig traumtänzerischen Ästhetizisten.
Er hat bestimmte Begriffe in eine fast wittgensteinsche Privatsprache übersetzt, die mit der normalsprachlichen Bedeutung nur mehr den Ursprung gemein hat. Das »Sprachliche«, »der Schriftsteller«, »die Apperceptivität« und »die Erotik« sind seine substantiellen Existentialien. Thomas von Aquin, den er als Katechumene 1940 rezipierte – katholisch mußte Doderer auch erst noch sekundär werden, worauf er seitdem schwer bedauerte, es nicht von Kindheit an gewesen zu sein –, unterschied die Existentialien in Substantia und Accidens. Der Konvertit hielt sowohl seine eigene nationalsozialistische Phantasterei für »akzidentiell« als auch den gesamten NS für ein Verfehlen menschlicher »Substanz«, eine »Tonnenexistenz« in der »verminderten Wirklichkeit«.
Er verschrieb sich der »Apperzeption« der phänomenalen Welt in einem Grade, der ihn davor verschonte, in die Zeitläufte zu intervenieren und sich mit den Mitmenschen »gemein« zu machen (auch so eine gesteigerte Wortkadenz: »das Allgemeine« – »das All-Gemeine« – »das Gemeine«).
Doderers Konservativismus ist kein politischer, sondern ein moralistischer: »Gelassenheit« der Objektwelt gegenüber, um sie sezieren zu können bei lebendigem Leibe.
Heimito von Doderer als konservativen Schriftsteller zu vereinnahmen, ist ein unmögliches Unterfangen. Zum einen ist sein Konservativismus vor allem ein epistemologischer, »privatsprachlicher« – für ihn folgt aus der objektgemäßen Apperzeption, daß das empirisch Gegebene ihr nicht entgleiten darf, man es nicht verändern dürfe, sondern konservierend nur wahrnehmen könnte, »damit wir’s sähen, grad im aufblitzenden Scheine des Verlusts« (Repertorium, »rechts und links«). Zum anderen ist ebendiese konservierende Wahrnehmung mit keiner politischen Tendenz zusammenzubringen, weil diese sofort »Apperzeptionsverweigerungen« manifestieren, Urteile enthalten, eine »Figur« aus einem Schriftsteller machen würde. Wer’s trotzdem versucht und sich seinen Doderer als konservativen Vordenker zurechtzitiert, bleibt in den Maschen seiner feinen Textgewebe hängen. »Apperzeptionsverweigerer« sind mit Doderer nicht bloß die ihm verächtlichen linken Revolutionäre, sondern jeder, der seinen moralistischen Stoizismus der Gelassenheit nicht durchhält.
Die Strudlhofstiege, Doderers berühmtester Roman, erschienen 1951. Eva Menasse hat in diesem 50. Todesjahr Doderers Leben in Bildern klug kommentiert. Sie hält diesen Roman als Einstiegsdroge ins Werk für ganz ungeeignet, zu verwirrend, zu voraussetzungsreich. Vielleicht ist der barocke Kontrast zur Kahlschlagliteratur der Nachkriegszeit den Zeitgenossen so wohltuend erschienen, daß der Spiegel (23 /1957) auf dem Höhe- punkt seines Ruhms ein rahmensprengendes Riesendodererphoto auf dem Titel hatte, darunter »Roman vom Reißbrett«. Die Strudlhofstiege (sowohl die reale im neunten Bezirk in Wien als auch der Text) ist gefinkelt konstruiert: »Ein Werk der Erzählungskunst ist es um so mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann« (Repertorium, S. 72). Doch ist der historische Inhalt des geschilderten 20er- Jahre-Wiens von derartig überzeitlicher Reichweite, daß man davon im Kopf nicht mehr loskommt. Und nach der Lektüre der nebenstehenden Zeilen kann doch kein Empfinden der Österreicher mehr behaupten, damalige und heutige Einwanderung seien ein und dasselbe!
Die Lust am Groben
»Man sage, was man will, selbst bei der Tugend ist der letzte Zweck, den wir bezielen, Wollust. […] Diese Wollust ist dadurch, daß sie lebhaft, nervigt, stark und männlich ist, nur um so wollüstiger. Und ihr sollten wir den Namen des angenehmsten, süßesten und natürlichsten Vergnügens geben, nicht dem Vergnügen der Kraft der Gesundheit, wofür wir es gebrauchen.« (Montaigne: Essais, S. 7 f.).
Heimito von Doderer als Wollüstling in diesem Sinne zu sehen, kommt ihm vielleicht recht nahe. Seine Romane sind durchzogen vom Erotischen, durchaus auch Perversen, jedenfalls entschieden Männlichen. Das Männliche ist grob, aber keinesfalls niedrig, und läßt sich im Zweifelsfalle in daniilcharmanter »Sexualgroteske« (Max Goldt) auffangen.
Die Merowinger oder Die totale Familie (1962) ist ein grober Streich: Childerich III., der letzte der Merowinger, Jahrgang wie Doderer 1896, strotzt vor Kraft und dem hanebüchenen Plan, alle Glieder der Adelsfamilie von Bartenbruch in seiner eigenen Person zu verkörpern. Dazu muß er erst einmal einige Gattinnen erledigen, niemals justitiabel, eher durch Kraft seiner Lenden und deren Dekadenz, legt sich alle Barttrachten der verblichenen Männer seines Geschlechts nach und nach zu, um schließlich doch beim Psychologen Prof. Horn sonderbaren Heilkuren (Herumführen an der »Nasenzange«, »Wuthäuslein«) unterzogen werden zu müssen, um seine hypervirilen Wutausbrüche abmildern zu lassen. Er zeugt, brüllt und schlägt sich durchs Leben. Diesen Typus nicht zu psychologisieren, ist in der Liebessemantik des angehenden 20. Jahrhunderts in Wien schlechterdings unmöglich. Doderer gelingt es, indem er – wie schon zuvor in Ein Mord, den jeder begeht – allenthalben einstreut, wie man das zu Beschreibende jetzt in psychologischer Fachsprache bezeichnen würde, dies auch mit einem Wort tut, um danach, mit völlig anderen Worten ansetzend, das Phänomen neu zu beschreiben.
»Den Merowinger jedoch ergriff ein dunkler Paroxysmus, welcher über seine ohnehin schon etwas stürmische Auffassung vom Eheleben noch hinausging. […] Der Knebelbart, welchen er, seinen Großvater nicht nur ehelich, sondern auch bärtlich beerbend, nunmehr sich wachsen ließ, war nur das erste sichtbare Zeichen neu eröffneter Ausblicke und eines gewaltig sich erhebenden Selbstbewußtseins, welches nun wie ein hochgeschwungenes Brückenjoch über die erniedrigenden Erinnerungen der Jugend hinweg zu führen versprach.« Merowinger, S.40
Solches hochgeschwungene Brückenjoch stand Doderer selbst kaum einmal zur Verfügung, entsprechend skrupulös war sein Selbstbewußtsein, schwankte zwischen bartenbruchschen Wutanfällen, selbstherrlicher Schriftstellerarroganz (er hatte vorgedruckte Postkarten, mit denen er ein- gegangene Fanpost, die Schreibfehler enthielt, abkanzelte) sowie hirnzermarternden Gedanken über seine sexuellen Vorlieben (per Inserat suchte er nach »korpulenten Israelitinnen«, die er mit der Samtpeitsche zu traktieren gedachte) und über seine Untauglichkeit zu Familie überhaupt: Wer sich in Familie begäbe, käme darin nur um. Childerich III. wird, statt die »totale Familie« zu errichten, triumphal von seinem karolingischen Hausmeier und einem hinzugerufenen medizinischen Mob rasiert und entmannt.
Außergewöhnlich feinsinnig in der Wahrnehmung und Beschreibungssprache, außergewöhnlich grob und semper paratus im Physischen – Doderers Habitus könnte sich fünfzig Jahre später als unkompromittierbar gegenwartstauglich entpuppen. Nicht jeder von Doderers engeren Mitmenschen hat ihn indes ertragen können. Sein bewunderter Guru Albert Paris Gütersloh, Wiener Architekt und Secessionskünstler, mußte über- haupt den ganzen Doderer ertragen, den er als selbsternannten »Schüler« tief verachtete. Der aber verehrte Gütersloh unbeirrt weiter und zitierte jede geistvolle Sentenz.
Doderers erste (jüdische) Frau Gusti Hasterlik mußte wütende antisemitische Tiraden aushalten. Die Biographin Kleinlercher verwunderte sich darüber, wie der Schriftsteller denn bloß Antisemit hatte bleiben können, habe er doch anhand seiner Ehefrau erfahren dürfen, daß Juden in Wirklichkeit so schlimm nicht seien. Mancher ist Antisemit aus Ahnungslosigkeit, mancher aus Erfahrung. Heimito von Doderers Lobpreis des Schlagens und der Unbezwingbarkeit der menschlichen Natur ist bewußt antihumanistisch, wer dies beklagt, hat Doderers Metaphern nicht verstanden, und dafür setzt es, wie er im Repertorium feststellt, »Schläge auf den Kopf«.
Wiederverzauberung der Welt
Die Rede von »zauberhafter Beobachtung« kann man unterschiedlich verstehen. So, daß er einfach hinreißend beobachtet. So, daß er beim Beobachten seine Objekte verzaubert. »Ergriffenheit« ist eines der Zauberworte, die Doderer vielschichtig verwendete, auch sein Antisemitismus bestand hauptsächlich darin, daß die Juden sich durch einen wesentlichen »Mangel an Ergriffenheit« auszeichneten, allerdings zieh er auch die Deutschen einer »Abgestorbenheit des unbewußten Denkens, ohne Ergriffenheit« schreibe und lebe dieses Volk. Nur ergriffen kann man zaubern. Heimito von Doderer glaubte wirklich, daß es Drachen gebe, Theorien dazu holte er sich archivarisch kramend heran, aber er war sich dessen so unvordenklich sicher, wie dies nur ein Magier sein kann. Das letzte Abenteuer (1953), eine historisierende Kurzerzählung, zeugt davon.
Ich verzaubere jetzt natürlich mein Objekt des Porträts, statt es zu denkonstruieren. »Beobachtung« hat kalt und sachlich zu geschehen, zauberhafte Beobachtung ist ein Widerspruch in sich. »Wir müssen schon ein bißchen kalt, distanziert, konfisziert sein, sonst sieht man unsere Eingeweide, wie bei einem Kaulquapp.« (Repertorium, »Bierehrlichkeit«).
Der »Kaulquapp« war eine von Doderers seltsamen Metaphern, in der Aussehen (die »schrägen Augen« tragen nicht nur er selbst, sondern auch Kajetan Schlaggenberg und seine Schwester, die daher den Spitznamen »Quapp« bekommt) und Charakter eingefangen werden (das Durchscheinende, der Apperceptivität zugängliche, das allzu Offene vieler sei- ner Romangestalten, dazu das Unfertige, Larvenhafte). Der Kaulquapp ist womöglich eine rezente Schrumpfform des Drachens.