Also, irgendwo ist das total spannend. – Auf irgendeine Weise hab ich das Gefühl, daß … – Ich weiß nicht. Für mein Empfinden… – Ja, hört sich okay an, ich spüre irgendwie, daß du das Richtige meinst. – Hm. Ich muß mal in mich gehen, da ist so ein gewisser emotionaler Zwiespalt … Seit wann ist diese Art Emosprache eigentlich en vogue? Schon länger, oder? Das gefühlszentrierte Reden und Werten scheint ein Relikt der klassischen 68er zu sein. In den achtziger Jahren (in meiner Kindheit also) hatte es sich in gewissen Kreisen meines Umfelds durchgesetzt: Gemeinde, Offener Kanal, diverse Bürgerinitiativen. Von Gefühlen zu reden im nicht-intimen Umfeld: Das war ein Jargon, der damals eingrenzbar war auf Milieus.
Etwa um die Jahrtausendwende herum erwuchs dann ein Genre der Popkultur, das unter der Kategorie »Emo« geführt wurde, weil die entsprechenden Musikkapellen (Punk und Hardcore, also eine »krasse«, harte Spielart bevorzugend) sich dezidiert gefühlsbetonter Textualität widmeten. »Emo« galt als links, wurde gehört von Jungmännern mit Kajalaugen und Mädchen mit kleineren psychischen Problemen.
Heute ist Emo-Sprech Mainstream. Wo das Zeitalter des Individuums seinen Zenit überschritten hat, muß man mit Distinktionsmerkmalen prunken, die entweder außengerichtet (Kindernamentattoos etc.) sein können oder sich auf eine Art innerste Innerlichkeit beziehen. Im Emoduktus gefragt: Was macht das mit uns? Wie fühlt es sich an?
Aus der ganz persönlichen Gefühlskiste: An einem Tag im späten Sommer häufte es sich. Wir waren gerade aus unserem Kurzurlaub zurückgekehrt. Zu unseren Reisegepflogenheiten gehört, daß wir uns – der Beifahrer dem Fahrer – vorlesen, nämlich ein schönes Stück Literatur. Ich hatte Guter Mann im Mittelfeld ausgesucht, das Romandebüt des rumänischen Neuschweizers Andrei Mihailescu. Das Buch gefiel uns zunächst sehr: Ein artiger, nur »zwischen den Zeilen« kritischer Journalist gerät im Rumänien des Jahres 1980 ins Visier der Securitate. Er wird verraten, gedemütigt, gefoltert. Nebenbei, so kann es kommen, bahnt sich eine Liebesgeschichte an. Der Journalist verguckt sich in die Gattin eines Spitzenkaders und vice versa. Auf unserer Fahrt durch Böhmen absolvierten wir vorlesend zwei Drittel des Buches. Am ersten Abend zu Hause verabschiedete sich Kubitschek zeitig zur Nacht. Er wollte den Mihailescu solo beenden.
Es ergab sich am Folgemorgen, daß ich früh erwachte und ebenfalls den Guten Mann auslas. Frühdialog um halb sieben: »Na, gut geschlafen?« – »Fühlt sich müde an. Und selbst?« – »Fühlt sich ausgeschlafen an.« Haha, versetzte Parallellektüre! Daß ein Roman zum Ende hin kippt, ist ein häufig beobachtetes Phänomen. Der Bewertungsabfall manifestierte sich hier an dieser auf den letzten hundert Seiten inflationär gebrauchten Emo-Formel »es fühlte sich an«: »Zwei weitere Wochen lang wehrte Raluca ab, bis es sich nicht mehr richtig anfühlte«, usw. usf. Ein Gefühl schreibend haptisch werden zu lassen, das ist Kunst. Ein Gefühl gefühlig zu benennen: wie mau. Und auch, man verzeihe mir diese geschlechtspolitisch unsolidarische Haltung: wie weibisch! Wir alle fühlen. Männer sublimieren. Frauen verbalisieren. Der verbalisierende Mann: ein Schwätzer, kein Täter. Man kann das mögen. »Ausdiskutieren« ist natürlich charmanter als »Fakten schaffen«. Man muß es wohl mögen.
Am Nachmittag, gerade zu Hause angekommen: Halbjahresanruf eines Bekannten. Small talk. Ja, auch unsere Jüngste ist nun Schulkind! Er:
»Wie fühlt sich das für dich an?« Ich stutze. Der Mann ist seit achtzehn Jahren beim Heer, Kampfeinsätze inklusive. Und nun Couchgespräche? Habe ich überhaupt »Gefühle« bezüglich des Schuleintritts der Kleinen? Eigentlich kaum. Verdränge ich sie womöglich? Sollte ich »in mich horchen«? Letztlich entscheide ich mich, davon auszugehen, daß der Wortlaut der Frage einer modischen Konvention folgte. Floskeln sind Zeitgeist und nicht Ausdruck des Allerinnersten.
Weiter. Abendliche Familienfahrt an den Badesee. Im Autoradio: der Schlager »Bauch und Kopf«. Das Lied des Popsängers Mark Forster hielt sich 2015 / 16 ganze 24 Wochen in den Charts. Meine Kinder singen ironisch mit: »Ich hab immer was vor, bin immer verplant, doch wird’s mal still um mich, dann komm’n die Geister hoch und ich hinterfrag mich jedesmal. So wie du glaubst, so wie du lebst, und das ist ok, solang’s für dich paßt, halt daran fest, für mich gilt das nicht. Bauch sagt zu Kopf ja, doch Kopf sagt zu Bauch nein, und zwischen den beiden steh ich.«
Wieder: Ein Mann performt Psychosprache, kehrt sein allzumenschlich Inneres nach Außen. Über Liebe, Verliebtsein und Kummer hat man schon immer gesungen. Neu ist dieser banal-reflektierende Duktus, gerade im Pop. »Sich hinterfragen«, »ok, wenn’s für dich paßt«: So sprachen früher zottelige Liegeradfahrer und Männergruppenteilnehmer. Für cool galt das bislang nie. Ich jedenfalls fühle mich gefühlsmäßig bedrängt, ein Gänsehautgefühl der schlechten Art. Mit den vor ein paar Jahren modisch gewordenen sanften »lieben Grüßen« am Ende einer Mail komme ich mittlerweile zurecht. Die Frage oder Auskunft über das »sich anfühlen« ist für mich jedoch ein Zu-nahe-Treten. Ja, das ist es! Sie erinnert mich an jene Typen, die die abendländisch üblichen Distanzzonen in der Kommunikation nicht einhalten und einem redend auf die Pelle rücken. Man will höflich sein, rückt instinktiv aber ab.
Am Ende jenes Tages dann ereilt mich eine Rundmail der als superhart geltenden Rocktruppe Frei.Wild. Sie wollen aufhören. Abschiedswortlaut: »Wir suchten keinen Bogen um non-konforme Themen, stellten uns auch ohne Bock darauf den immer wiederkehrenden Fragen und möchten auch in Zukunft diese eine Band sein, die ihren Weg einzig und allein nach ihrem Willen und eigenem Gefühl geht. […] Man kann uns hassen, man kann uns lieben, das wissen wir, von dem her entscheidet selbst, wir kommen mit beidem zurecht. Alles andere würde sich in unserem Fall einfach nicht echt anfühlen.« Soviel Gefühl, soviel »Anfühlung« an einem einzigen Tag! Und, man beachte, stets aus Männerwarte!
Die Anfühler sind unter uns. Das wiederum – fühlt sich seltsam an. Mehrfach und im Doppelsinne komisch ist ja dies: Daß manche private Beklemmungsgefühle (Ängste, Schwermut, Eifersucht, aber auch mutmaßliche Diskriminierungen aufgrund von Ethnie, Religion, Alter, Ge- schlecht) als schwerwiegende und öffentlich zu verhandelnde Beeinträchtigungen wahrgenommen werden, wohingegen andere sogenannte Bauchgefühle (fremd zu werden im eigenen Land, die Gegenwart als unsichere Zeit wahrzunehmen, medial infiltriert zu werden) als Phobien und Irrationalitäten pathologisiert werden oder als politische Verirrung gelten. Die Gefühlspädagogik greift heute früh. Wir Plus-Dreißiger sind mit dem Gebot aufgewachsen, daß der olle Sinnspruch »Jungs weinen nicht« von vorgestern sei (The Cure als Pioniere aller Emokapellen, 1979: »Boys don’t cry«), ein überholtes Gebot autoritärer Jahrhunderte. Das heutige lautet hingegen: Zeigt Gefühle! Weint, trotzt, hadert, alles ist okay! Laßt es zu! Nimm wahr! Geh in dich! Spüre deinem Impuls nach! Dem richtigen und opportunen, versteht sich. Nicht umsonst heißt der Imperativ, auch wenn es um Emoverben geht, auf deutsch: Befehlsform. Wir sollen fühlen, aber bitte das Richtige.
Ein Megaerfolg war 2015 der US-amerikanische Pixar-Kinofilm Alles steht Kopf. Er wurde in Deutschland mit dem Prädikat »besonders wertvoll« versehen. Hier treten die Basisemotionen der erst kindlichen, dann pubertierenden Hauptperson Riley personifiziert auf: Freude, Kummer, Angst, Wut und Ekel. Dahin geht der Trend: Dem eigenen, oft komple- xen Seelenleben nicht als Ganzheit zu begegnen, sondern einzelne Emotionen zu identifizieren, zu benennen und zu segmentieren. In Deutschland finden Bücher wie Weinen, lachen, wütend sein. Dafür bin ich nicht zu klein!, die Bildkarten: Gefühle oder die KiTa-Projektmappe Meine Ge- fühle – Deine Gefühle regen Zuspruch. In der Grundschule zählt die softe Sequenz »Was mir guttut« zu den Lernzielen, und an die Stelle der harten Noten sind Lachgesichter getreten. Was wäre eigentlich mit dem Kind, das »nichts Besonderes« fühlt, weil alles irgendwie »normal« ist, einfach, weil sämtliche Emotionen bestens integriert sind ins kindliche Sein? Ist es gefühlstaub? Wird es aufgrund seiner infantilen Unfähigkeit, eigene Gefühle zu parzellieren und zu klassifizieren, zum Frauenschläger oder zur Borderlinerin? Oder: Ist es vielleicht gerade umgekehrt?
In den letzten Jahrzehnten ist die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen deutlich angestiegen: in den letzten elf Jahren um mehr als 97 Prozent. Im Jahr 2012 wurden bundesweit 60 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage wegen psychischer Erkrankungen registriert. Seit ein paar Jahren sind Redewendungen, die mit dem Attribut
»gefühlte …« operieren, modisch geworden. Das schlägt sich nicht nur im offiziösen Wetterbericht (»fünf Grad, gefühlt: zwei Grad«) nieder, son- dern auch in flapsigen Feuilletonredewendungen: »Gefühlte hundert Anrufversuche später …« – dabei waren es in Wahrheit nur elf. Der nervöse Mensch des postfaktischen Zeitalters legt gern noch eine Schippe drauf, wenn es gilt, seinen Hader zu verdeutlichen.
Natürlich kann man leicht feststellen, daß die Modewendung »sich anfühlen« ein zur Redewendung geronnener Anglizismus ist. »Feels like«,
»a sense of« – das ist im angloamerikanischen Sprachraum seit langem gang und gäbe. Apropos: Sagt man nicht, »talk smart, act hard« sei Teil des angelsächischen Selbstverständnisses? Eine gewisse performative Lücke zwischen Gefühlssprache und Handlungsimpulsen mag es auch hierzulande geben. Man kennt das beispielsweise gut von männlichen Feministen, die soft reden, aber überaus traditionelle Beziehungen pflegen.
Typen, die gefühlsselig Frauenquoten fordern, Gender gaps beklagen und dabei gleichzeitig eine weitgehend kinderunbelastete Existenz frönen, sind Legion! Über den Zusammenhang von Sprache, Erkenntnis und Hand- lungsmustern haben sich seit Wilhelm von Humboldt, Walter Benjamin und den in Germanistenkreisen berüchtigten Sprachwissenschaftlern Benjamin Whorf und Edward Sapir Generationen von Linguisten abgearbeitet. Oder denken wir nur an George Orwells Neusprech im dystopischen Roman 1984, wo Sprache und Gefühle so reglementiert werden, daß ein Aufstand gegen die herrschende Klasse schon deshalb undenkbar ist, weil die Worte für ein Dagegen-Sein fehlen! Wer sagt eigentlich, daß »Gefühle« von »ganz innen« kommen müssen? Was, wenn sie oktroyiert wären? Als Gefühls-Must? Als Moden, denen man sich schwerlich entziehen kann?
Das Gefühl, das mit unseren modernen Gefühlspraktiken und ‑äußerungen assoziiert ist, wurzelt im alten Wort »Gemüt«. Heute sagt man »Bauchgefühl«, wohl, um es vom somatischen Fühlen/ Tasten (ein Gegen- stand fühlt sich kalt, warm, weich etc. an) abzugrenzen. Platon hatte in seiner Seelenkunde das Gemüt (Thymos) vom Trieb unterschieden. Spätere Philosophen – und ab dem 19. Jahrhundert Psychologen – assoziierten mit »Gefühl« Begriffe wie Stimmung, Emotion, Affekt, Intuition oder moralisches Bewußtsein.
Die sich aufdrängenden beiden Fragen sind, erstens, inwieweit das »Fühlen«, »Sich-Fühlen« und »Anfühlen« heute als subjektive, irrationale, ureigene und damit »echte« Vorgänge zu bewerten sind. Sind nicht gerade Gefühle lenk- und steuerbar? Gibt es »sekundäre«, also von außen nahegelegte Gefühle, die innerhalb eines Sozialisationsraums und Wertesystems kultiviert werden? Beruht das »Gefühl« auf unserem eigenen Urteil? Die Stichworte dazu lauten Psychopolitik und Gefühlsautobahn. Und zweitens: Woher rührt überhaupt die neue Macht des Gefühls?
Eines ist unstrittig: Die Praxis und das Postulat, (bestimmte) »Gefühle zuzulassen«, sind Wohlstandsphänomene. Sie gehören geradezu zwangsläufig in eine sozial und medizinisch abfederte, sedierte und saturierte Welt. Augenfälliges Beispiel: Als einer der schlimmsten denkbaren Schicksalsschläge dürfte heute der Verlust eines eigenen Kindes gelten. Eltern mit diesem bitteren Los finden sich heute in Selbsthilfegruppen und in Psychosprechstunden, oft laborieren sie ihr Leben lang an diesem Trauma. Nur der allergröbste Klotz würde es wagen, dies als Überempfindlichkeit zu charakterisieren. Heute sterben in Deutschland etwa fünf von 1000 Lebendgeborenen im ersten Jahr.
Unter den Menschen der Steinzeit erreichte etwa die Hälfte der Kinder nicht das Pubertätsalter – eine Quote, die sich bis weit in das Mittelalter hinein hielt. Mit der Industrialisie- rung verringerte sich die kindliche Mortalität. Um 1870 verstarb etwa ein Viertel vor dem Jugendalter. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts sank die Sterberate auf unter zehn Prozent – bis zu den 0,5 Prozent, die heute als traurige Einzel- und Sonderfälle gelten. (Interessant, dies nebenbei, ist, daß die Säuglingssterblichkeit unter Migrantenkindern in Deutschland fast doppelt so hoch ist!) Das heißt: Was heute als zutiefst erschütterndes, geradezu skandalöses Unglück gilt, war über Jahrtausende die Normalität, also ein Schicksal, mit dem klarzukommen war. Es stand dafür keine Schlagzeile zur Verfügung.
Wenn von den fünf Kindern, die eine Frau bis vor 150 Jahren im Durchschnitt zur Welt brachte, sämtliche das Heiratsalter erreichten, war dies ein seltener Glücksfall. Kindstod war ein Ein- schnitt, kein Einbruch. Heute bricht man weit früher zusammen: Druck in der Arbeitswelt, mangelnde Anerkennung, Schlußmachen per Mail, ein falsches Wort. Unsere Seelenlage ist eine enorm verfeinerte, gemessen an sämtlichen vorangegangenen Jahrhunderten.
Ein Kennzeichen unserer hyperaufgeklärten Welt ist, daß wir nicht mehr hinnehmen. Wir hinterfragen alles. Eine Art Normgefühl zu allen Widerfahrnissen des alltäglichen Lebens ist uns allen bekannt – dem Handwerker wie dem Akademiker. Vermittelt wird es nicht mehr durch die Zehn Gebote oder die Autorität eines Lehrers/ Vaters/ Mentors, son- dern durch Freundeskreise und vor allem durch die Medien. Wir wissen, was »man« »gemeinhin« über zeitgenössische Kindererziehung denkt, über Eßgewohnheiten, über das Nationalgefühl, über Treue, über Schuhwerk und Hautpflege.
Auf dem ominösen »man« lastet jedoch ein schweres Gewicht. Denn die Multioptionalität des Internets bietet keinen sicheren Halt. Im Gegenteil! »Die einen sagen so, die anderen sagen so, wie willste wissen, was nu gültig ist?« (Gerhard, Fliesenleger, Kneipengespräch) Eine Verletzung des normierten Gefühls kann sowohl dann auftreten, wenn wir anders fühlen, als es unser Umfeld als »normal« nahelegt, als auch dann, wenn unser Umfeld auf uns anders reagiert, als es die medial vermittelte Norm für wahrscheinlich und typisch erklärt. Es scheint, daß es nicht mehr eine Vielzahl an Gefühlsfacetten gibt, sondern zwei Waagschalen. Wer zur Causa X soundso fühlt, denkt, empfindet, gehört zu »denen«, also zu den »anderen«, oder zu »uns«. Nur, wer hat diese Waage geeicht? Gott und seine Zehn Gebote? »Die Medien«? Der gesunde Menschenverstand? Die »Weltregierung«? Gefühlsmäßig ist diese unsere Gesellschaft stark fragmentiert. Um im Jargon zu blieben: »Das tut nicht gut!«
Unsere Gefühlssensoren blinken Alarm, ohne daß Kinder massen- haft sterben, Kriege ihren Tribut fordern oder Seuchen wüten. Der no- torische »Riß durch die Gesellschaft« ist kein sozioökonomischer, erst recht kein ethnischer: Er ist ein gefühlter. Das Phänomen der »Hypersensibilität« geistert etwa seit der Jahrtausendwende durch Hirnforschung und Medien. In früheren Zeiten mußte man sich dieses hochsensible Dasein leisten oder es jedenfalls bezahlen können – denken wir an Virginia Woolfe, Sylvia Plath, Unica Zürn, an Adalbert Stifter, Heinrich von Kleist oder Georg Trakl. Wer leidet heute wie diese? Wer lebt heute seine Befindlichkeitsstörungen durch Gedichte, Protest, Aufschrei und illegale Mittel aus?
Heute haben wir hingegen doppelblind randomisierte Chemikalien. Schauen wir uns die am meisten verordneten Medikamente dieser Jahre an: Ganz oben, nur grob durchbrochen von Herz-Kreislaufmitteln, rangieren die Schmerzarzneien. Diclofenac, Ibuprofen und andere: Wir Deutschen leiden unter vielerlei somatischem Schmerz! Auch dies berührt das Gefühl. An »Bauch-« oder »Kopfschmerzen« zu leiden, welch Vieldeutigkeit! Nicht von ungefähr sind psychosomatische Symptome heute Legion. Viel stärker noch als durch Schmerzantidote werden unangenehme Gefühle von Psychopharmaka eingedämmt.
Etwa 22 Millionen Tagesdosen klassischer Antidepressiva werden jährlich Frauen verschrieben. Bei Männern sind es acht Millionen. Tranquilizer (Beruhigungsmittel) werden in acht Millionen Tagesdosen Frauen per Rezept ausgehändigt, drei Millionen an deutsche Männer. Bei den gegen Melancholie verordneten Serotoninwiederaufnahmehemmern sind es 25 Millionen Tagesdosen an weibliche Adressaten und neun Millionen an männliche. Frauen scheinen anfälliger zu sein für »schlechte Gefühle«, und zwar so deutlich, daß es jeder Genderwissenschaft hohnspricht. Es gibt ein empfindsames Geschlecht!
Nur: Die Männer holen auf. Die ZEIT schrieb im August 2016:
»Zwischen 2009 und 2014 hat die Zahl der Frauen, die in Deutschland einen Psychotherapeuten aufsuchten, um etwa zwölf Prozent zugenommen – die Zahl der Männer im gleichen Zeitraum aber um 20 Prozent: Rechnet man all die Coaching-Angebote hinzu, die gerade von Männern ausgiebig genutzt werden – einem Geschäftsfeld ohne verläßliche Zahlen, aber mit fließenden Übergängen zur Psychotherapie –, dann müßten wir bald umringt sein von therapierten Männern.«
Wenn einer grimmig ausschaute, ein Mann oder ein Hund, sagte man, falls man zu mildem Spott aufgelegt war: »Ach! Der will nur spielen!« Heute sollte es heißen, angesichts all dieser Typen mit assoziationsreichen Tätowierungen bis zu den Fußsohlen und durchstochenen Hautteilen: »Ach. Der will nur fühlen.« Nun könnte man meinen, das Gefühl der Massen wabere planlos demokratisiert vor sich hin. Mitnichten. All diese ungefähren Gefühle richten sich aus wie Feilspäne auf einen Magneten. Gerade in unserer Gesellschaft, die das »Normative«, die guten Sitten, die Tradition, einen »Volkskörper« abgrundtief zu verabscheuen vorgibt, setzt die Gefühlspolitik auf totale Vereinheitlichung. Die mediale Konsensmaschine setzt machtvoll darauf, gefühlstrunkene Homogenität (»Wir! Schaffen das!«) als Resultat obsiegender Herrschaftsprinzipien widerzuspiegeln. Man hat somit die deutsche Romantik der deutschen Aufklärung eingemeindet. Und das ist schon ein Kunststück. Abstrakte, moderne Kunst, wie kaputt.