»Die AfD ist eine Partei, die die Gesellschaft nicht zusammenführt, sondern Vorurteile schürt und spaltet.« Mit diesen mahnenden Worten versuchte Angela Merkel in einem mit Bild am Sonntag im Frühjahr 2016 geführten Interview, dem in der Bundesrepublik vorgehenden Wandel des Meinungsbildes entgegenzusteuern. Eindringlich appellierte sie an das gute Gewissen der Bundesbürger, nicht mit dem Störenfried zu paktieren. Nun ist diese Zeitung nicht das Medium, in dem eine detaillierte Analyse der Vorgänge, wie sie die Bundesrepublik seit geraumer Zeit durchlebt, zu erwarten ist. Eine Gesellschaft läßt sich bekanntlich nicht polarisieren, ohne daß zuvor ein Auslöser die vormals stabilen Zustände ins Wanken gebracht hätte. Die eigentlich interessante Frage ist die nach den Umständen, die dazu geführt haben, daß eine Partei wie die AfD angeblich imstande ist, die Gesellschaft zu spalten. Befindet sich die Bundesrepublik tatsächlich auf dem Weg in eine polarisierte Gesellschaft? Und wenn ja: Welche Faktoren bestimmen die Verhaltensmuster der Bundesdeutschen?
Seit Thorstein Veblen, spätestens aber mit Antonio Gramsci kommt eine solche Analyse nicht umhin, der in einer Gesellschaft vorherrschen- den Weltsicht oder Denkgewohnheit eine entscheidende Rolle zuzuschreiben. Denn indem internalisierte Normen die Vielfalt der Sinneseindrücke und Informationen sortieren, wird die umgebende Welt interpretiert und konstruiert. Werden diese Denkmuster von den Mitgliedern eines sozialen Verbandes geteilt, ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für das Bestehen von Institutionen gegeben. »Die Art und Weise, wie sich Institutionen entwickeln, spiegelt das fortlaufende System der Überzeugungen der Ge- sellschaftsmitglieder wider«, stellte entsprechend der vor zwei Jahren verstorbene Wirtschaftshistoriker und Nobelpreisträger Douglass North fest.
Das vorherrschende System der Weltsicht interpretiert oder schafft jedoch nicht nur »Realität«, sondern wird auch von ihr geprägt, indem es Feedback durch neue Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der »Realität« erhält. Wird die ursprüngliche Weltsicht durch das Feedback bestätigt, ist ein selbstverstärkender Prozeß im Gange. Die Rückkopplungen sorgen dann dafür, daß »Realität« und Weltsicht einander stabilisieren und sich – im Normalfall – in kleinen Schritten koevolutionär entwickeln. Die Gesellschaft befindet sich dann im Gleichgewicht, und die Institutionen üben ihre Entlastungsfunktion aus. Dagegen kommt es zu einem Bruch, wenn die herrschende Weltsicht dauerhaft nicht in der Lage ist, mit den Herausforderungen der krisenbehafteten sozialen und physischen Umwelt umzugehen und dies auch von den Gesellschaftsmitgliedern so wahrgenommen wird. Dieses Versagen führt zu politischen oder ökonomischen Instabilitäten und möglicherweise zu einer abrupten Ablösung der alten Weltsicht durch eine neue. Die diskontinuierliche Änderung der Weltsicht gleicht dann einer »Umschreibung des Wissens« (North).
Vor diesem Hintergrund bietet sich folgende mögliche Lesart des Risses durch die Gesellschaft an: Der Flüchtlingsansturm übt seit über anderthalb Jahren einen externen Druck auf die »Realität« der Bundesdeutschen aus. Durch die Intensität dieses Drucks veränderte sich ihre Umwelt so deutlich, daß sich – insbesondere nach dem Abklingen der Willkommenseuphorie – in relevanten Teilen der Bevölkerung kognitive Dissonanz breitmacht.
Eine solche allgemeine Dissonanz erhöht die Rechtfertigungskosten der alten Normen und sozialen Verhaltensweisen und damit letztendlich der alten vorherrschenden Weltsicht. Die Weltsicht der Weltoffenheit wird als nicht mehr adäquat für die gegenwärtige »soziale Realität« und deren Probleme wahrgenommen. Institutionen, die zuvor als nichthinterfragbar galten, beginnen zu bröckeln; Verläßlichkeit und Vertrautheit gehen verloren; die öffentliche Sicherheit gilt als gestört. Spätestens mit der Aussage, die Grenzen ließen sich nicht schützen, war das zwischen Schutz und Gehorsam bestehende Band zerschnitten.
Die Bundesbürger halten es mittlerweile für möglich, ihren Schutz durch Bürgerwehren und andere Initiativen selbst in die Hand zu nehmen. Auch wenn es (noch) an quantitativen Untersuchungen der Instabilität fehlt, kann die Lage im Land fraglos als deutliches Anzeichen einer zunehmenden Kluft zwischen der – durch die »Realität« geprägten – öffentlichen Stimmung und der »reinen« Weltsicht der multikulturellen Gesellschaft gedeutet werden.
Ob die öffentliche Stimmung innerhalb der Bundesrepublik tatsächlich so kippt, daß sich die Gesellschaft zu zwei Gruppen polarisiert, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Eine wesentliche Rolle spielt das Verhalten der an der Macht befindlichen politischen Entscheidungsträger. Ihr Anliegen ist es, gesellschaftliche Stabilität wiederherzustellen, ohne ihre mentale und dingliche Machtbasis zu verlieren. Um mit der »Realität« Schritt zu halten, wäre eine lernfähige, nicht dogmatisch verengte Weltsicht von Nöten.
Durch sie könnten Probleme erkannt und Anpassungen ermöglicht werden. Dies ist bekanntermaßen in Reihen der bundesdeutschen Machteliten weniger der Fall. Vielmehr wischten sie zunächst in Gestalt »ideologischer Puristen« den Hinweis auf die Konflikte und Probleme, die eine durch die Flüchtlingswellen übersteigerte multikulturelle Gesellschaft hervorbringt, als störend beiseite und widersetzten sich einer realitätskompatiblen Änderung der Wertestruktur mit allen möglichen Mitteln moralisch-medialer und rechtlicher Art. Dies verhinderte jedoch den Aufstieg des bundesdeutschen Widerstandsmilieus nicht – meßbar an den Wahlerfolgen der AfD.
Man kann daher seit einiger Zeit eine vorsichtige Kurskorrektur beobachten. Den Entscheidungsträgern scheint bewußt geworden zu sein, daß »Elite-Intransigenz« (Chalmers Johnson) keine geeignete Strategie ist, um auf die veränderte »Realität« zu reagieren. Sie haben sich nun dem zugewandt, was man in Anlehnung an Gramsci »passive Revolution« nen- nen kann, das heißt, sie gehen auf die oppositionelle Bewegung ein Stück weit zu und sind zu gewissen Zugeständnissen bereit, indem sie bestimmte Forderungen aufnehmen, ohne allerdings davon den Kern ihrer – auch mentalen – Macht berühren zu lassen. Für die an der Macht befindlichen Entscheidungsträger als auch die oppositionelle Bewegung ist eine passive Revolution nicht unproblematisch. Inhaltliche Forderungen nach Reduzierung des Flüchtlingsstroms und schnellerer Ausweisung werden Teil des Programmkatalogs des Establishments, ohne grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel.
Inwieweit dieser Strategie Erfolg beschieden ist, hängt auch davon ab, ob es der oppositionellen Bewegung gelingt, eine alternative Weltsicht zu der bisher in der Gesellschaft dominierenden zu verankern, die einerseits vom Etablierten abgrenzbar ist, andererseits aber auch einen so hohen Allgemeinheitsgrad besitzt, daß sich unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen sie zu eigen machen können. Sie muß den Riß zum Etablierten und zu dessen Vertretern vertiefen und gleichzeitig in der Lage sein, die bestehende Dissonanz abzubauen. Akteure, die alternative Sichtweisen vorbringen, haben ohne Frage eine bessere Ausgangslage als in Zeiten, in denen der selbstverstärkende Prozeß im Gange war. Blickt man auf die vom Soziologe John L. Campbell identifizierten Ebenen, auf denen Ideen wirken müssen, damit sie im politischen Entscheidungsprozeß wirksam plaziert werden können, wird dies deutlich.
Nach Campbell müssen Ideen zum einen in ein möglichst eingängiges und leichtverdauliches »Programm« überführbar sein, damit sie erfolgreich im politischen Prozeß verarbeitet werden können. Es ist eine Art Popularisierung der Ideen gefragt, welche sich aber weniger an das Volk als vielmehr an die Politiker, denen sie verkauft werden sollen, richtet. Mit der AfD ist – wie bereits mehrfach in Sezession thematisiert – zweifelsfrei ein Adressat für alternative Ideen entstanden. Allerdings ist die Partei sich über ihren weiteren Kurs noch im unklaren. Einzelne Mitglieder haben sich zwar eindeutig positioniert, zur Bildung einer breiten gesellschaftlichen Basis zur Umsetzung alternativer Ideen reicht dies aber nicht aus. Zur weiteren Verbreitung bietet es sich seitens der ideologischen Innovatoren an, dem Beispiel der Heritage Foundation oder des Manhattan Institute zu folgen. Diese Thinktanks betrieben erfolgreich die Programmatisierung von Ideen, indem sie mit kleinen, graphisch ansprechend gestalteten und mit vielen kurzen Statements gefüllten Broschüren und Positionspapieren zur »Reagan Revolution« beitrugen und auch gegenwärtig diese Strategie online weiterverfolgen.
Ideen müssen zudem zum Paradigma werden. Ein Paradigma als »theoretische und ontologische Annahme über die Welt« wirkt im Hintergrund der politischen Auseinandersetzung, indem es die Bandbreite der Lösungen kognitiv begrenzt, die durch die politischen Entscheidungsträger als für die Probleme hilfreich wahrgenommen werden. Auf dieser Ebene, die seit Alain de Benoist als das eigentliche Betätigungsfeld der Metapolitik gilt, bedeutete die Gründung des IfS und der Sezession einen großen Fortschritt. Anders als andere Versuche in der Vergangenheit schaffen es beide immer wieder, in den etablierten Medien Erwähnung zu finden und so einen größeren Wirkungsgrad zu erreichen. Einschränkend ist aber zu erwähnen, daß im Vergleich zu einer Bertelsmann-Stiftung der Wirkungsgrad eines solchen Instituts schon aufgrund der Ressourcenausstattung niedriger ist.
An den Universitäten gibt es ebenfalls Anzeichen eines ersten Gesinnungswandels. Zwar meiden nach wie vor viele Professoren eine allzu klare Stellungnahme, die Beispiele für Hochschullehrer, die weniger defensiv agieren und den Protest von Studenten, Politikern und Medien auf sich nehmen, mehren sich jedoch merklich (z. B. Detlef Rost, Heiner Rindermann).
Ideen müssen zu guter Letzt durch die »öffentliche Stimmung« getragen werden und in sie Eingang finden. Bedenkt man, daß die politischen Entscheidungsträger ebenfalls der öffentlichen Stimmung unterliegen, wird deutlich, warum Gramscis Hauptaugenmerk dieser Ebene galt, wenn er von der Besetzung des vorpolitischen Raumes sprach.
Die kurze Betrachtung der drei Ebenen offenbart, daß die Flüchtlingskrise in der Tat einen guten Nährboden für die Diffusion alternativer Sichtweisen bietet. Sie enthüllt allerdings auch, daß die Polarisierung noch nicht in einem der Schwere der Krise angemessenen Tempo und Umfang erfolgt ist. Die Schwerfälligkeit dieses Vorgangs ist nicht erstaunlich. Auch wenn die Flüchtlingswelle die Gesellschaft zu destabilisieren beginnt, führen diese Zustände regelmäßig nicht ad hoc zu einer Verhaltensänderung. Da »Institutionen als System verteilter Gewohnheiten ge- lebt werden« (Gehlen), können diese eingeübten Verhaltensweisen nicht einfach abgestreift werden. Die Hintergrunderfüllung bewirkt, daß sozialisierte Gesellschaftsmitglieder nur langsam auf Instabilitäten reagieren. Psychologisch werden diese durch unbewußte innere Abwehrmechanismen verdrängt, wodurch sich die aus ihnen folgenden persönlichen Belastungen bis zu einem bestimmen Grad ertragen lassen.
Die Angst vor Bestrafung bei abweichendem Verhalten tut ihr übriges. »Kultur« stellt einen weiteren wesentlichen Faktor dar, der zur Invarianz der dominierenden Weltsicht und Verhaltensweise beiträgt. Indem sie die Wahrnehmungsmodelle der Gesellschaftsmitglieder harmonisiert und vereinheitlichte Wahrnehmungen zwischen den Generationen transmittiert, ist sie eine der wesentlichen Größen, die die Wandelbarkeit der herrschenden Weltsicht begrenzen. Das aus dem gemeinsamen kulturellen Erbe hervorgehende vor- herrschende System von Überzeugungen schränkt das Repertoire möglicher Reaktionen auf Wandlungen der sozialen und natürlichen Umwelt ein und gibt die grobe Linie vor, entlang welcher sich eine Gesellschaft verändern kann. Solche Pfadabhängigkeiten erschweren das Abweichen von vertrauten Verhaltensmustern.
Einseitig kultureller Fatalismus ist aber fehl am Platze. Gerade im massendemokratischen Zeitalter stellt »Kultur« keinesfalls eine dem Politischen entzogene Größe dar. Der Hinweis auf die seit 1945 in die deut- sche Kultur eingesickerte Schuldakzeptanz und die zu beobachtenden relativ unterschiedlichen Verhaltensweisen und Mobilisierungsgrade der Deutschen in West- und Mitteldeutschland als Reaktion auf politische Themen wie Masseneinwanderung läßt erahnen, daß Kultur nicht ein- fach eine exogen auf das Wahrnehmungsmodell wirkende Größe ist. Wäre dies der Fall, wäre auch die Vorstellung sinnlos, es existiere »kulturelle Hegemonie«.
Die soziologische, anthropologische sowie psychologische Literatur der letzten beiden Jahrzehnte offenbart ein komplexes und vielschichtiges Kulturverständnis und bestätigt vielfach – zumeist, ohne ihn zu nennen – Gramscis These. Die Weltsicht gründet demnach nicht nur auf der bestehenden Kultur. Weltsicht schafft außerdem Kultur, da Kultur auch ein »selbstgesponnenes Ideen‑, Sinn- und Bedeutungsgewebe« (Leipold) ist. Kultur wird daher als öffentlich zur Verfügung stehende Formen von Ritualen, Symbolen, Geschichten und Handlungsanweisungen beschrieben, durch welche Menschen Bedeutungen erfahren und Meinungen ausdrücken. Die Gesamtheit der zur Verfügung stehenden kulturellen Konzepte oder Elemente ist demnach zwar durch vergangene Einflüsse geprägt. Innerhalb dieser historisch geprägten Bandbreite ist aber eine begrenzte Vielfalt möglich.
Die (begrenzte) Flexibilität von Kultur öffnet das Tor für willentliche Einflußnahme oder Manipulation. »Wenn kulturelle Identität der Gesellschaftsmitglieder einen strategischen Faktor bezüglich ihrer Wahrnehmung und damit auch ihres Wahlverhaltens darstellt«, so der deutsche Institutionstheoretiker Joachim Zweynert, »besteht ein Anreiz für strategische Akteure, Ressourcen aufzuwenden, um auf die kulturelle Identität anderer einzuwirken.« Die Wirkung einer oppositionellen Bewegung wird daher wesentlich davon abhängen, ob und inwieweit es ihr gelingt, sich als klare Konkurrenz zum Bestehenden darzustellen.
Zugleich muß sie ihre Weltsicht aber in eine Rhetorik »verpacken«, welche die Kompatibilität mit dem kulturellen Erbe unterstreicht oder die Geschichte neu interpretiert, um so die notwendige Akzeptanz zu steigern. Dazu bedarf es begleitender »Erzählungen« als Transmissionskanal der Politik. Es wird darauf ankommen, bekannte, in die Kultur eingebettete »Geschichten« zu erzählen und zugleich »neue«, eindeutig vom Etablierten abweichende Ideen durch die Erzählungen in die Überzeugungen der Deutschen »ein- zuschmuggeln« (Zweynert).
Niemand – schon gar nicht die Rechte – behauptet, daß es eine leichte Aufgabe sei, das komplexe und sich gegenseitig stützende Geflecht von politischen, sozialen, wirtschaftlichen und moralischen Regeln und Überzeugungen zu verändern. In dem Maße, wie die Anzahl der Bundesdeutschen zunimmt, die die Migrationswelle als Problem oder Bedrohung wahrnehmen, wird die Akzeptanz und Aufnahmefähigkeit alternativer Weltsichten steigen und der Zusammenhalt der Gesellschaft in seiner bisherigen Form verlorengehen. In Zeiten von Instabilität werden sich dann neue Ideen als Lösung der Probleme aufdrängen. Die Frage ist, ob dies geschieht, bevor es für das deutsche Volk zu spät ist.