Die Bundesrepublik Deutschland geht in einen konstanten Krisenmodus über. Zog die multiple Krise der Europäischen Union, die zunächst als »Banken-«, dann als »Euro-Krise« firmierte, aber eigentlich eine umfassende Krise des Finanzmarktkapitalismus als solchem war, noch annähernd spurlos am Alltag der Deutschen vorbei, prägt die Flüchtlings- bzw. Zuwanderungskrise mit unterschiedlichen Konsequenzen die Lebenswirklichkeit der Bürger. Hinter den unappetitlichen bis barbarischen Symptomen wie »Brüssel« und »Paris« und hierzulande »Köln« und »Chemnitz« verbirgt sich aber Gewaltigeres, stehen dem westeuropäischen Kapitalismus noch größere Herausforderungen bevor: Er erlebt eine Legitimationskrise in einem Ausmaß, das noch vor wenigen Jahren undenkbar erschien.
Alain de Benoist hat deshalb bereits – zugespitzt – das »Ende des Kapitalismus« angekündigt. Der französische Philosoph sieht die drei Grundpfeiler der Kapitalismusakzeptanz der (westeuropäischen) Bürger bedroht: Das allseitige Wachstumsversprechen könne nicht mehr eingehalten werden, weshalb der Kapitalismus sein positives Alleinstellungsmerkmal verliere; das Lebensniveau der breiten Massen werde nicht mehr konstant gehoben, und sei der spürbare Zuwachs noch so gering; der Konsum bzw. die materielle Bedürfnisbefriedigung – und dies ist immerhin das Faustpfand der kapitalistischen Heilslehre – stagniere auf einem bereits erreichten Niveau.
Nun kann freilich entgegnet werden, daß der Kapitalismus, zumal der westliche, höchst flexibel auf unterschiedliche Krisensituationen reagiere, und es wäre eine ausufernde Diskussion, wie weit seine Flexibilität noch reichen werde. Man kann mit Slavoj Žižek von einer weitreichenden Kompetenz der Krisenbeherrschung des Kapitals im Zeichen diverser systemimmanenter Verteidigungsmechanismen ausgehen, man kann aber auch mit Paul Mason annehmen, daß das komplexe System des zeitgenössischen Kapitalismus angesichts der Herausforderungen der digitalen Revolution der Informationstechnologie an die Grenzen der Anpassungsfähigkeit gestoßen sei.
Oliver Nachtwey hat jüngst festgestellt, daß – nun auch in Deutsch- land – die »kollektive Angst vor dem sozialen Abstieg« die Psyche der Gesellschaft dominiere. Der Soziologe verweist auf die neue Situation der Bundesrepublik, in der der Wandel von einer Wohlstandsgesellschaft hin zu einer »Abstiegsgesellschaft« eingeleitet worden sei – ein Prozeß, der von zunehmender Armut und sozialer Ungleichheit geprägt werde.
Nachtwey sieht – wie Benoist – ähnliche Muster für die bisherige allseitige Akzeptanz des Kapitalismus greifen: Breiten Schichten wurde durch steigende Löhne die Teilhabe am Massenkonsum ermöglicht, auch Arbeiterfamilien und die »untere Mittelschicht« konnten in (materiell) gesicherten Verhältnissen in die Zukunft schauen; der »Fahrstuhleffekt« (Ulrich Beck) der Wachstumsgesellschaft brachte alle Typen – ob Arbeiter oder Unternehmer – zusammen nach oben. Die Klassenstruktur verschwand in der Folge nicht, aber sie wurde durch gemeinsamen Erfolg, durch gemeinsames Wachstum verdeckt und in ihrer Bedeutung geschmälert.
Ab den 1970er Jahren kam es jedoch zur von Wolfgang Streeck als »Revolte des Kapitals« bezeichneten Gegenbewegung, deren Ziel es war, die soziale und demokratische Ummantelung des Kapitalismus – allgemein: die Mixed economy (»gelenkte Volkswirtschaft«) – von sich zu weisen. Es begann die »lange Wende zum Neoliberalismus« (Streeck), die heute – nach dem neoliberalen Umbau des (gewiß bürokratisch aufgeblähten) Sozialstaats – vollzogen ist und andauert: Nachtwey verweist darauf, daß Rudolf Hilferdings Vorhersagen aus dem Jahre 1910, wonach das Finanzkapital die Wirtschaft zunehmend dominieren und schließlich auch die Politik bestimmen werde, heute fröhliche Urständ feiert.
Mit der Entwicklung hin zu einer finanzmarktkapitalistischen Ordnung geht die Entdemokratisierung einher, die seit Colin Crouchs Postdemokratie (2008) als Entkernung des demokratischen Wesens verstanden werden muß: Die Menschen verlieren Einfluß auf die politischen Entscheidungsfindungsprozesse, während Konzerne und politische wie wirtschaftliche Eliten ihre hegemoniale Stellung ausbauen können. Neben der »Postdemokratie« kann indes auch »marktkonforme Demokratie« zur Beschreibung verwandt werden. Wahlen sind nicht abgeschafft, aber in ihrer Bedeutung stark eingeschränkt, da Lobbyisten (in Berlin kommen acht von ihnen auf einen Bundestagsabgeordneten) und andere Interessengruppen unmittelbaren Einfluß auf die politischen Entscheidungsträger gewonnen haben und über sie direkten Zugang zu den Zentralen der Macht erhalten.
Diese Entwicklung wäre für die kapitalistische Gesellschaft zu verkraften, wenn sie nicht mit einer anderen korrelierte, die die Abstiegsgesellschaft prägt: die wachsende monetäre Kluft zwischen »oben« und »unten« sowie der Überhang von spekulationsbedingten Gewinnen und Kapitalrenten. Während Reiche stetig ihren Wohlstand vermehren (zehn Prozent der Haushalte verfügen über 52 Prozent des deutschen Nettovermögens), stagniert die Entwicklung der breiten Mittelschichten, erodieren ihre Ränder und verlieren die Unterschichten an Perspektive.
Eines der tragenden Elemente der »alten« Bundesrepublik, die sogenannte untere Mittelschicht, hat – einer Bertelsmann-Studie von 2013 zufolge – seit 1997 um 15 Prozent abgenommen. Abstürze häufen sich, die Unsicherheit ist zum Normalzustand geworden. Diese Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg ist begründet, und sie ist auch darauf zurückzuführen, daß das »Normalarbeitsverhältnis« – die unbefristete, sozialversicherungspflichtige Anstellung – prozentual stetig abnimmt, während prekäre – zeitlich begrenzte, sozial schwächer abgesicherte – Beschäftigungsverhältnisse in vielen Bereichen der industriellen Dienstleistungsgesellschaft zur Normalität werden. Inzwischen arbeitet in Deutschland allein jeder Vierte im Niedriglohnsektor.
Sebastian Dörfler und Julia Fritzsche weisen zudem darauf hin, daß eine halbe Million Menschen in Vollzeit arbeiten, aber dennoch die Grundversorgung wie Miete, Strom, Heizung und Krankenversicherung nicht mehr stemmen können und somit staatlicher Unterstützung bedürfen. Etwa 1,6 Millionen Kinder in Deutschland wachsen darüber hinaus in Familien auf, die über Hartz-IV-Leistungen abgesichert werden müssen.
Die Abstiegsgesellschaft reproduziert so (relative) Armut und Abhängigkeitsverhältnisse, die wiederum von Verächtern des Sozialstaats argumentativ ausgeschlachtet werden, obwohl ihre Ideologie des Neoliberalismus solche Strukturen erst geschaffen hat, indem einerseits alle potentiellen Sphären von Gewinn und Profit – u. a. die ehedem staatlich kontrollierten »Schlüsselindustrien« einer jeden Gesellschaft – privatisiert wurden, während man andererseits den Staat mit den Verwerfungen der kapitalistischen Konkurrenz- und Ellbogengesellschaft allein läßt.
Das Grundübel dieser Ordnung ist freilich kein marktwirtschaftliches, sondern ein genuin kapitalistisches. Marx hatte in seiner Zeit zwar Marktwirtschaft und Kapitalismus sinngleich verstanden, aber die klügeren seiner heute lebenden Anhänger – darunter Sahra Wagenknecht – haben diese Ineinssetzung zum Ärger der letzten verbliebenen orthodoxen Linken revidiert: Denn dem Kapitalismus gelingt die Herausbildung von gefräßigen Monopolen und Oligopolen nur aufgrund einer Totaldurchdringung der Gesellschaft entlang seiner Rücksichtslosigkeit, während im Gegensatz dazu die Marktwirtschaft als eine zumindest potentiell soziale Wirtschaftsordnung auf Wettbewerb und offenen Markt nicht verzichten darf (beides sind ja Grundbedingungen der Marktwirtschaft), die Rendite aber mit den Rückwirkungen des Wirtschaftens auf den Mensch, den Raum und die Struktur auszupendeln hat, und zwar über eine wirtschaftsethische Erziehung ebenso wie durch gesetzliche Rahmensetzungen und eine drastische Beschneidung der rein finanzkapitalistischen Erträge. Denn die höchsten Einkommen, die derzeit bezogen werden, resultieren – worauf etwa Wagenknecht in Reichtum ohne Gier hinweist – aus ebendiesen leistungslosen Erträgen aus Kapitaleigentum. Das konzentriert sich indes in wenigen Händen.
Die Art kapitalistischer Gesellschaft, in der wir leben, ist schließlich dort erreicht (und somit verläßt man die rein marktwirtschaftlich-ökonomische Ebene), wo die kapitalistische Wirtschaftsweise kein Subsystem ist, »sondern das die gesamte Gesellschaft beherrschende Prinzip«, wie Georg Fülberth zusammenfaßt. Hier, in der kapitalistischen, nicht der marktwirtschaftlichen Gesellschaft, ist schlichtweg alles eine Ware, das gesamte Leben in den Bedeutungszusammenhang der kapitalistischen Logik gestellt – und »alles« schließt natürlich auch den Menschen ein, der sich als Arbeitskraft »anbietet«, mithin als Ware präsentiert, während noch die letzten Refugien seines Alltags »kommodifiziert« werden. Das Freiheitsversprechen des modernen Liberalismus als solches ist somit letztlich Betrug, und Freiheit, die den Zwängen der alles umfassenden neoliberalen Doktrin unterliegt, keine substantielle Freiheit.
Man unterliegt keinem optimistischen Fehlschluß, wenn man konstatiert, daß solcherlei Ansichten sich zunehmender Verbreitung erfreuen. Das Unbehagen ob der sozioökonomischen Zustände, der Arbeitsbedingungen immer größerer Kreise, der wirtschaftlichen Kluft: es wächst. Vor allem schwillt es an in Süd- und Westeuropa, wo relative ökonomische und institutionelle Stabilität, wie sie nach wie vor für Deutschland gilt, nur eine bloße Chimäre ist. Der Protest kam zuallererst – weil Antikapitalismus nach wie vor häufig eine linke Domäne ist – von linksorientierten Gruppen.
In Griechenland reüssierten die »Koalition der radikalen Linken«, Syriza, und ihre Vorfeld-Strukturen, in Frankreich außerparlamentarische Initiativen, in Spanien zunächst die Bewegung der Indignados (»Empörte«), die dann wiederum die Partei Podemos (»Wir können«) formierten. Der linke Forscher Wolfgang Kraushaar sprach bei diesen Protesterscheinungen, die ihre Glanzzeit von 2011 bis 2015 erlebten, von einem »Aufruhr der Ausgebildeten«. An der urbanen, akademischen Herkunft dieser Revolte kann denn auch kein Zweifel bestehen. Bei Podemos sticht bis heute zudem der an Chantal Mouffe und Ernesto Laclau geschulte »progressive Populismus« durch, der die Rechts-Links-Dichotomie beiseite schiebt, um die Spaltung in »oben« und »unten« (respektive »Eliten« und »Volk«/»populäre Klassen«) fruchtbar zu machen.
All diesen politischen Krisenprodukten des europäischen Südens ist gemein, daß sie ihren Antrieb aus den Verwerfungen der kapitalistischen Ordnung bezogen und – wie auch kleinere, rechtsstehende Formationen in Südeuropa (ob Hogar Social in Spanien oder CasaPound in Italien) – über- all dort aktiv und sogleich erfolgreich wurden, wo der klassische Sozialstaat sich zurückzog oder gar nicht erst zum Zuge kam. Die manifeste Legitimationskrise des Kapitalismus war also der Motor für die Revolte; eine Legitimationskrise, die erst nach und nach auch in Deutschland spürbar wird, wenn der Sozialstaat an den Grundzügen einer angemessenen Verteilungsgerechtigkeit scheitert.
In Deutschland ist indessen mit einer Dyna- mik zu rechnen, die weder in Italien noch in Spanien denkbar war, wo die soziale Frage stets alles überlappte. Denn in der Bundesrepublik wird die an Bedeutung stark zunehmende soziale Frage auf die bereits vorhandene »nationale Frage« in Form von Massenzuwanderung und Migrationskrise stoßen. Und genau hier versagt nun die Linke, die für beide Komplexe keine »plausiblen Visionen und mobilisierenden Utopien« (Nachtwey) mehr vorweisen kann. Dies ist die Stunde der politischen Rechten.
Zählt man die Alternative für Deutschland (AfD) nun zu dieser Rechten, dann liegt es wesentlich auch an ihr, ob die Gunst der Stunde genutzt werden kann. Zwar ist die »Partei des gesunden Menschenverstandes«, als die sie sich präsentiert, »von vornherein theorieschwach, nicht-ideell« und wirkt »als Anreicherungsbecken für den arbeitenden, staatstragenden, pragmatischen Bürger«, wie Götz Kubitschek formulierte. Doch diese Feststellung über ihre Mitgliedschaft muß um die Tatsache ihrer Wählerstruktur ergänzt werden, da die AfD mittlerweile die Wahlpartei der unteren und mittleren Schichten, der »populären Klassen« geworden ist. Zunächst ist dies sicherlich ein wahltechnischer Sachverhalt, der aus Protest und Unzufriedenheit mit dem Kartell der Etablierten erfolgte und solcherart weniger inhaltlich begründet war. Denn die Bundespartei ist unter Frauke Petry einstweilen im alles umfassenden Gedankengebäude des Neoliberalismus gefangen; Neumitglieder wie der liberalkapitalistische Transatlantiker Nicolaus Fest dürften diese Bindung verstärken.
Im AfD-Programm wird beispielsweise viel Freiheit für den Markt und möglichst wenig Spielraum für den Staat gewünscht. Man fordert die Abschaffung der Vermögensteuer und predigt Paul Kirchhofs Steuermodell, nach dem für Durchschnittsverdiener der Mittelschicht derselbe Spitzensteuersatz von 25 Prozent wie für Millionäre gelten würde. Dieses FDP- orientierte Wirtschafts- und Sozialprogramm widerspricht nachweislich den Intentionen breiter Wählerschichten, die der AfD aus Protest wie auch aufgrund ihrer sozialorientierten Wahlkampfslogans ihre Stimmen geben. Will man sich nicht des Etikettenschwindels schuldig machen, muß daher eine fundamentale sozialpolitische Abwendung vom herrschenden Neoliberalismus erfolgen, und das heißt konkret: Die politische Rechte (mit der AfD als Wahlpartei) muß die soziale Frage wiederentdecken.
Dabei ist diese vor allem eine Frage der Solidarität, wobei letztere immer eine vorhandene (keine imaginierte) Gemeinschaft voraussetzt, die solidarisch handeln kann. Solidarität ist dabei anthropologisch und historisch zuallererst ein Aspekt der Fürsorge für den räumlich oder kulturell, religiös oder ethnisch Nächsten. Solidarität braucht daher gerade auch angesichts der kapitalistischen Verwerfungen Grenzen, und die bundesdeutsche Linke, die die soziale Frage bis dato als ihre Domäne verstehen durfte, begreift angesichts der Gesamtlage 2016 nicht, daß sie mit ihrer Forderung nach ebenjenen offenen Grenzen die Grundlage praktischer Solidarität untergräbt.
Mit ihrer »Grenzen-auf-für-alle«-Rhetorik verläßt sie den realen Handlungsraum zugunsten einer bizarren Utopie der Borderless world. Die Ausblendung der Lebensrealität der Mehrzahl der Menschen zugunsten eines ideologischen Traums des »Ohne-Grenzismus« (Régis Debray) bietet sich wiederum an als Angriffspunkt für eine authentische Rechte, welche sich die soziale Frage aneignet. Da soziale Solidarität regionales, nationales oder europäisches Zusammenhörigkeitsgefühl erfordert, die Linke aber in der Dauerkrise Deutschlands und der Europäischen Union nichts davon aufweist, ist die historische Chance gekommen, die Herausforderung der sozialen Frage anzunehmen und der Linken neben der nationalen Frage – in Form realistischer Zuwanderungspolitik, gesunden Heimatempfindens usw. – auch noch diese endgültig zu nehmen. Dann bleibt links nichts als die Propagierung gesellschaftspolitischer Experimente im Rahmen der kapitalistischen Ordnung. Verpaßt die Linke also die Gelegenheit, die Legitimationskrise der »marktkonformen Demokratie« zu ihrer eigenen Renovatio zu nutzen, während eine erneuerte Rechte soziale Programmatik adaptiert und neue Resonanzräume schafft, werden noch mehr Menschen als bisher zeigen, daß es möglich ist, daß aus Linken Rechte werden.
Liest man nun Didier Eribons – 2009 geschriebenes, aber erst 2016 ins Deutsche übertragene – Dokumentarwerk Rückkehr nach Reims als Offenbarungseid über den linken Verlust der populären Klassen, interpretiert man im gleichen Zug die Hinwendung vieler Franzosen zum Front National »zumindest teilweise als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten« (Eribon), dann wächst die Hoffnung auf eine sozial aufgestellte deutsche Neue Rechte. So könnte Frankreich sich auch hier im Sinne Armin Mohlers als politisches Laboratorium erweisen, dessen Erfahrungen wenige Jahre später in anderen europäischen Ländern nacherlebt werden.