Der Krieg in und um Syrien ist seit seiner Eskalation 2011 reich an Wendungen. Zwei der wichtigsten Akteure auf diesem strategisch bedeutsamen Schlachtfeld sind Rußland und die Türkei. Da Moskau die legitime syrische Regierung unter Präsident Baschar al-Assad entscheidend stützt, während Ankara unterschiedlichste islamistische Milizen auf türkischem Gebiet organisierte und in Nordsyrien einfallen ließ, war (und ist) der syrische Konflikt stets auch ein russisch-türkischer. Der Ton zwischen Putin und Erdogan wurde stetig rauher bis zu einer Zäsur, deren Folgen nach wie vor wirken und weiterhin für Veränderungen im geopolitischen Ringen sorgen: dem Putschversuch in der Türkei im Juli 2016. Dieser, vermutlich arrangiert durch eine der islamistischen »Hizmet«-Struktur nahestehende Militärclique, scheiterte an einer raschen Volksmobilisierung Erdogans.
Die weltanschaulichen Unterschiede zwischen der regierenden Gerechtigkeits- und Aufschwungspartei (AKP) und der putschenden »Dienst«-Bewegung Fethullah Gülens sind marginal; es handelt sich um Interessenkonflikte innerhalb der herrschenden Klasse, die bis 2014 verschleiert und bis 2016 unterdrückt werden konnten. Daß Präsident Erdogan dieses Ereignis nutzte, um das türkische System weiter auf seine Person und Partei zuzuschneiden und die Fundamentalopposition – zumal deren Medien – zu zerschlagen, kann an dieser Stelle vernachlässigt werden. Entscheidend ist, daß die AKP (mit guten Gründen) davon ausging, daß der Plan der Gülen-Anhänger US-amerikanisches Wohlwollen fand, ja daß Gülen offenbar den westlichen Instrukteuren zunehmend als der geeignetere Partner erschien, das geographisch bedeutsam gelegene NATO-Mitgliedsland Türkei zu führen.
So überraschte es nicht, daß der erste »Gratulant« Erdogans zum Überstehen des Coup d’États Rußlands Präsident Putin gewesen ist, der mit seinem Gespür für unverhoffte Weichenstellungen die Gunst der Stunde nutzte und gegen die »Putschisten« und für eine Neuausrichtung der bilateralen Beziehungen beider Länder argumentierte. Seitdem ist das Verhält- nis zwischen Moskau und Ankara tatsächlich sukzessive besser geworden (mit unmittelbaren Folgen an den syrischen Fronten), während sich das Verhältnis zwischen Brüssel/ Washington und Ankara deutlich abkühlte.
Mit dem Philosophen und Publizisten Alexander Dugin begrüßte unmittelbar nach Putins Putsch-Statement ein Akteur diese sich anbahnende Entwicklung, der mit Recht als Kopf der wachsenden »neoeurasischen Bewegung« gilt und die Türkei als Partner Rußlands im Rahmen einer eurasischen Allianz umwirbt. Es ist umstritten, inwieweit der ehemalige Professor der Moskauer Lomonossow-Universität tatsächlich als direkter »Berater« Putins gelten kann. Freund und Feind des intellektuellen Rauschebarts proklamieren ein solch enges Verhältnis seit Jahren, wobei dieses scheinbare Faktum mindestens ebenso häufig und intensiv bestritten wird. Unstrittig ist indes, daß der Begriff »Eurasien« – maßgeblich bewirkt durch Dugins Publikationen und die Verbreitung durch seine Anhänger – heute wieder eine bedeutende Rolle in Rußlands politischer Theorie und Praxis spielt; auch Putin selbst verwendet ihn in Reden und Texten.
Dugin hat den Putsch – was in staatstragenden türkischen Medien durchaus wohlwollend wahrgenommen wurde – als »US-Komplott« verächtlich gemacht und in den letzten Monaten immer wieder von einer »eurasischen Wende« der Türkei gesprochen. Sie würde für Ankara umfassen: Abwendung vom westlichen Universalismus (und implizit: von der NATO), endgültiger Abschied von der liberaldemokratischen Agenda, Abstand zur Europäischen Union; Hinwendung zu Rußland und dem eurasischen Raum, Akzeptanz des Konzepts der multipolaren Welt mit regionalen Kraftzentren, Annäherung an einen Block der nationalen (und religiösen) Souveränisten gegen die Globalisierungsidee des liberalen Westens und, in bezug auf Syrien: Aussöhnung mit der Regierung Assad.
Für dieses Programm steht in der Türkei die ehedem maoistische, mittlerweile linksnationalistische Vaterlandspartei (Vatan Partisi), mit der Dugins Umfeld seit Jahren engsten Kontakt pflegt. Die Partei spielt bei Wahlen keine große Rolle; etwa 100000 Stammwähler sind nicht viel in einem 75-Millionen-Volk. Vatan Parsiti hat ihre Bedeutung als intellektuelle Kaderpartei, deren Ideen weit über das eigene Milieu hinaus verbreitet werden. Denn der TV-Sen- der Ulusal Kanal wie auch die parteieigene Tageszeitung Aydınlık sind nicht von den aktuellen Medienzerschlagungen durch Erdogans Apparat betroffen, werden aber, worin sich Anhänger und Kritiker der Partei einig sind, von nichtwestlich orientierten Teilen des türkischen Heeres, von AKP-Sympathisanten sowie von Strömungen innerhalb der oppositionellen kemalistisch-republikanischen Partei (CHP) rezipiert.
Hinzu kommt, daß Parteichef Dogu Perinçek über Parteigrenzen hinweg anerkannt wird. Der langjährige Freund Dugins war 2008 ins Visier der Gülen-Bewegung geraten, deren Einfluß im Justiz-Apparat dazu führte, daß Perinçek zu lebenslanger Haft wegen »Terrorismus« verurteilt wurde. 2014 begann Erdogan, die türkischen Sicherheitsbehörden von Gülen-Anhängern zu säubern; Perinçek wurde freigelassen und knüpfte rasch informelle Netzwerke zwischen Damaskus, Ankara und Moskau. Im Juli diesen Jahres holte Erdogan zum großen Schlag gegen die Anhänger Gülens aus, besonders im Militär erfolgte ein außerordentlicher personeller Aderlaß: Fast jeder zweite General und Admiral wurde entlassen oder verhaftet.
Erdogan zeigte sich flexibel und ließ demgegenüber Perinçeks Vatan-Aktivisten in Militär und Gesellschaft als (systemstabilisierende?) Alternative gewähren, obwohl ihm naturgemäß sowohl der rigide Laizismus als auch der »klassische« Antiimperialismus der »Ulusalcılar« mißfallen. Dies ermöglichte einen erheblichen Popularitätsschub und Einflußgewinn für die Vaterlandspartei. Nun gelang ihr – zumindest gehen Beobachter der türkischen Situation davon aus – ein besonderer Coup, indem sie einen Besuch ihres weltanschaulichen Kompagnons Alexander Dugin in Ankara vermittelte. Und tatsächlich nahm Dugin am 8. November an der Fraktionssitzung der regierenden AKP an der Seite des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım teil. Einzelne Medien bezeichneten Dugins Auftritt als Besuch eines »Sonderbeauftragten« Putins, und Dugin wollte entsprechende Erwartungen nicht enttäuschen. Er verkündete vor den Köpfen der türkischen Regierungspartei, daß Putin der Türkei eine »strategische Partnerschaft« anböte:
»Er streckt ihr seine Hand in Freundschaft entgegen.« Die Türkei müsse nur zugreifen und ein neues Zeitalter der Zusammenarbeit beginnen.
In der bundesdeutschen Presse wurde dieser bemerkenswerte Besuch Dugins beim Inner circle der Erdogan-Partei kaum kommentiert. Lediglich die marxistische Tageszeitung junge Welt, die befürchtet, daß Dugins wachsender Einfluß in der russischen Außenpolitik auch mit ihm vernetzte »Neofaschisten« in Europa stärken würde, berichtete deutlich verstimmt über den reaktionären »Ideologienlieferanten« Putins und seine neoeurasische Moskau-Ankara- Connection.
In der Tat muß es Gegnern Dugins beängstigend erscheinen, wie rasant sein Aufstieg vonstatten ging. Jahrzehntelang war er Vordenker und Publizist eines radikalen Nischenmilieus, verkehrte in der Nationalbolschewistischen Partei Rußlands, versuchte sich an einer Ideensynthese aus westeuropäischer Konservativer Revolution, russisch-orthodoxer Mystik und im- perialrussischer Tradition, sprach vor kleinen Zirkeln neoeurasisch gesinnter junger Russen oder in Westeuropa – an der Seite seines Freundes Alain de Benoist – vor ebensokleinen Zirkeln »neurechter« Provenienz. Nun, nach Jahren internationalen Netzwerkens und metapolitischer Graswurzelarbeit, eröffnen sich plötzlich geopolitische Chancen, und Dugin ist zu einem gefragten Berater realpolitischer Akteure auf der Weltbühne geworden.
Dugin in Ankara – das war kein Kurztrip eines Exzentrikers, sondern ein Indiz für eine türkisch-eurasische Tendenzwende. Inwiefern diese fortgeführt wird oder im Stadium wohlmeinender Sondierungen steckenbleibt, ist offen. Zu viele divergierende Interessen in Syrien können die pragmatisch-strategische Annäherung Moskaus und Ankaras noch verhindern. Doch die jüngsten Entwicklungen – von Trump in Washington bis Dugin in Ankara –, so unter- schiedlich sie auch zu gewichten sind, beweisen in jedem Falle, daß die Weltgeschichte im frühen 21.Jahrhundert kein Ende finden wird, sondern soeben neu beginnt.