Sezession: Im Vorwort zu Ihrem neuen Buch Der böse gute Wille. Weltrettung und Selbstaufgabe in der Migrationskrise schreiben Sie, daß die Migrationskrise die größte Herausforderung für Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs darstelle. Die politische Linke nutze diese Krise, um die Auflösung der Nation zu erreichen. Nun wird die Bundesrepublik aber einerseits nicht von der politischen Linken, sondern von der »Mitte« in Form der Großen Koalition regiert, und diese Koalition wäre – andererseits – objektiv doch verrückt, ihren eigenen Gestaltungsraum »aufzulösen«. Was vollzieht sich also vor unseren Augen, und: Wer ist treibende Kraft, wer Zaungast?
Fritze: Diese Fragen stellen sich in der Tat. Erstens ist wohl zu bemerken, daß die CDU unter ihrer gegenwärtigen Parteivorsitzenden nach links gerückt ist – freilich ohne deshalb selbst zur politischen Linken zu gehören. Gleichwohl: Angela Merkel sagt und tut Dinge, die von Linken voll und ganz gutgeheißen werden. Sie hat durch ihre Entscheidungen in der Flüchtlingskrise im Spätsommer und Herbst 2015 und vielleicht ebenso durch die Art der Kommunikation dieser Entscheidungen die nachfolgende Wanderungsbewegung zumindest forciert.
Daraus folgt nicht, daß sie selbst die Auflösung der Nation beabsichtigte. Aber welche längerfristigen Ziele hat eigentlich Frau Merkel? Dies entzieht sich weitgehend unserer Kenntnis. Immerhin gibt es in der CDU führende Politiker, die die Idee der Vereinigten Staaten von Europa verfolgen. Und auch dies ist letztlich ein linkes Projekt. Wolf- gang Schäuble glaubt sogar, daß ein Verzicht auf Einwanderung uns »in Inzucht degenerieren ließe«. Jedenfalls: Denkt man ein paar Jahrzehnte voraus, würde eine Politik der ungesteuerten Zuwanderung aus Westasien und Afrika zu Ergebnissen führen, die von einem Großteil der heutigen Deutschen als eine Art Auflösung der Nation betrachtet würden.
Zweitens ist zu bemerken, daß verrückte Dinge tatsächlich geschehen. Ein zentrales Motiv des Handelns von Politikern ist der Machterwerb bzw. die Machterhaltung. Zu diesem Zweck werden mitunter längerfristige Folgen in Kauf genommen oder allzugern übersehen, die den eigenen Wünschen und gesellschaftspolitischen Vorstellungen zuwiderlaufen. Die nominelle Opposition klatscht heute der Regierung Beifall, weil sie ihre Utopie einer weltumspannenden Gesellschaft der Gleichen und Gleichgestellten auf dem Weg der Verwirklichung sieht. Ja, und was die treibenden Kräfte anlangt – darüber möchte ich eigentlich nicht spekulieren. Zaungast dieser Entwicklungen ist der vornehmlich kopfschüttelnde und ratlos dreinblickende Wähler; die Anhänger der »Willkommenskultur« jedenfalls scheinen mir keine legitimen Repräsentanten des Volkes zu sein.
Sezession: Bei aller Kritik an der »Willkommenskultur« betonen Sie ja durchaus die moralische Pflicht, Notleidenden zu helfen, weisen aber zugleich darauf hin, daß diese Hilfspflicht auch Grenzen hat. Wie kann diese Grenze bestimmt werden?
Fritze: Wir haben die moralische Pflicht, Menschen in Not zu helfen – und zwar (dies gilt zumindest prima facie) unabhängig davon, warum sie in Not geraten sind. Dabei sind zwei Präzisierungen notwendig: Wer sich selbst helfen kann, befindet sich nicht in Not. Und: In Not sein heißt, um das Überleben kämpfen. Unter welchen Voraussetzungen ein Überleben gesichert ist, bedarf freilich weiterer Präzisierungen. In Not ist beispielsweise der Verhungernde oder der Verfolgte, dem man nach dem Leben trachtet, nicht aber der, der seine Vorstellungen hinsichtlich eines guten Lebens nicht realisieren kann. Insofern sind Migrationswillige, die sich nicht in Not befinden, grundsätzlich anders zu behandeln.
Sezession: Also gibt es in der Konsequenz dieser Prämissen eine universale Pflicht zur Hilfe?
Fritze: Diese Hilfspflicht gilt universal, also für alle Menschen auf der Welt. Sie läßt sich meines Erachtens rational begründen und sollte deshalb allgemein anerkannt werden. Dies ist eine moralphilosophische und keine verfassungs- oder völkerrechtliche Aussage. Wenn wir von Formen der weltweiten Entwicklungshilfe absehen, werden darüber hinausgehende Hilfspflichten gegenwärtig nur innerhalb von Staaten oder Staatengemeinschaften (wie etwa der EU), also nicht universal akzeptiert. Innerhalb dieser begrenzten Gemeinschaften sorgt der Sozialstaatsgedanke für eine Umverteilung, die das Ziel der bloßen Existenzsicherung übersteigt.
Der Flüchtling aus Syrien, der zunächst in der Türkei Unterschlupf gefunden hat und sich danach auf den Weg nach Europa begibt, ist in diesem moralischen Sinne kein Hilfsbedürftiger; sein Leben ist in der Türkei bereits gesichert. Wenn der deutsche Staat ihn trotzdem aufnimmt, erfüllt er im strengen Sinne nicht die moralische Hilfspflicht, von der ich gesprochen habe; es handelt sich eher um eine Art Arbeitsteilung bei der Erfüllung von Hilfspflichten. Und dies kann, wenn es in geordneten Bahnen verläuft, selbstverständlich vernünftig und im Sinne einer Lastenverteilung auch geboten sein.
Sezession: Nun gibt es aber keine adäquate Lastenverteilung, und die »universale Hilfspflicht« wird offenbar nur in Deutschland verabsolutiert. Also: Ein neuer deutscher »Sonderweg«, ein folgenschwerer wiederum?
Fritze: Moralische Hilfspflichten werden sicherlich nicht nur in Deutschland anerkannt und wahrgenommen. Im Herbst 2015 war aber schnell klar, daß der »Flüchtlingsstrom« nicht nur aus Hilfsbedürftigen bestand. Auf diese Erkenntnis hat man in anderen Ländern früher reagiert als in Deutschland.
Sezession: Deutschland wurde aber auch – nach Meinung einiger Kritiker – mit der Flüchtlings- welle allein gelassen.
Fritze: Ja, es stellt sich somit die Frage, wie man sich verhalten soll, wenn andere ihre Hilfspflichten nicht erfüllen und alle Appelle nicht fruchten. Generell würde ich sagen, man soll tun, was man kann, aber es gibt keine Pflicht zur Selbstaufgabe. Es gilt folgendes: Moralische Normen haben Aufforderungscharakter; sie fordern von uns in bestimmten Situationen ein bestimmtes Verhalten. Zunächst allerdings muß es dem Adressaten der Norm prinzipiell möglich sein, diesen Forderungen nachzukommen, und sodann muß das geforderte Verhalten zumutbar sein.
Diese Zumutbarkeitskriterien festzulegen ist das eigentliche Problem. Diese Aufgabe ist nicht allein von Moralphilosophen zu lösen. Die Moralphilosophie kann nur die Struktur moralischer Probleme verdeutlichen sowie den Weg der Entscheidungsfindung beschreiben; die konkreten moralischen Entscheidungen aber müssen von den handelnden Menschen getroffen werden. In der Praxis des gelebten Lebens entscheiden wir selbst, und zwar möglichst auf der Basis von rationalen Überlegungen und kritischen Diskussionen, was für uns zumutbar ist, das heißt, wir entscheiden auch darüber, inwieweit wir die Interessen Hilfsbedürftiger berücksichtigen. Wenn beispielsweise in Nigeria ein Bürgerkrieg ausbricht, haben wir jedenfalls nicht die moralische Pflicht, potentiell 180 Millionen Nigerianern die Einwanderung nach Deutschland zu gewähren.
Sezession: Und genau hier verläuft jetzt die Trennlinie von moralischen Universalisten und der breiten Mehrheit der Bevölkerung?
Fritze: An derartigen Fragen scheiden sich die Geister. Kann unsere moralische Hilfspflicht zum Beispiel dadurch eingeschränkt sein, daß wir nicht bereit sind, unseren eigenen Lebensstil aufzugeben und gegebenenfalls massive Abstriche an unserem Lebensstandard zu machen? Moralische Universalisten verneinen diese Frage. Die überwältigende Mehrheit der Menschen dürfte hier allerdings Zumutbarkeitsgrenzen sehen. Moralische Universalisten akzeptieren aber auch Hilfspflichten, die über eine Hilfe zum Überleben hinausgehen. Konsequent zu Ende gedacht, haben für sie alle den gleichen Anspruch auf Interessenerfüllung. Für die allermeisten Menschen hingegen haben die Interessen anderer Menschen nicht annähernd denselben Stellenwert wie die eigenen Interessen.
Würden Politiker diese – offenbar genetisch fundierte, kulturinvariante – Einstellung ignorieren, wäre dies in der Tat ein gefährlicher Sonderweg. Der von der Bundesregierung bereits tatsächlich eingeschlagene Sonderweg besteht aber nicht darin, daß sie über Gebühr Hilfsbedürftigen geholfen, sondern die Grenze für Menschen geöffnet hat, die in dem definierten Sinne gerade keinen Anspruch auf Hilfe haben. Sie hat den Eindruck erweckt, sie akzeptiere ein unbeschränktes Niederlassungsrecht für alle, die ihr Glück in Deutschland und Europa suchen wollen. Dies scheint mir der eigentliche Kern der Diskussionen um die »Flüchtlingskrise« zu sein.