Wer sich René Girards Thesen nähern will, muß zunächst alles aus seinem Kopf verbannen, was er über das Heilige und die Gewalt zu wissen glaubt. Etwa Rudolf Ottos Definition des Heiligen als »mysterium tremendum et fascin- ans« oder Mircea Eliades Diktum, das Heilige sei eine »objektive Realität«, die der profanen »Relativität subjektiver Erfahrungen« gegenüberstehe. Auch Jan Assmanns These, daß der Monotheismus die Gläubigen zum Eifern verpflichte und darum die Entfesselung von Gewalt begünstige, hat kaum Berührungspunkte mit René Girard.
Der 1923 in Avignon geborene und 2015 in Stanford, Kalifornien, gestorbene Literaturwissenschaftler und Religionsphilosoph bestand darauf, einen anthropologischen Universalschlüssel entdeckt zu haben, der sich mit der neutestamentlichen Offenbarung decke. Ausgangspunkt von Girards Denken ist seine Auffassung von der mimetischen Natur des Begehrens, die er 1961 erstmals in sei- ner literaturwissenschaftlichen Studie Figuren des Begehrens (frz. 1961, dt. 1999) ausarbeitete.
Nach Girard sind die menschlichen Gesellschaften von »Mimesis« geprägt, einem rivalisierenden Nachahmungsverhalten, das Konflikt, Haß, Neid und Ressentiment hervorrufe und im schlimmsten Fall zum Hobbesschen »Krieg aller gegen alle« eskalieren könne. Dabei stellt Girard die oft spiegelbildliche Ähnlichkeit der Konfliktparteien fest – es gäbe nichts, »was einer wütenden Katze oder einem zornigen Menschen mehr gliche als eine andere wütende Katze oder ein anderer zorniger Mensch.« Wie Tocqueville vor ihm erkannte er, daß, wer alle Menschen zu vaterlosen, gleichen Brüdern mache, die Rivalitätskämpfe nur ausweite und generalisiere. Dabei entzünde sich das menschliche Begehren, der Gegenstand des zehnten Gebotes, stets am Be- gehren der anderen. Der Mensch begehre nicht nur, was ihm fehlt oder was ein anderer Mensch besitzt, sondern auch weil es andere Menschen begehren, die dadurch zu Rivalen werden. Dabei geht Girard so weit, dem Begehren jeglichen autonomen Charakter abzusprechen: Der Mensch wisse nur dann, was er begehren solle, wenn andere Menschen es auch begehrten.
An dieser Stelle erhebt sich der erste Ein- wand gegen Girards Theorie: Wenn das Begehren tatsächlich rein mimetisch zustande kommt, wer hat dann zu begehren begonnen und aus welchen Gründen? Ist das Begehren eine Art Perpetuum mobile aus einander aufstachelnden subjektiven Begierden, die lediglich durch Nachahmung anderer Begehrender zustande gekommen sind? Hat das konkrete Objekt des Begehrens keine Wirklichkeit und keine Eigenschaften, die es objektiv begehrenswert machen, auch ohne die Anwesenheit eines Dritten?
Mit seinem Hauptwerk Das Heilige und die Gewalt (frz. 1972, dt. 1987) wechselte Girard von der psychologisch-individuellen auf die soziologisch-kollektive Ebene. Er präsentierte die Frage nach den Grundlagen der Kultur als eine Art Kriminalfall, dessen Spuren jahrtausendelang verwischt worden seien. Pate standen dabei Freuds Thesen aus Totem und Tabu (1913): In der Darwinschen Urhorde herrschte ein »gewalttätiger, eifersüchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt«. Der Akt der Tötung dieses Patriarchen durch die sich zusammenrottende Brüderschar und seine spätere, das Schuldgefühl der Täter kompensierende kultische Verehrung, habe den Totemismus und das Inzesttabu der primitiven Völker begründet.
Girard bedient sich analytischer Werk- zeuge aus Freuds Arsenal wie Ambivalenz, Verdrängung, Projektion, Symbolbildung, um die Mythen und religiösen Riten der Menschheit zu entschlüsseln. Der kulturstiftende Ur-Mord wurde einmütig von der Gemeinschaft begangen, um die von der mimetischen Rivalität erzeugte Spannung, die zu eskalieren und sie zu zerstören drohte, auf ein stellvertretendes, entlastendes Ziel abzuleiten. Dieses Ziel ist der berühmte »Sündenbock«, dem die Schuld an der Misere und Zwietracht der Gruppe aufgehalst wird und dessen Opferung einen kathartischen Effekt haben soll.
Erst durch diesen Mord wird aus den rivalisierenden Individuen eine Gemeinschaft. Nicht nur werden sie durch die gemeinsame und später verdrängte Schuld geeinigt, das Opfer hat ihre Aggressionen, Rachegelüste und wechselseitigen Anschuldigungen gleichsam absorbiert und ihnen damit eine Möglichkeit geboten, aus der Spirale der Gewalt zu entrinnen.
Der kollektive Lynchmord löst die mimetische Gewaltkrise, weshalb das Opfer häufig im nachhinein als Stifterfigur oder göttliche Gestalt verklärt wird, während die sakralen Institutionen die ursprüngliche Opferung in symbolischer oder ritualisierter Form wiederholen. Das Heilige oder Sakrale ist also bei Girard mehr oder weniger identisch mit der Gewalt, deren religiöse Institutionalisierung verhindert, daß sich noch schlimmere Gewalt Bahn bricht. Girard sucht die Spuren dieses Gründungsmordes in antiken Mythen, griechischen Tragödien und den Riten primitiver Völker.
Die Pointe des archaischen Lynchmordes ist dabei, daß der Tatbestand bis zur Unkenntlichkeit verfälscht wurde, die Mythen also »lügen« und nicht beim Wort genommen werden dürfen. Des- halb muß Girard über weite Strecken Interpretationen bemühen. Der Mythos sieht im Opfer keinen »Sündenbock« in unserem reflektierten Sinne, also ein im Grunde unschuldiges Wesen, auf das die Sünden des Volkes lediglich projiziert werden, im Gegenteil: Damit die Opferung ihre heilstiftende Wirkung entfalten kann, müssen die Opferer von der Schuld des Sündenbocks überzeugt sein. Die Mythen interessieren sich nicht für die Opfer, da sie aus der Sicht der Täter erzählt werden.
Der Perspektivenwechsel setzt nach Girard erst mit dem Judentum ein. Das Alte Testament beginnt als erster religiöser Text den Opfern und ungerecht Verfolgten eine Stimme zu geben, etwa in den Psalmen oder im Buch Hiob. Doch erst mit dem Neuen Testament wird die Lüge, auf der die antiken Opferinstitutionen aufbauen, vollends entlarvt. Damit wird das Heidentum entsakralisiert. Diese Deutung der Bibel, die der Katholik Girard durchaus apologetisch verstanden haben wollte, ist der wohl fesselndste Aspekt seines Werkes. In der Erzählung von der Passion Christi käme ans Licht, »was seit Grundlegung der Welt verborgen« (Psalm 78) gewesen sei, nämlich das Geheimnis, daß die Opfer unschuldig, daß sie nichts anderes als Sündenböcke waren.
In seinen letzten Lebensjahren sah Girard die biblischen Prophezeiungen vom Ende der Welt in greifbare Nähe rücken: »Ein Ende Europas, der abendländischen, ja der ganzen Welt ist möglich«, sagte er 2007. Girard sah im Islamismus ein »Symptom eines Gewaltanstiegs globalen Ausmaßes«. Dieser Gewaltzuwachs gehe jedoch ursprünglich »vom Abendland selbst aus, da er die Form einer Antwort der Armen auf die Wohlhabenden annimmt. Er ist eine der Metastasen des Krebsgeschwürs, das die abendländische Welt befallen hat. Der Terrorismus ist die Vorhut einer allgemeinen Revanche gegen den Reichtum des Abendlandes.« Befangen in seiner Universaltheorie und ihren Prämissen, gelang es Girard nicht, ein wirklich schlüssiges Bild der heutigen Lage zu zeichnen. Mit dem Islam ist eine ausgesprochene Täterreligion auf den Plan getreten, wogegen er in der »politischen Korrektheit« eine Art »Superchristentum« sah, das von der Viktimisierung wie besessen und ständig auf der Suche nach neuen Opfern und Unterdrückungsmechanismen sei.
Vielleicht läßt sich das Phänomen der Opferhierarchien mit Girardschen Sonden durchleuchten. Der »Flüchtling« nimmt in der multikulturalistischen Imagination den Status einer geheiligten Figur ein, eines »Opfers« per se, das von Sündenbockmechanismen wie »Ausgrenzung« oder »Rassismus« bedroht sei. Diejenigen, die Gewalt durch Einwanderer erleiden, sind vielleicht nicht nur die Kollateralschäden der »antirassistischen« Utopie, sondern ein unbewußt dargebrachter, entsühnender Blutzoll an einen molochartigen Gott, der Vergeltung für die echten und vermeintlichen Untaten verlangt, die der europäische Mensch dem nichteuropäischen Menschen zugefügt hat.
Und während die multikulturalistische Politik Ungleiche zu Brüdern machen will, innere Spannungen und mimetische Rivalitäten schürt, hat sie einen Sündenbock für ihr permanentes Scheitern identifiziert: Die »Rechten« in all ihren Schattierungen, die das Experiment sabotieren. Man muß sie strafen mit Ausgrenzung und Ächtung. Von der kollektiven Verstoßung des »rechtsradikalen« Sündenbocks erhofft man sich die Einigung einer fragmentierten Gesellschaft im Zeichen der »Vielfalt«. In der Tiefenschicht steckt das Trauma des Zweiten Weltkriegs, die Erinnerung an die große mimetische Gewaltkrise Europas. Die Bedingung für den Frieden war die Verurteilung des deutschen Sündenbocks als Alleinschuldigen an dem Blutbad, auf den die anderen Nationen ihre Mitschuld abwälzen konnten. Sie begründeten den Mythos vom erschlagenen Drachen, auf dessen Grab eine neue Weltordnung errichtet wurde, die in den heutigen Globalismus der Grenzenlosigkeit mündete.