Der will nur spielen

Poli­ti­scher Akti­vis­mus ist ent­we­der ille­gal oder lang­wei­lig. Ob Bestei­gung eines Denk­mals oder Sitz­blo­cka­de vor einer Par­tei­zen­tra­le: Aktio­nen, die über die mono­to­nen Sprech­ge­sän­ge ange­mel­de­ter Demons­tra­ti­ons­zü­ge hin­aus­ge­hen, ver­sto­ßen in irgend­ei­ner Wei­se gegen die staat­lich ver­faß­te Ord­nung. Es gibt einen pro­pa­gan­dis­ti­schen Grund für den Regel­bruch: Er erzeugt Auf­merk­sam­keit. Mar­shall McLuhans Dik­tum, daß das Medi­um die Bot­schaft sei, gilt jedoch nir­gend­wo so sehr wie hier. Der Regel­bre­cher erklärt sich bereits durch den Regel­bruch zum nicht Ein­ver­stan­de­nen. Er wirft dabei gleich­zei­tig die Fra­ge auf, in wel­chem Ver­hält­nis er, der Regel­bre­cher, zu der von ihm ver­letz­ten Ord­nung steht.

Die­ter Tho­mä ver­sucht mit sei­ner Geschich­te des Stö­ren­frieds, des puer robus­tus, zu einer Theo­rie poli­ti­scher Ord­nung und Ord­nungs­stö­rung durch­zu­drin­gen. Die­se Geschich­te beginnt mit Hob­bes, der den puer robus­tus als Bild des gegen den Gesell­schafts­ver­trag auf­be­geh­ren­den Starr­kopfs in die poli­ti­sche Lite­ra­tur ein­führ­te. Sie beginnt jedoch auch in einem ande­ren Sin­ne mit Hob­bes, mit der Her­lei­tung des Staa­tes vom Indi­vi­du­um. Die zahl­rei­chen Vol­ten sei­ner, im übri­gen von einer ganz erstaun­li­chen Gelehr­sam­keit getra­ge­nen, Rei­se durch die Geis­tes­ge­schich­te der letz­ten drei Jahr­hun­der­te füh­ren in man­ches Mal an die Gren­zen die­ser Kon­struk­ti­on, doch er kehrt immer wie­der in sie zurück. Die Ver­trags­theo­rie kann er noch durch die Aner­ken­nung der Tat­sa­che über­kom­me­ner Insti­tu­tio­nen über­win­den, doch an der Grund­la­ge ändert sich nichts.

Denn daß Insti­tu­tio­nen über­haupt vor­han­den sind, wird von Tho­mä als Pro­blem auf­ge­faßt. Durch ihr blo­ßes Vor­han­den­sein ver­wei­sen sie den Gesell­schafts­ver­trag ins Reich der Legen­den. Mit der Figur des puer robus­tus ver­sucht Tho­mä die­sen Scha­den zu behe­ben, ohne die Gesell­schaft frei­er Indi­vi­du­en dabei auf­zu­ge­ben. Der puer robus­tus, der kräf­ti­ge Kerl, steht dabei sinn­bild­lich für die Limi­na­li­tät poli­ti­scher Ord­nung. Kei­ne Ord­nung umfaßt alles, son­dern sie ist durch die eige­ne Schwel­le bestimmt, eine Schwel­le, die zwar hemmt und ein­grenzt, aber auch über­schrit­ten wer­den kann. Die Dia­lek­tik von Ord­nung und Stö­rung tritt an die Stel­le des ein­mal fest­ge­setz­ten Gesell­schafts­ver­trags. An die­ser Dia­lek­tik ist an sich nichts aus­zu­set­zen. Im Gegen­teil, sie beschreibt eine grund­le­gen­de Tat­sa­che. Doch da der Feh­ler der Ver­trags­theo­rien nicht sys­te­ma­ti­scher, son­dern sub­stan­ti­el­ler Natur ist, gerät hier die Dia­lek­tik an ihre – abso­lu­ten – Grenzen.

Der indi­vi­dua­lis­ti­sche Mythos der Auf­klä­rung ist der ein­zi­ge Blick­win­kel, von dem aus Tho­mä das Pro­blem von Ord­nung und Ord­nungs­stö­rung zu betrach­ten ver­mag. Der Rah­men ist dadurch gesetzt. Zum Kern­pro­blem  wird das »Para­dox der Demo­kra­tie«. Es lohnt die­se Pro­blem­stel­lung in exten­so zu zitie­ren:

»Es wer­den zwei Krei­se gezo­gen: ein Kreis derer, denen Rech­te zuge­spro­chen wer­den und für die sie gel­ten, und ein Kreis derer, von denen Rech­te gesetzt wer­den. Um der Gleich­heit wil­len muß die Demo­kra­tie ver­su­chen, die­se zwei Krei­se zur Deckung zu brin­gen. Dies ist – kurz gesagt – unmög­lich. Selbst wenn eine demo­kra­ti­sche Ord­nung eta­bliert ist, besteht sie nicht stö­rungs­frei. Der ers­te Kreis wei­tet  sich  aus und umfaßt am Ende alle Men­schen, denn wer Rech­te bean­sprucht und wahr­nimmt, tut dies in sei­ner Eigen­schaft als Mensch, kraft sei­ner Freiheit.

Die Bür­ger­rech­te sind dem­nach dar­auf aus- gelegt, sich zu Men­schen­rech­ten aus­zu­wei­ten. Der zwei­te Kreis bleibt eng, denn die Gesetz­ge­bung ist an einen kol­lek­ti­ven Pro­zeß gebun­den, der fak­ti­sche Teil­nah­me und akti­ve Mit­wir­kung erfor­dert. Die Aus­wei­tung der Wil­lens­bil­dung auf alle Men­schen ist nicht zu machen.« (S. 109) Die Demo­kra­tie wird also defi­niert als eine Set­zung und Inan­spruch­nah­me von Rech­ten, von wel­chen die­se schon aus for­ma­len Grün­den uni­ver­sell sei und jene dem nor­ma­ti­ven Anspruch uni­ver­sel­ler Teil­ha­be unterliege.

Die­se radi­ka­le Entor­tung, die die Demo­kra­tie im Wort­sin­ne mit der Wur­zel her­aus­reißt, führt bei Tho­mä nicht zum Ruf nach der Welt­re­pu­blik, es ent­steht aber ein Bild, in wel­chem bestän­dig Außen­ste­hen­de in die bestehen­de Ord­nung ein­drin­gen und ihr Teil­ha­be­recht ein­for­dern. Da die­ser Pro­zeß nie an ein Ende kommt, kann man Tho­mäs Ide­al­de­mo­kra­tie als per­ma­nen­te Eman­zi­pa­ti­on beschrei­ben. Daß sozia­le Pro­zes­se ent­we­der dyna­misch sind oder tot, das sei hier noch nicht ein­mal ernst­lich in Fra­ge gestellt. Das Pro­blem besteht dar­in, daß sein Sche­ma gera­de die Erkennt­nis über sol­che Pro­zes­se blo­ckiert. Da die Inan­spruch­nah­me von Rech­ten dog­ma­tisch auf die Eigen­schaft des ver­meint­li­chen Rech­te­inha­bers der mensch­li­chen Spe­zi­es anzu­ge­hö­ren grün­det, kann die gan­ze Band­brei­te sei­ner wei­te­ren Eigen­schaf­ten nicht in Betracht kom­men. Die­je­ni­gen, die nicht auf indi­vi­du­el­le Eigen­hei­ten redu­zier­bar sind, fal­len sogar aus dem Wahrnehmungsraster.

Die Miß­ach­tung bestimm­ter Tat­sa­chen zuguns­ten ande­rer ist nun kei­nes­wegs immer ein Irr­tum. Sie ist not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung jeder Abs­trak­ti­on und jedes Modells. Mit sol­chen Abs­trak­tio­nen und Model­len kann und muß gear­bei­tet wer­den – aber im Bewußt­sein ihrer Gren­zen. Tho­mä aber, dar­in liegt die gött­li­che Iro­nie sei­nes Wer­kes, schließt aus was nicht ins Sche­ma paßt. Es darf nicht sein. Nichts ist hier so ver­rä­te­risch, wie ein Satz über die Natur der Natur:

»Viel­leicht soll­te man hier bes­ser von Pseu­do­na­tur spre­chen, denn hin­ter deren Macht kann eigent­lich alles ste­cken, wenn es nur die­ses eine Kri­te­ri­um erfüllt: daß es hors dis­cus­sion, allem Zwei­fel ent­ho­ben, schlech­ter­dings vor­ent­schie­den und im Ein­klang zu genie­ßen ist.« (S. 248) Die­ser Satz steht bezeich­nen­der­wei­se im Kapi­tel über Richard Wag­ner und zwar gegen Wag­ners For­de­rung an die Men­schen, in der »Erd­na­tur« die »Bedin­gung ihres Daseins, Lebens und Schaf­fens« anzu­er­ken­nen. Hier­in erkennt Tho­mä ein Dis­kurs­ver­bot, aller­dings nicht in dem Sin­ne, in dem die­ses Wort in den letz­ten Jahr­zehn­ten gebräuch­lich wur­de, als Ver­bot eines Dis­kur­ses über Tat­sa­chen. Im Gegen­teil, die Tat­sa­chen sind hier das Pro­blem. Sie stö­ren die Frei­heit der dis­cus­sion, die hier mit der Ver­hand­lung der Indi­vi­du­en über den Soll­zu­stand ihrer Gesell­schaft fast in Eins fällt. Die­se kaum ver­hüll­te For­de­rung nach einem Dis­pens  von der Wirk­lich­keit ent­springt dem Wil­len ein auf dem Indi­vi­du­um basie­ren­des poli­ti­sches Sche­ma zu hal­ten. Ohne die­se (halb-)bewußte Blind­heit wäre dies unmöglich.

Tho­mä kann am Ende einen orga­ni­scher Erneue­rungs­pro­zeß nicht ein­mal mehr von will­kür­li­cher Zer­stö­rung  unter­schei­den.  In gro­tes­ker Kon­se­quenz des »demo­kra­ti­schen Para­do­xes« wird die Geburt neu­er Kin­der der Ein­wan­de­rung gleich­ge­stellt (S. 537). Daß auf die­se Wei­se die Haupt­leid­tra­gen­den des Gro­ßen Aus­tauschs, die zukünf­ti­gen Gene­ra­tio­nen der euro­päi­schen Völ­ker, durch eine Ver­kür­zung der Wirk­lich­keit auf ein poli­tik­theo­re­ti­sches Rechen­ex­em­pel more geo­me­tri­co zur Recht­fer­ti­gung des ihnen zuge­füg­ten Unrechts her­an­ge­zo­gen wer­den, das ist an Abar­tig­keit nicht mehr zu über­bie­ten. Doch ist die­ser Schluß für jede Rechts­auf­fas­sung unver­meid­bar, die dem Recht sei­ne struk­tu­rie­ren­de Funk­ti­on eben­so aberkennt, wie sei­nen Grund in der  Wirk­lich­keit und es in die Rech­te von »Indi­vi­du­en« genann­ten Ein­hei­ten auf­löst, wel­che in eine nor­ma­ti­ve Gegen­welt entschweben.

Die Stoß­rich­tung Tho­mäs zeigt sich aller­dings in volls­ter Klar­heit erst in sei­nen Prä­fe­ren­zen, was die unter­schied­li­chen Arten von Stö­ren­frie­den angeht, die er im Ver­lauf der Neu­zeit zu erken­nen meint. Den »ego­zen­tri­schen Stö­ren- fried«, der aus Eigen­nutz die Regeln bricht, lehnt er noch aus offen­sicht­li­chen Grün­den ab. Im »nomo­zen­tri­schen Stö­ren­fried«, der die bestehen­de Ord­nung durch eine ande­re erset­zen will, erkennt er den Irr­weg des auf Dau­er gestell­ten Gesell­schafts­ver­tra­ges. Zum  Haß­ob­jekt  wird ihm jedoch der von ihm so beti­tel­te »mas­si­ve Stö­ren­fried«. Hin­ter  die­sem  Schreck­ge­spenst ver­birgt sich nicht weni­ger als der vollständige

Mensch, der das auf­klä­re­ri­sche Schrumpf­men­schen­ras­ter schon dadurch sprengt, daß sein Da- sein Dimen­sio­nen kennt, die dar­in nicht vor­ge­se­hen sind, vor allem sol­che, die über den Ein­zel­nen hin­aus­ra­gen. Unfrei­wil­lig komisch gerät Tho­mäs Ver­such die »mas­si­ven Stö­ren­frie­de« doch in die­ses Ras­ter zu quet­schen: »Sie sind nicht nur, als Indi­vi­du­en, for­mal gleich­ge­stellt, son­dern fusio­nie­ren zu einer gleich­ge­schal­te­ten Mas­se.« (S. 452) Tho­mäs Lieb­ling ist dem­ge­gen­über der »exzen­tri­sche Stö­ren­fried«, der Indi­vi­dua­list, der sich am Rand der Ord­nung auf- hält, ihre Gren­zen aus­tes­tet, ohne sie ein­rei­ßen oder ver­las­sen zu wol­len. Denn das Geheim­nis der Demo­kra­tie à la Tho­mä ist nicht nur, daß ihr der Demos abhan­den gekom­men ist, son­dern vor allem, daß sie mit ihren Bür­gern nichts anzu­fan­gen weiß.

Einen ernst­zu­neh­men­den Stö­ren­fried, der aus einem drän­gen­den Anlie­gen her­aus die Regeln bricht, kann sie nur als Bedro­hung wahr­neh­men. Hin­ge­gen kennt ein sol­ches Sys­tem kei­ne bes­se­ren  Bevöl­ke­rungs­be­stand­tei­le  als Links­al­ter­na­ti­ve. Die »Gesell­schaft des Spek­ta­kels« (Guy Debord) lebt von denen, die viel Lärm machen und doch nur spie­len wollen.

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