Der vorliegende Text Armin Mohlers erschien erstmals in einer Festschrift für den liberalkonservativen Publizisten und Verleger Johannes Gross (1932 –1999). Deutschland, ein Land in Europa. Eine Bestandsaufnahme vor der Jahrtausendwende (Köln 1992), herausgegeben von der Redaktion Impulse, war nicht für den Buchhandel vorgesehen und erreichte so nur eine kleine, überwiegend konservativ ausgerichtete Fachöffentlichkeit, die über den deutschen Neubeginn nach 1989 /90 sinnierte. Die Junge Freiheit brachte daher einen – in Inhalt und Umfang identischen – Paralleldruck in ihrer Sommerausgabe 1992, während in der Tageszeitung Die Welt vom 17. Oktober 1992 eine gekürzte Fassung als »Dornröschen liegt in der Traufe. Die Tücken einer unblutigen Revolution« erscheinen konnte.
Armin Mohler ging es in diesem Zeitraum grundsätzlich darum, daß notorische Vergangenheitsbewältigung – ob Bewältigung des Dritten Reichs oder der DDR – nur dem politischen Gegner in all seinen Schattierungen zugute komme. Die dauerhafte Selbstkasteiung, nach der Wende erweitert in bezug auf Stasi und SED-Funktionäre, würde, so Mohler mit Rückgriff auf Carl Schmitts Politikverständnis, das nationale Rückgrat und den Selbstbehauptungswillen der Deutschen nachhaltig schwächen. In diesem grundsätzlichen Sinne ist sein wiederholt überarbeitetes Buch Vergangenheitsbewältigung (1968, 1980, 1981), in bezug auf die ehemalige DDR vor allem aber sein pointiertes Werk Der Nasenring (in seiner zweiten Fassung von 1991) zu lesen.
In dem nachfolgenden Text wird Mohlers Widerwillen gegenüber einem bloßen ideellen wie politischen Westexport in die neuen Bundesländer spürbar. Der schweizerische Wahldeutsche hatte den für kluge Beobachtungen nötigen Abstand zur jüngsten Geschichte; er wollte nicht, daß die allzulange vom Stalinismus gepeinigten Mitteldeutschen nun direkt die Segnungen »gieriger Geister aus dem Rheinbund« empfingen. Stattdessen sei es an der Zeit, die nationale Versöhnung jenseits des West- und Ostblocks-Denkens herbeizuführen.
1.)
Im Februar 1992 kam es zu einem Novum in der bisher 43jährigen Geschichte des Deutschen Bundestages: Ein Bundestagsabgeordneter beging Selbstmord aus politischem Protest. Am Samstag, dem 15. Februar, erhängte sich der PDS-Abgeordnete und Staatsrechtsprofessor Gerhard Riege in seinem Garten irgendwo in der ehemaligen DDR. Am Sonntag nahmen sich der Rundfunk und das Fernsehen des Falles Riege an. Am Montag zog die Presse mit Details nach. So ist dieser Freitod zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden.
Ein Brief, den der 61jährige Selbstmörder, Vater von drei Kindern, seiner Frau hinterlassen hatte, ließ keinen Zweifel daran, wogegen sich dieser demonstrative Akt richtete. Er war einerseits ein Protest gegen die »zweite deutsche Vergangenheitsbewältigung« in Form des Stasi- Rummels, in die der Professor als zeitweiliger Stasi-Mitarbeiter selber verwickelt war. Ebensosehr war er aber auch ein Protest Rieges gegen seine Behandlung durch seine Bundestagskollegen: Er war kurz zuvor von jungen Abgeordneten der West-CDU niedergebrüllt worden – eine Erfahrung, die er als Ordinarius einer DDR-Universität noch nicht hatte machen können. Der Abschiedsbrief ist eine Mischung von Persönlichem (es fehle ihm »die Kraft zum Kämpfen und zum Leben«) und von gezielt Politischem:
»Ich habe Angst vor der Öffentlichkeit, wie sie von den Medien geschaffen wird und gegen die ich mich nicht wehren kann. Ich habe Angst vor dem Haß, der mir im Bundestag entgegenschlägt aus Mündern und Augen und Haltung von Leuten, die vielleicht nicht einmal ahnen, wie unmoralisch und erbarmungslos das System ist, dem sie sich verschrieben haben. Sie werden den Sieg über uns voll auskosten.«
Der traditionelle Hinweis, daß das Blut ein besonderer Saft sei, ist eine Metapher. Das heißt, daß man sie auch auf einen Selbstmord anwenden darf, bei dem kein Blut fließt. Wenn der hier zitierte Brief von einem Bundestagsabgeordneten geschrieben worden wäre, der in Bonn noch immer seinem Beruf als Volksvertreter nachgeht, so wäre diese Klage eine Stellungnahme zur deutsch-deutschen Vereinigungskrise (Arnulf Baring dixit) wie so viele andere auch. Daß sie die letzten Worte eines Mannes sind, welcher sie mit dem höchsten Opfer bekräftigt, das ein Mensch bringen kann, dem freiwilligen Tod, verschiebt die Anklage in eine ganz andere Dimension. Die zweite deutsche Vergangenheitsbewältigung erhält dadurch eine neue, erschreckende Färbung, und das in einer Situation, in der es den Zauberlehrlingen in Politik und Medien allmählich dämmert, welches Faß der Pandora sie mit der Freigabe der Stasi-Akten geöffnet haben.
Unter dieser Belichtung löst sich alles, was ein aufrechter Verfechter der FDGO-Ideologie gegen ein Mitglied des DDR-Establishments wie Riege auf dem Herzen haben könnte, in Schattenboxen auf. Angesichts der Identifikation von DDR und Stasi kommt es auf die Details einer Stasi-Mitarbeit – in welchem Alter? wie lange? aus welchen Gründen? – gar nicht mehr an. Schließlich weiß man ja nun, daß jede Berufstätigkeit von einiger Wichtigkeit ohne Stasi- Kontakte gar nicht möglich war. Jedem, der die Stufen hinaufzuklettern begann, war natürlich »sein« Stasi-Mann bekannt – auch wenn er das freiwillig nicht zugibt angesichts der heute durch die Gassen und Gossen tobenden Hexenjagd. Und diese Jagd erleichtern sich ihre Promotoren dadurch, daß sie zunächst jeden vorbeugend unter Verdacht stellen, der einen Weg zwischen aktivem Widerstand und totaler Staatshörigkeit suchte.
Wer weder ein Held noch ein Schurke war (und das war die große Mehrheit der DDR-Deutschen), steht jetzt unter Beweislast. Die Stasi-Akten, von denen keiner genau weiß, was an ihnen gelogen oder auch nur manipuliert ist, machen den Dschungel bloß dichter, aus dem schon jetzt kaum jemand mehr her- ausfindet, und das im Zeichen der Dämonisierung eines Ministeriums, von dessen Angestellten bloß eine Minderheit mit geheimpolizeilichen Aufgaben betraut war. Die Mehrheit hatte, neben reiner Verwaltungstätigkeit, eine ebenso gigantische wie absurde Aufgabe: Sie sollte mit einer Mixtur aus Psychologie und Ideologie den Apparat DDR im Gange halten – mit einer Art Doping als Ersatz für die Reize des Westens. Aber in der heutigen Stasi-Hysterie steht man wie ein Märchenerzähler da, wenn man so et- was zu erklären versucht.
Was an Bildern zum Fall Riege über die Presse und den Bildschirm kam, machte in seiner Zugespitztheit durch Extremfiguren die heutige Spannung zwischen Westdeutschland und der DDR physiognomisch deutlich. Auf der einen Seite, derjenigen der Sieger, die Yuppies der West-CDU, welche, in fundamentaler Unkenntnis anderer Welten als der ihren, nun guten Gewissens einen alten »Roten« zur Strecke bringen konnten. Auf der anderen Seite der Abgeordnete Riege, immerhin vom Volk gewählt, aber schon durch seine geographische Herkunft in die Rolle des Besiegten gezwungen. Seinem müden, schmalen Gesicht war etwas von jener »Innerlichkeit« abzulesen, welche der Psychiater Hans-Joachim Maaz unter dem Begriff »Gefühlsstau« zur seelischen Grundstimmung sei- ner DDR-Landsleute erklärt hat.
Übrigens ist der Tod von Gerhard Riege nicht der erste Selbstmord aus Protest gegen die Vergangenheitsbewältigung in der deutschen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings fand dieser Freitod unter ganz anderen Bedingungen statt. Er richtete sich gegen die von den Siegern auferlegte Hitler-SS-Bewältigung, und der Täter war kein Bundestagsabgeordneter und auch sonst keine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, sondern ein Privatmann, von Beruf Apotheker. Er hatte bis zur Niederlage der SS angehört, war keiner Verbrechen schuldig und wehrte sich dagegen, allein wegen seiner SS-Zugehörigkeit zum Kriminellen gestempelt zu werden.
Unter den damaligen Verhältnissen hatte er jedoch nur geringe Chancen, gehört zu werden – dagegen stand in jenen Anfangsjahren der Bundesrepublik nicht nur die offizielle Politik, sondern auch das Bedürfnis der Heimkehrer, sich von je- der Politik ungestört dem Wiederaufbau zu widmen. Nur ein Eklat in aller Öffentlichkeit konnte ihm Gehör verschaffen. Der Apotheker ließ sich an einem der frühesten Evangelischen Kirchentage (in Stuttgart) vor Tausenden von Leuten am Mikrophon auf ein Streitgespräch mit Günter Grass ein. Thema: die Vergangenheitsbewältigung. Am Schluß der Auseinandersetzung rief der Apotheker: »Ich grüße meine Kameraden von der SS!«, schluckte eine Giftkapsel und sank tot um.
Die Rechnung ging jedoch nicht auf; der Opfertod des Apothekers stieß ins Leere. Die Versammlungsleitung ließ den Körper des Toten als einen in Ohnmacht gefallenen Gestörten in den Kulissen verschwinden. Die Medien, die damals noch nicht so selbstherrlich waren, konnte man auf ein totales Schweigen vergattern. Bloß in der Kirchentags-Reportage von Christ und Welt blieb aus Versehen (oder als Sabotage?) ein einzelner, unklarer Satz über den Vorfall stehen. Dem Kontrahenten des Selbstmörders, Günter Grass, war die Geschichte unbehaglich: er ging später in einem seiner Bücher auf den Fall ein – doch ohne offen zu sagen, um welchen Protest es sich dabei gehandelt hatte. In unserer Medienwelt existiert nicht, was nicht gemeldet wird. Gerhard Riege erging es besser – sein Opfertod bewegte die Öffentlichkeit wenigstens während eines Wochenendes.
Gewiß, nach wenigen Tagen schon hat man nicht mehr vom Freitod Rieges gesprochen. Hätte Günter Grass an jenem Kirchentag aus Protest gegen – sagen wir: Globke zur Giftkapsel gegriffen, so wäre die Bundesrepublik in ihren Grundfesten erzittert. Was da alles geschehen wäre und sich bis heute fortgepflanzt haben würde – es ist ein Romanstoff würdig eines Eckhard Henscheid. Da es sich umgekehrt vollzog, leierte sich der gewohnte Bewältigungs- und Betroffenheits- Diskurs bald wieder ein. Doch der Schock wirkt. Die Postenjäger, welche den Stasi-Mythos vor allem aufblähen, erinnern an jene »Carpet-Baggers« (von englisch Carpet-bag – Reise-Tasche), die am Ende des amerikanischen Bürgerkrieges (1865) aus dem siegreichen Yankee-Norden in den verwüsteten Süden ausschwärmten. Wer sich auf das »mehr oder weniger« solcher Leute einläßt, ist bald in die Situation gedrängt, in der nur noch das »entweder-oder« gilt. Das war die Lage, auf die Gerhard Riege mit der absoluten Verweigerung antwortete.
2.)
Die Anpasser-Gesellschaft kennt keinen Ernstfall; sie kann ihn nicht gebrauchen. Deshalb ist ihr der Tod auch kein Thema, denn er ist der absolute Ernstfall, sozusagen der Ernstfall an sich. Wer die deutsche Politik von heute verstehen will, der muß wissen, daß sie ein einziger großer Versuch ist, den Tod auszugrenzen. Das liegt an den weißen Jahrgängen, die nun in ihr das Sagen haben. Für sie darf der Tod nicht mehr, wie Paul Celan sagte, der Meister in Deutschland sein. Unter der Käseglocke der von ihren tüchtigen Vätern errichteten Bundesrepublik erträumten sie sich eine Politik, ja überhaupt ein Leben ohne Tod. Ihren Vätern und Müttern war der Tod noch vertraut, ob sie nun draußen im Feld oder in ihren Städten den Bomben ausgesetzt waren. Sie wußten, daß man dem Tod nicht ausweichen kann, daß er jeden früher oder später erreicht.
Dieser Satz ist, für sich allein, eine Banalität. Die Würze gibt ihm erst eine tief im Menschen verwurzelte, intensive Gewißheit, daß jedem von uns dasselbe »Quantum« an Schmerz zugeteilt wird, mit dem wir unser Leben zu »bezahlen« haben. (Absichtlich drücken wir uns mechanisch-ökonomisch aus, damit der Satz nicht zu mystisch tönt.) Die Frage ist nur, ob wir von den Göttern, vom Zufall oder von wem auch immer jenes Quantum Schmerz und Leiden auf einen Schlag zugeteilt erhalten oder auf viele kleine Portionen verteilt. Hätte Gerhard Riege nicht Hand an sich gelegt, sondern noch lange weitergelebt, so hätte er vielleicht mit täglicher, leichter Migräne bezahlen müssen – ein Intellektuellen-Schicksal.
Der Schreibende ist sich bewußt, daß solche Spekulationen in einer auf maximale Schmerz- Vermeidung ausgerichteten Gesellschaft reine Obszönitäten sind. Er bricht sie deshalb an dieser Stelle ab und kehrt zur Interpretation von konkreten geschichtlichen Situationen zurück. Er wendet sich wieder dem recht aktuellen Thema der »weißen Jahrgänge« zu.
3.)
Der Begriff »weiße Jahrgänge« wurde ursprünglich für jene Jahrgänge geprägt, deren Männer für die militärische Ausbildung im Dritten Reich noch nicht und für diejenige in der Bundesrepublik nicht mehr in Frage kamen. In diesem engen Sinne ergibt das (sofern man die Luftwaffenhelfer noch der Wehrmacht des Dritten Reiches zurechnet) eine Reichweite von zehn Jahren – etwas wenig, um von einer »Generation« sprechen zu können. Der Begriff »weiße Jahrgänge« hat sich jedoch, wie so manche Begriffe, bald von seiner Wurzel gelöst und ist ins Allgemeinere zerflossen. Er wurde zu einem Sammelnamen für die heute etwa 40- bis 60jährigen. Und die Farbe Weiß scheint für diese Jahrgänge unmittelbar einzuleuchten – vom Weiß der Unschuld über die weiße Fahne und »weiß vor Angst« bis hin zu dem von Matthias Horx in seinem Wörterbuch der 90er Jahre so hinreißend geschilderten Wohnen (oder Nichtwohnen) in den sogenannten »Weißen Wohnungen« (ein Probezitat daraus: »… die Bewohner sind selten anzutreffen; oftmals über Wochen glüht im Flur nur das rote Auge des Anrufbeantworters« – fast ein Vers von Verlaine).
Der Schreibende denkt eher an ein weißes, unbeschriebenes Blatt Papier als Emblem für diesen geistigseelischen Typus, dem natürlich nicht alle Männer und Frauen zwischen vier- zig und sechzig zuzurechnen sind. Doch ist sein Anteil an jener Generation schon erschreckend hoch. Das wichtigste Charakteristikum dieses Typus ist die Weigerung, die Kompliziertheit, Ungerechtigkeit, Unausweichbarkeit aller Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Das In-sich-Verschlungene, Paradoxe, Nicht-auf- einen-Nenner-zu-Bringende der Welt um uns herum (und in uns) ergibt eine Reliefkarte mit so vielen Buckeln und schwarzen Löchern, daß sie für die weißen Eunuchen inakzeptabel ist und nur die Erfindung böser Menschen sein kann. Der Tod ist abgeschafft, und selbstverständlich auch alle Verbrechen (Hitler hat sie im Monopol übernommen). Man sitzt als freies Individuum (befreit vom Bösen wie von allen Bindungen) vor seinem glatten Blatt Papier und zieht mit kalten Strichen jene Grundsätzlichkeiten nach (Utopien sind out), die von einigen Wirklichkeitsbesessenen immer noch nicht respektiert werden.
4.)
Nun ist das Grundsätzliche der Meister in Deutschland. Es hat den Sturz der Utopien überstanden. Selbst Realisten sind gegen diesen Virus nicht gefeit. Auf die Frage nach dem souveränen Stil, in dem die Franzosen und die Spanier ihre innenpolitischen Zerreißproben bestanden – die einen nach dem Vichy-Staat, die anderen nach Francos Tod – und den inneren Frieden wieder- herstellten, gibt es beispielsweise interessante Erklärungsversuche, aber sie kranken meist an einer für die »weißen Jahrgänge« spezifischen Blindheit: Sie machen die Ausgrenzung des Todes mit. Man will einfach nicht sehen, daß jenen Amnestien monströse Blutbäder vorausgegangen sind, ohne die es in Frankreich und Spanien nie zu einer inneren Befriedung gekommen wäre.
Zwischen dem Abzug der deutschen Besatzer im August 1944 und dem Sommer 1945 erlebte Frankreich ein Interregnum, an das die Franzosen aller Lager, sofern sie es nicht verdrängten, nur mit Scham und Schrecken zurückdenken. Die Macht war aufgeteilt zwischen einer alliierten Invasionsarmee, deren Ziel die Eroberung Deutschlands war, und einer provisorischen Regierung de Gaulles, die sich erst Autorität verschaffen mußte.
Das Land geriet auf weite Strecken in die Hand von aus dem Vakuum aufgestiegenen Provinzhäuptlingen ohne Legitimation; unkontrollierbare Banden mit pseudopolitischem Aufputz zogen raubend und mordend durch das Land; die Justiz, die Polizei und die verunsichert und gelähmt. Frankreich war wie ein Kessel, der zu lange auf dem Feuer stand und dann den Deckel wegsprengte – die durch die Fremdherrschaft und den Anpassungszwang aufgestauten Aggressionen hatten freien Lauf. Die Zahl der Menschen, die in Frankreich nach dem Abzug der deutschen Truppen ohne gerichtliches Urteil umgebracht wurden, liegt bis heute im Dunkeln – amerikanische Schätzungen stiegen bis auf 100000 Opfer. Es gibt viel polemische Literatur über diese Crimes de la Libération (Befreiungs-Verbrechen) – an wissenschaftlich zugänglicher Literatur liegt nur wenig vor. (Zuletzt das zweibändige Werk L‘épuration sauvage 1944 –45 von Philippe Bourdrel, 1988 und 1991 bei Perrin erschienen.) Diese Vergangenheit ist bis heute unbewältigt geblieben.
Was Spanien betrifft, so braucht auf des- sen vom Juli 1936 bis zum April 1939 wüten- den Bürgerkrieg nicht besonders hingewiesen zu werden – er ist bekannt als einer der mörderischsten Bürgerkriege der neueren Geschichte. Gefangene wurden auf beiden Seiten kaum gemacht, der Haß war so intensiv, daß man sogar längst mumifizierte Priester und Nonnen aus ihren Gräbern zerrte und vor den Kirchen in Parade aufreihte. Doch wenn nach Francos Tod ein Spanier oder eine Spanierin gefragt wurde, weshalb nun die alten Rechnungen nicht präsentiert würden, so bekam man fast automatisch dieselbe Antwort zu hören: fast jede spanische Familie habe auf der einen oder anderen Seite des Bürgerkriegs ihre Opfer gebracht (oft sogar auf beide Lager verteilt) – nun müsse endlich ein Schlußstrich gezogen werden.
Im Nachkriegs-Frankreich war es ähnlich. Die französische Amnestie-Gesetzgebung nach 1945 ist zwar sehr kompliziert und auf viele Nummern des Journal Officiel verteilt. Erkennbar ist jedoch ihr Bemühen, eine »Instrumentierung« des in der Vergangenheit Geschehenen zu verhindern. Gewiß wurden Franzosen wegen ihres Verhaltens während der deutschen Besetzung bestraft. Hatte ein Bürger jedoch ein solches Verfahren einmal hinter sich, so war es den Medien bei schwerer Strafe verboten, dem Mitbürger seine alten Sünden bei jeder Gelegenheit um die Ohren zu klatschen. (Einer der Gründe, weshalb es keinen französischen Spiegel gibt.) Hinter dieser Gesetzgebung steht die Tradition des Oubli du passé (Vergessen der Vergangenheit), der ein Produkt von Frankreichs jahrhundertealter Erfahrung von Bürgerkriegen ist. Er wurde nach dem Terror der Französischen Revolution zu einem Verfassungsparagraphen. In der Verfassung von 1814 liest man den Artikel 11: »Jede Nachforschung nach den Meinungen und Stimmabgaben bis zur Wiederherstellung des Königtums ist verboten. Dieses Vergessen ist auch den Gerichten und den Bürgern auferlegt.« Und nach der Juli-Revolution ist dieser Paragraph unverändert in die Verfassung von 1830 übernommen worden.
5. Der Schreibende ist nicht so töricht
ein vorausgehendes Blutbad als Conditio sine qua non für eine innerpolitische Befriedung anzusehen. Er maßt sich auch keine Aussage an, welches Ausmaß ein Blutbad annehmen müßte, um besonders friedensstiftend zu sein. Wenn etwas unberechenbar ist, nicht eingeplant werden kann, dann der Tod. Und die Geschichte funktioniert nun einmal nicht wie ein Zigarettenautomat, wo unten stets das Gewünschte herauskommt. Keine geschichtliche Situation wiederholt sich bis ins Detail; keiner kann die unzähligen, stets durcheinander wechselnden Faktoren noch überblicken, welche in ihrem Zusammenspiel die jeweilige Situation konstituieren. Auch das sind alles Banalitäten. Aber sie müssen ausgesprochen werden im Medienzeitalter, welches das Nachdenken auf die Schlagfertigkeiten eines Talk-Show- Stars zu reduzieren versucht. Ein Historiker mag noch so differenziert das Geschehene darstellen und analysieren – als Prognostiker kann er höchstens von Tendenzen, von Wahrscheinlichkeiten sprechen, und das mit Vorsicht und Vorbehalt.
Eine letzte »Banalität« ist noch nachzuschieben: Der Mensch ist weder ein Engel noch ein Teufel, sondern wechselt zwischen diesen beiden Polen hin und her. Diese Banalität zielt gegen die unsere Gesellschaft beherrschende Mode, daß jeder für seine guten Absichten prämiert werden möchte. Der große alte Recke Georges Sorel hielt diese »idealistische Desorganisation« für die Wurzel unserer Dekadenz. Er hielt nichts von großen Worten. (Seine eigene Sprache ist alles andere als flott – manchmal wird sie quälend mäandrisch.) Sorel, diese absurde Kreuzung eines Revolutionärs mit einem gigantischen Reaktionär, lehnte es ab, einen Menschen nach dem zu beurteilen, was er denkt, sagt oder zu tun vorgibt – das einzig Gültige war für ihn, was dieser Mensch wirklich tat.
Der Hinweis auf die blutigen Wirren in Frankreich und Spanien hat seine guten Gründe. In der Republik der Weißen Jahrgänge macht man es sich etwas leicht mit dem Komplex Blut/ Geschichte/Politik – und dies hat auch seine Folgen. Die Apperzeptionsverweigerung (Doderer dixit) gegenüber dieser Seite der Geschichte ist eine der Wurzeln der Verstiegenheit und Verkrampftheit der Politik – erst in der Bundesrepublik, heute in Deutschland. Sie blockiert seit langem eine realistische Sicht der menschlichen Natur und macht damit eine vernünftige, wirk- same Politik unmöglich. Wer Politik betreiben will, ohne dabei den »Schweinehund im Menschen« wachsam im Auge zu behalten, wird nicht bloß zum Gespött der weniger doofen Nachbarn. Er wird dadurch auch zu einem leichten Opfer jedes Erpressers, vom fremden Staatsoberhaupt die ganze soziale Leiter runter bis zu lokalen Demagogen und zu Mißbrauch treiben- den Parasiten des »Sozialen Netzes« (wozu wir nicht bloß Schein-Asylanten aus weiter Ferne, sondern auch Pseudo-Intellektuelle aus nächster Nachbarschaft rechnen).
Allerdings haben die Weißen Jahrgänge in dieser Sache ein wirksames Alibi. Es heißt Adolf Hitler (oder Auschwitz). Es ist ja nicht so, daß es für sie keine politischen Verbrechen gäbe. Eine Art von politischen Verbrechen ist für sie existenziell unentbehrlich, weil sich die weißen Hemdchen so gut von ihnen abheben. Diese schwarze Hintergrundskulisse ist nicht nur sehr abstrakt und allgemein (Jenninger bekam es zu spüren, als er ins Detail gehen wollte). Sie ist auch äußerst stabil, weil ihre Unvergleichlichkeit nicht ins Grundbuch, sondern ins Strafgesetzbuch ein- getragen wurde In Sachen DDR hat sich der Schreibende 1975 als Prognostiker versucht.
Er antwortete auf die Rundfrage der Zeitschrift Europäische Ideen (Wiedervereinigungs-Sondernummer, 1975, Heft 10 /11), ob zwischen den beiden deutschen Staaten ein Bürgerkrieg oder die Wiedervereinigung zu erwarten sei. Die Antwort lautete: die Wiedervereinigung. Die Argumente waren die Widerborstigkeit des Menschen im Allgemeinen und die stets erstaunlichen Reserven der Deutschen im Besonderen. Vor allem aber: für das deutsche Volk, diesseits und jenseits der Mauer, war die nationale Einheit eine Selbstverständlichkeit – die »deutschen Identitätsprobleme« blieben stets die Angelegenheit einer kleinen Minderheit von Intellektuellen und Berufspolitikern.
So weit so gut. Die beiden letzten Sätze auf der zur Verfügung stehenden Seite waren jedoch zu euphorisch, um zu treffen: »Wenn, aus irgendeinem Grunde, der Tatzengriff der Supermächte locker wird, so ist die Wiedervereinigung eine Sache von Stunden.« So schnell ging es dann doch nicht. Vollends daneben ging der allerletzte Satz: »Der einzige Bürgerkrieg wird darin bestehen, daß jene Funktionäre und Ideologen (welcher Farbe auch immer), die die Spaltung konservieren wollen, weggefegt werden.« Der Schreibende kann sich diesen Satz nur so erklären, daß sein achtjähriges Leben in- mitten von Franzosen damals noch nicht so weit zurücklag.
War der Zusammenbruch der DDR, Musterbeispiel einer Implosion, 1989 im Zusammenhang der Weltpolitik nur in Form einer friedlichen, unblutigen Revolution möglich? Als einer, der bei einem blutigen Verlauf seine Haut kaum hätte zum Markt tragen müssen, wagt man diese Frage nicht zu beantworten. Einer, dessen Stimme Gewicht hat, ist der bereits zitierte Hallenser Psychiater Hans-Joachim Maaz. Wenn man sein »Psychogramm der DDR«, das 1990 unter dem Titel Der Gefühlsstau (Argon- Verlag, Berlin) zum Bestseller wurde, nach zwei Jahren wieder liest, macht man eine eigenartige Erfahrung. Aus Abstand entdeckt man den Kern des Buches. Es ist des Psychiaters Skrupel, ob er seine von den DDR-Zuständen bedrückten Patienten mit seinen therapeutischen Anstrengungen nicht um den erlösenden Durchbruch ihrer aufgestauten Aggressionen betrogen habe. Der Psychiater fragt sich selber, doch ohne eine eindeutige Antwort zu geben: Was wäre gewesen, wenn’s doch blutig geworden wäre?
Die friedlichen Demonstrationszüge auf den Straßen der DDR im Herbst 1989 sind auch demjenigen unvergeßlich, der sie nur über das Fernsehen verfolgen konnte. Zunächst hatten die Züge sich ja nicht sonderlich von dem in der BRD Gewohnten unterschieden: Sprechchöre, Transparente aller Art, Zwischenrufe, Solos der Anführer am Lautsprecher, Fahnen der verschiedensten Lager und so fort. Doch langsam begannen sich die Züge zu verändern. Als die Prominenz aus der Kultur und den Kirchen, die bloß die halbe Wiedervereinigung wollte, wegzubleiben begann, wurden die Demonstrationen zwar simpler – der Berliner Witz zog sich allmählich aus den Transparenten zurück. Aber was wäre lapidarer als zunächst »Wir sind das Volk«, dann »Wir sind ein Volk«?
Man kannte zwar Schweigemärsche auch aus der Bundesrepublik, doch nicht von diesem Umfang, nicht von dieser langsamen Getragenheit, von dieser seltsamen Mischung aus Verzweiflung, Trotz und Schicksalsergebenheit. Der Schreibende muß sogar gestehen, daß diese Züge für ihn etwas Unheimliches hatten. Er konnte es nicht mit dem ihm vertrauten Bild der Deutschen vereinbaren. Diese sich langsam und stumm vorschiebenden Züge hatten etwas so traumatisch Erstarrtes, daß man der Frage nicht ausweichen konnte: In was wird diese Starre umschlagen? Zum Umschlagen kam es aber nicht.
Alle Vergleiche zwischen der DDR und dem Dritten Reich sind unsinnig, weil das eine Vergleichsobjekt unter Frageverbot steht und das andere nun auch noch unter dieses Verbot zu geraten droht. Aber vielleicht darf man doch – wie der verfolgte Hase einen großen Haken schlägt – die Detailfrage stellen, weshalb die Westdeutschen erst Jahrzehnte nach Kriegsende so richtig in die Mangel der Vergangenheitsbewältigung gerieten. Die ersten Nachkriegsjahre waren ja, mindestens in Sachen des Bewältigens, eine Idylle gemessen an dem, was seit anderthalb Jahrzehnten gespielt wird.
Die landläufigen Antworten kennt man: Die USA hätten sich die Westdeutschen als Fußvolk für einen möglichen Zusammenstoß mit der anderen Supermacht reservieren wollen; die Söhne der deutschen Kriegsgeneration hätten die Bewältigung als Waffe benützt, um ihre Alten Herren aus den Kommando-Sesseln zu drängen – daran mag einiges richtig sein. Es hat sich jedoch in der konkreten Situation von 1945 für die Westdeutschen etwas entwickelt, was man eine juristisch nicht kodifizierte De-facto-Generalamnestie nennen könnte.
Zunächst einmal kam den Westdeutschen zugute, daß die Führungsgarnitur des Dritten Reiches stellvertretend für das Volk die Zeche bezahlte. Von den führenden Männern hat keiner versucht, am Tegernsee in Pension zu gehen. Die einen begingen Selbstmord, die andern endeten am Nürnberger Galgen, einer wurde vor Kriegsende von Partisanen erschossen. (Zum Vergleich: kein Mitglied des Politbüros oder des Zentralkomitees der DDR hat sich umgebracht; die gemeldeten Selbstmorde erfolgten nur bis zur Stufe der Bezirks- und Kreissekretäre, was ungefähr den Gauleitern und Kreisleitern der NSDAP entspricht.) Vor allem aber haben die Deut- schen vor 1945 – ob sie nun für oder gegen Hit- ler waren, die alliierten Bomben unterschieden da nicht – wie ihre Gegner auch selber immense
Opfer bringen müssen, ob als Soldat oder als Ziviler, als Gefangener oder Vertriebener, bis in jede Familie hinein und unter allergrößter Verwirrung der Fronten. So konnten sich die überlebenden Deutschen von 1945, Gute und Böse nebeneinander, darauf berufen, daß auch sie einen Teil der Zeche bezahlt hätten, im Kollektiv sozusagen – und in der berechtigten Hoffnung, daß sich in dem großen Aufwasch das Kleine von selbst erledigen würde, weil absolute Gerechtigkeit ohnehin nicht erreichbar sei. Es ist denn auch in der Tat viel Ballast weggeschwemmt worden, dessen »Aufarbeitung« niemandem geholfen hätte. Man konnte aufatmen und einen neuen Anfang versuchen.
Das ist ein flüchtig skizziertes Modell, wie man sich den Übergang vom Dritten Reich in die Bundesrepublik von Bonn vorstellen kann. Die geschichtliche Zäsur von 1945 wird sich nicht wiederholen. Doch ihr Modell sollte zeigen, was eine solche Zäsur bewirken kann. Das Zerhauen des Knotens allein hilft nicht. Es gilt auch Ballast abzuwerfen und so Raum für einen neuen Anfang zu schaffen. Leider hat die Geschichte der DDR keine solche Zäsur beschert. Kann man eine Zäsur simulieren? Dazu hätte es eines großen Atems auf Seiten des westdeutschen Partners bedurft. Doch Helmut Kohl hatte sich, nach seinem respektablen Sturmlauf zur nationalen Vereinigung, längst wieder auf den liberalen Standpunkt zurückgezogen: Geld und gute Worte, der Markt wird es schon von selbst regulieren – tschüß, wir fahren gleich nach Europa weiter …
So fiel Dornröschen, noch belämmert von viereinhalb Jahrzehnten stalinistischen Stumpfsinns, in die Hände kleinerer und gierigerer Geister aus dem Rheinbund. Die wollten ihm weis- machen, es brauche nur alles zu tun, was Rüdiger Altmanns berühmter kastrierter Kater schon immer getan habe – dann werde alles wieder gut. Das unter der Bonner Käseglocke entwikkelte rechtsstaatliche Instrumentarium reicht je- doch für den Ernstfall nicht aus. Kleine Mau- erschützen zu verknacken ist keine läuternde Katharsis, sondern ein blanker Hohn. Und sich von den geilen Medien mit dem Stasi-Mythos eine zweite deutsche Vergangenheitsbewältigung aufschwatzen zu lassen, nachdem die erste schon versagt hat, ist ein heller Wahnsinn.
Die Wessis sollten zur Kenntnis nehmen, was ihnen ein legitimer Sprecher der DDR, der große Maler Wolfgang Mattheuer, schon am 10.April 1991 (in der Welt) in knorrigem Malerdeutsch zugerufen hat: »Nur ein starkes, vor allem selbstverständliches Nationalbewußtsein verklammert die Teile und versöhnt und eint die Menschen.« Ein solches »realexistierendes Nationalbewußtsein« sei jedoch nicht vorhanden, »da ein solches, in der geographisch west- lichen und der politisch linken deutschen Bevölkerung hochprozentig, wenn nicht sogar mehrheitlich, als Gefühlsduselei banalisiert, der Lächerlichkeit preisgegeben oder als friedensbedrohend verteufelt, nur noch ein verstecktes und verschämtes Erinnern war und ist.«