Das europäische Ich

Europa ist geteilt, die Trennlinie verläuft zwischen Finnland und Rußland entlang durch die Ostsee auf Lübeck zu...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

… an der ehe­ma­li­gen inner­deut­schen Gren­ze und der Tsche­chi­schen Repu­blik ent­lang um Öster­reich her­um bis hin­un­ter nach Tri­est: im Wes­ten fast aus­sichts­los über­rannt von Nicht-Euro­pä­ern, im Osten nicht; im Wes­ten öko­no­misch unvor­stell­bar pro­duk­tiv, im Osten nicht; im Wes­ten ohne Chan­ce auf natio­nal-wider­stän­di­ge Mehr­hei­ten (zu gründ­lich ist eine selbst­be­wuß­te Poli­tik durch Natio­nal­ma­so­chis­mus, poli­ti­sche Kor­rekt­heit und repres­si­ve Tole­ranz zer­stört wor­den), im Osten Ansät­ze, wirk­sa­me Zusam­men­schlüs­se gegen die EU mit völ­lig ande­ren Para­me­tern zu bilden.

Unter den im Euro­pa-Heft der Sezes­si­on vor­ge­stell­ten Euro­pa-Kon­zep­ten ist das »Euro­pa der Vater­län­der« das unse­rem Kon­ti­nent ange­mes­se­ne, das Inter­ma­ri­um (inklu­si­ve sei­ner Visegrad-Keim­zel­le) mit Blick auf die heu­ti­ge Lage und vor allem auf die zukünf­ti­ge Ent­wick­lung das wün­schens­wer­te. Es ist das Kon­zept einer Sezes­si­on des Ostens vom Wes­ten. Zu die­ser The­ma­tik hat Mar­tin Licht­mesz im Heft unter dem Titel “Wenn Aene­as vor der Wahl steht” einen groß­ar­ti­gen Bei­trag vorgelegt.

Die neu­en Bun­des­län­der gehö­ren dabei in Men­ta­li­tät, All­tags- und Wahl­ver­hal­ten sowie his­to­ri­schem Bewußt­sein zum Osten.

Der euro­päi­sche Osten besitzt Stoff genug für eine ver­bin­den­de, gro­ße Erzäh­lung – für das also, was ein Wir-Gefühl stif­ten und zwan­zig Natio­nen über­wöl­ben könn­te. Es ist der anti­to­ta­li­tä­re Befrei­ungs­kampf gegen eine kur­ze natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Besat­zung oder faschis­ti­sche Epo­che und danach gegen eine jahr­zehn­te­lan­ge sowje­ti­sche Besat­zung samt ihrer Schlüs­sel­er­eig­nis­se 1953 (DDR), 1956 (Ungarn), 1968 (Tsche­cho­slo­wa­kei), 1980 (Polen) und end­lich 1989/90 (Befrei­ungs­re­vo­lu­ti­on in allen Ländern).

Sicht­bar und zum Besu­cher­ma­gnet gewor­den ist die­se Rück­erobe­rung der natio­na­len Sou­ve­rä­ni­tät im Muse­um »Ter­ror Haza« mit­ten in Buda­pest. Ohne Opfer­hier­ar­chie sind dort die in den Ker­kern und Lagern Getö­te­ten von 1944 bis 1989 in Bil­der­ga­le­rien neben­ein­an­der auf­ge­reiht, und die Täter-Akten über die faschis­ti­schen (1944 – 1945) und kom­mu­nis­ti­schen (1945 – 1989) Gewalt­herr­scher und Scher­gen lie­gen neben­ein­an­der in den Archi­ven des Museums.

Daß jedes der Län­der ost­wärts der mar­kier­ten Linie ein sol­ches Archiv auf­bau­en, eine sol­che anti­to­ta­li­tä­re Befrei­ungs­er­zäh­lung ver­brei­ten könn­te, ist das Ver­bin­den­de und zugleich das Tren­nen­de: Die Geschich­te hat den Osten Euro­pas mehr als skep­tisch gemacht gegen­über euro­päi­schen Träu­men, die an der natio­na­len Sou­ve­rä­ni­tät rüh­ren. Wie­so soll­te er sich erneut, dies­mal »euro­pä­isch«, über­wöl­ben las­sen? Und wenn er es in Ansät­zen tut: Sind das nicht Zusam­men­schlüs­se gegen den gro­ßen, den bevor­mun­den­den Zusammenschluß?

Die­je­ni­gen, die ein gro­ßes Euro­pa, eine den Wes­ten mit­ein­be­zie­hen­de Renais­sance eines »jun­g­eu­ro­päi­schen Kon­zepts« for­dern, müs­sen erklä­ren kön­nen, war­um sie es über­haupt wollen.

Euro­pa als Groß­raum gegen ande­re Groß­räu­me? Ist das nicht das, was die EU ver­sucht, und zwar mit genau jenen Mit­teln der Kon­zern- und Staats­wirt­schaft, die in den kon­kur­rie­ren­den Groß­räu­men (Chi­na, Ruß­land, USA) eben­falls ange­wen­det wer­den? Was, wenn das Effi­zi­enz­den­ken tat­säch­lich plan­mä­ßig und gesteu­ert Europa in den Griff näh­me und nach den Maß­stä­ben einer tota­len Mobil­ma­chung gegen den chi­ne­si­schen Staats­ka­pi­ta­lis­mus oder das ame­ri­ka­ni­sche »frack­ing« in allen Lebens­be­rei­chen in Stel­lung brächte?

Und wenn Euro­pa dar­über hin­aus auch noch ganz anders gestal­tet wer­den soll, »soli­da­risch« und »anti­ka­pi­ta­lis­tisch« näm­lich (Bene­dikt Kai­ser hat dazu im Heft die Eck­punk­te aus­ge­führt): Bedürf­te es dazu nicht wie­der­um einer Mau­er, und einer Füh­rungs­kas­te, die “wei­ter” ist als die noch nicht erzo­ge­nen Völ­ker? Und wenn dies dann doch nicht: Wie soll­te er sich durch­set­zen – der anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche, soli­da­ri­sche, nicht-chau­vi­nis­ti­sche Geist?

Wohl nur durchs Vor­le­ben, oder? Es gibt die­sen Geist ja längst. Sei­ne Trä­ger leben in den städ­ti­schen und länd­li­chen All­tags­ge­mein­schaf­ten Euro­pas, in denen die viel­be­müh­te selbst­op­ti­mie­ren­de Ein­pas­sung ins Getrie­be nicht der Maß­stab für ein gelin­gen­des Leben ist, und sie leben in bil­dungs­bür­ger­li­chen Fami­li­en, in denen ein an der euro­päi­schen Hoch­kul­tur aus­ge­rich­te­ter, nicht ver­nut­zen­der Geist gepflegt wird.

Soli­da­ri­tät, Ver­or­tung, Geist, Lek­tü­re, Rei­sen, Abs­ti­nenz vom Glo­bus – das euro­päi­sche Ich muß nicht neu erfun­den wer­den und wird als altes Ide­al drin­gend gebraucht. Die­ses “über­na­tio­na­le Euro­pa”, das ein geis­ti­ges Euro­pa ist, beschwört Eber­hard Straub in einem Text – auch er zu fin­den im The­men­heft “Euro­pa” der Sezes­si­on, das man – nun end­lich kommt der Hin­weis! – hier erwer­ben und hier abon­nie­ren kann.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (7)

eike

11. November 2018 01:47

"Der europäische Osten besitzt Stoff genug für eine verbindende, große Erzählung – für das also, was ein Wir-Gefühl stiften und zwanzig Nationen überwölben könnte."

Da kann man anderer Ansicht sein.

Wir haben keinen Bedarf an - um nicht zu sagen 'die Nase voll von' - "großen Erzählungen" die ein mehr oder minder künstliches "Wir-gefühl stiften" und zig Nationen oder gar den ganzen Globus "überwölben".

An solchen, die den "antitotalitären Befreiungskampf gegen eine kurze nationalsozialistische Besatzung" feiern, schon gar nicht.

Erstens brauchen wir uns nicht mit Erzählungen zu rechtfertigen, wenn wir das bleiben wollen, was wir seit tausend Jahren waren.

Zweitens müßten Erzählungen nicht aus dem Osten importiert werden, Walt Disney würde uns belehren, daß fast alle seine Erzählungen aus dem Germanischen Raum stammten.

Drittens kann man mit Erzählungen keine Erzählungen widerlegen; auch die EU, die "universalen Menschenrechte", die "Versklavung der Dritten Welt",... sind solche, und, wie der Autor richtig, aber leicht inkonsequent anmerkt: die Erzählenden "müssen erklären können, warum sie es überhaupt wollen".

Gustav Grambauer

11. November 2018 08:26

"Seine Träger leben in den städtischen und ländlichen Alltagsgemeinschaften Europas, in denen die vielbemühte selbstoptimierende Einpassung ins Getriebe nicht der Maßstab für ein gelingendes Leben ist"

Zum Beispiel in Neuzelle nahe der Oder, wo das Parteienkartell schon lange entmachtet ist. Tut mir leid, es ist wieder ein Clip, aber der "Imagefilm" des Dorfes ist in jeder noch so kleinen Einzelheit eine so herrliche - bewußte - Ansage an alle Kulturervoluzzer des Restes der Welt, daß ich ihn der werten Leserschaft nicht vorenthalten will. Bin zufällig darauf gestoßen nachdem meine Mutter uns ihren Weihnachtswunsch mitgeteilt hat, "irgendwas über Bärbel Wachholz". Bitte selber finden unter "neuzelle das wünsch ich mir"

- G. G.

Gustav Grambauer

11. November 2018 09:25

Haben alle die epochale Zäsur mitbekommen, nachdem am Vortag endgültig klar geworden war, daß Trump mehr als ein kleiner reparabler Betriebsunfall ist?:

https://de.sputniknews.com/kommentare/20181107322881973-macron-eu-armee-gegen-usa/

Eine Erwiderung auf die Schwärmereien von einem neuen Pilsudski-Intermarium, heute vielleicht als "USA-Projekt Via Carpathia" zu benennen, ist der süffisante Halbsatz in dem Sputnik-Artikel über "Polen, das seit langem schon zu einer echten US-Provinz werden will." Erinnere dazu nur an die "berühmte" Presseerklärung von Stratfor-Friedmann im Jahr 2015. Wiederum meine Erwiderung wäre, daß solche Projekte den Auftraggebern auch entgleiten können (weniger in Polen und im baltischen Kindergarten, mehr im südlicheren Teil, in dm der Haß auf Rußland - bis jetzt - noch kaum entfacht werden konnte) und Rußland am Ende der lachende Dritte sein könnte.

- G. G.

Lotta Vorbeck

11. November 2018 19:13

@eike - 11. November 2018 - 01:47 AM

"Der europäische Osten besitzt Stoff genug für eine verbindende, große Erzählung – für das also, was ein Wir-Gefühl stiften und zwanzig Nationen überwölben könnte."

Da kann man anderer Ansicht sein.

..."

___________________________

Ja, kann man. - Muß man aber nicht.

Wer je im Hause eines über achtzigjährigen, seit seiner Kindheit im Memeldelta ansässigen Deutschen in illustrer Runde bei Degtine, Speck und sauren Gurken zusammensaß und dabei selbst erlebte, wie der Gastgeber umstandslos vom Deutschen ins Litauische, ins Russische und zurück ins Deutsche zu wechseln imstande ist, versteht sofort, welche Art von großer Erzählung ein tatsächliches, ost-mitteleuropäisches Wir-Gefühl stiften könnte und wie total man als BRD-Insasse von dieser gemeinsamen, europäischen Geschichte abgeschnitten ist.

eike

12. November 2018 05:24

@ Lotte Vorbeck 11. November 2018 19:13

Es geht hier um mehr als sentimentale Erzählungen. Es geht um die Frage - zumindest verstehe ich den Artikel so - auf welcher Basis, mit welchen Argumenten, kämpfen wir um unsere Identität, wie motivieren wir unseren Wunsch nach Eigenständigkeit.

Wir waren die Nation, die - sicher nicht allein, aber an führender Stelle - die wissenschaftlichen, technischen, philosophischen und kulturellen Standards der westlichen Welt setzte.

Wir brauchen keine Erzählungen zu importieren, um unseren Kampf gegen die Invasoren zu rechtfertigen, denen eine Clique von Kollaborateuren die Tore geöffnet hat. Sie werden wieder gehen müssen, so wie die französischen Eroberer nach 150 Jahren in Algerien.

RMH

12. November 2018 08:17

"könnte", Lotta Vorbeck, "könnte" …

Rein tatsächlich lassen sich mit den billigsten antideutschen Ressentiments zumindest in 2 unserer Nachbarländer, Polen und Tschechien, noch jede Wahl gewinnen (auch bei uns wählen ja noch 80% den Mainstream - warum sollte es dort groß anders sein?).

Besinnen wir uns doch eher auf unser eigenes, bevor wir uns gleich wieder irgendwo anschließen müssen oder dran hängen oder auch nur einreihen wollen. Die anderen würden es doch ohnehin wieder viel zu schnell als "aufdrängen" oder gar "an sich reißen" interpretieren …

Im Übrigen macht für mich der Artikel von G.K. nur Sinn als Einleitungsartikel zu Folgeartikeln. Und genau das war und ist er ja auch. Er eröffnet das Themenheft der Sezession zum Thema Europa.

Für sich allein gestellt, würde sich der Artikel leider nur wieder in die sich seit einiger Zeit bei den neuen rechten breit machenden Vorstellungen einer Loslösung von Teilen Mitteldeutschlands vom Rest Deutschlands einreihen (auch der Pegida Frontmann träumt davon ja mittlerweile ganz offen).

Für mich ist das kein Thema - Deutschland hat sich nie davon erholt, dass 1848 und danach ein Deutschland mit Österreich nicht realisiert werden konnte und es erst einmal nur das preußisch dominierte Kleindeutschland gab. Heute gibt es Leute, die ernsthaft wieder zurück wollen in eine Art von deutschem Flickenteppich, also noch hinter die kleindeutsche Lösung. Da passt der Artikel zum WK I von Herrn Wessels irgendwie nicht dazu.

H. M. Richter

12. November 2018 10:04

^ @Lotta Vorbeck

"Wer je im Hause eines über achtzigjährigen, seit seiner Kindheit im Memeldelta ansässigen Deutschen in illustrer Runde bei Degtine, Speck und sauren Gurken zusammensaß und dabei selbst erlebte [...]
_____________________________________________

Und zwischendurch von den köstlichen alten Apfelsorten kosten durfte, danach wieder mit einem alten Kurenkahn hinüber nach Nidden setzte, Zander mit Dill und Schmand dort aß, zwischendurch reichlich vom wahrlich köstlichen Memelner Bier trank, die Nacht anschließend in frisch gestärktem Bettzeug im 'Haus Blode' ("Wo sonst?") verbrachte und sich immer wieder mit dort lebenden Leuten, alten wie jungen, austauschte, wird Ihnen nur zustimmen können !

P.S.:
Dank noch für Ihre kürzlich gegebenen, köstlichen "Feldgieker"-Einblicke !
Vielleicht gibt es ja irgendwann einmal ein Sezessionisten-Festmahl in Schnellroda, bei dem die Teilnehmer ihre Gaben aus den unterschiedlichsten Stammlanden und Provinzen zusammenführen. Gewissermaßen dann ein 'Treffen in Telgte' der etwas anderen Art ...

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.