Der europäische Hindernisparcours

Als Arthur Moeller van den Bruck nach dem Massensterben im Ersten Weltkrieg über die Zukunft Deutschlands und Europas nachdachte,...

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

mün­de­te dies im Bon­mot, daß wir Ger­ma­nen waren, daß wir Deut­sche sind – und daß wir Euro­pä­er sein werden.

Heu­te, etwa ein­hun­dert Jah­re spä­ter, drängt sich die Fra­ge auf: Sind wir Euro­pä­er gewor­den? Es gibt Anlaß zur Skep­sis, was die Mit­men­schen anbe­langt, was ande­re poli­ti­sche Lager anbe­langt, aber zuerst soll­te man bei sich anset­zen, in der poli­ti­schen Rechten.

Domi­ni­que Ven­ner, einer ihrer zeit­ge­nös­si­schen Köp­fe, hat Jahr­zehn­te nach Moel­ler van den Bruck an der natio­na­len Ver­en­gung sei­ner Zeit im all­ge­mei­nen und sei­nes rech­ten Milieus im beson­de­ren gelit­ten. Für ihn war es nicht vor­stell­bar, »nur« Fran­zo­se oder »nur« (kel­ti­scher) Nor­man­ne zu sein. Er folg­te dar­in sei­nem Lands­mann Pierre Drieu la Rochel­le, dem Vor­den­ker der euro­päi­schen Ein­heit in Viel­falt. Gleich Drieu war es für Ven­ner eine Tat­sa­che, daß man als Mensch in Euro­pa eine drei­fa­che Zuge­hö­rig­keit besit­ze, eine tri­ple appar­ten­an­ce, die Regi­on, Nati­on und Euro­pa umfas­se. Euro­päi­sche Begeg­nun­gen, euro­päi­scher Aus­tausch und euro­päi­sche Gesin­nung: Für Ven­ner war die­se Stu­fen­ab­fol­ge eine Con­di­tio sine qua non für eine wahr­haft Neue Rech­te auf gesamt­eu­ro­päi­scher Ebene.

Bevor an Kon­zep­te, Pro­gram­me oder gar kon­kre­te Rea­li­sie­rungs­we­ge einer »euro­päi­schen Ein­heit« von rechts gedacht wer­den kann, gilt es, einen Rah­men für euro­päi­sche Begeg­nun­gen auf­zu­span­nen. Die wie­der­hol­ten Frak­ti­ons­auf­lö­sun­gen im Euro­pa­par­la­ment auf­grund geschicht­li­cher Ereig­nis­se, die feh­len­de Koope­ra­ti­on rechts­ste­hen­der Grup­pen auf inter-natio­na­ler Ebe­ne – ins­be­son­de­re sie legen ja nahe, daß eine tat­säch­lich zukunfts­fä­hi­ge euro­päi­sche Rech­te nur wird gedei­hen kön­nen, wenn Ideo­lo­gien der gegen­sei­ti­gen Ableh­nung, die noch immer häu­fig mit den natio­na­len Lei­den­schaf­ten ein­her­ge­hen, über­wun­den oder zumin­dest gezü­gelt werden.

Tief­sit­zen­de und repro­du­zier­te natio­na­le Chau­vi­nis­men und Mikro­na­tio­na­lis­men sind Hin­der­nis­se, die über­wun­den wer­den müs­sen. Mit Mikro­na­tio­na­lis­mus ist ein Natio­na­lis­mus gemeint, der sich auf kei­ne klas­si­sche Nati­on bezieht, son­dern eine Regi­on oder einen Teil einer bis­he­ri­gen Nati­on zur eigen­stän­di­gen Nati­on auf­ge­wer­tet sehen will. Alain de Benoist for­mu­lier­te, daß der Mikro­na­tio­na­lis­mus alle Nach­tei­le eines regu­lä­ren, grö­ße­ren Natio­na­lis­mus in been­gen­der Wei­se in sich auf­nimmt, wäh­rend die Vor­tei­le einer grö­ße­ren natio­na­len Inte­gra­ti­ons­idee kei­ne Berück­sich­ti­gung fin­den. Ein Mikro­na­tio­na­lis­mus wird in die­sem Sin­ne als ima­gi­nier­te oder über­be­ton­te Gemein­schaft (man den­ke an das erfun­de­ne »Pada­ni­en« der alten Lega Nord; ein Gegen­bei­spiel wäre der viel­schich­ti­ge Fall Kata­lo­ni­en) der grö­ße­ren, natio­na­len Gemein­schaft ent­ge­gen­ge­setzt. Er war über Jahr­zehn­te hin­weg der Traum vie­ler Rech­ter. Das lag an der Schwä­che der gro­ßen Natio­nen, an Krie­gen, aber auch an der Idea­li­sie­rung von klei­ne­ren Völ­kern. Man sprach vom Euro­pa der Regio­nen, in dem Natio­nen über­flüs­sig wür­den; Hen­ning Eich­bergs Umfeld war federführend.

Ein neu­er­li­cher Regio­na­lis­mus der Rech­ten, wie er im liber­tä­ren Bereich um Hans-Her­mann Hop­pe und im neu­rech­ten Bereich von ein­zel­nen Publi­zis­ten gou­tiert wird, ver­hie­ße für das 21. Jahr­hun­dert eine gesamt­eu­ro­päi­sche und real­po­li­ti­sche Kri­sis, denn ein zer­klüf­te­tes und in sich noch mehr gespal­te­nes Euro­pa wäre wirt­schaft­lich, tech­no­lo­gisch, außen­po­li­tisch oder mili­tär­stra­te­gisch leich­te Beu­te: Chi­na erschließt mit der neu­en Sei­den­stra­ße Infra­struk­tur und Wirt­schafts­fel­der bis tief nach Euro­pa hin­ein, die Tür­kei ist einer der exter­nen Play­er auf dem Bal­kan, Ruß­land mischt in Ost­eu­ro­pa mit, die USA bin­det spe­zi­ell die bal­ti­schen Staa­ten an sich, die Golf­staa­ten bemü­hen sich um mus­li­mi­sche Min­der­hei­ten. Damit gera­ten euro­päi­sche Län­der und Völ­ker in zusätz­li­che Inter­es­sens­kon­flik­te, was Euro­pa wei­ter schwächt und die Akteu­re von Außen auf Kos­ten der inner­eu­ro­päi­schen Kohä­si­on stär­ken könn­te. An inne­ren Wider­sprü­chen ist Euro­pa reich, mit ihnen wird man rin­gen müs­sen. Exter­ne Wider­sprü­che gilt es aus dem urei­ge­nen Inter­es­se des Selbst­er­halts vom Kon­ti­nent gemein­schaft­lich fernzuhalten.

Der­ar­ti­ge Über­zeu­gun­gen sind rechts der Mit­te nicht en vouge, und das liegt oft an einem Miß­ver­ständ­nis: Vie­le Rech­te, in Deutsch­land und anders­wo, fürch­ten bei einer euro­päi­schen Posi­tio­nie­rung den Vor­wurf der EU-Apo­lo­gie. Doch das jet­zi­ge EU-Euro­pa ist kein Euro­pa der Regio­nen, Natio­nen und Völ­ker, son­dern das Euro­pa des frei­en Waren­ver­kehrs, der offe­nen Gren­zen nach innen und par­ti­ell auch nach außen: Es ist das Euro­pa des Mark­tes, auf dem alles, wie Eber­hard Straub for­mu­lier­te, »zur Ware und damit zum Wert und jede mensch­li­che Bezie­hung zu einer Geld­be­zie­hung« redu­ziert wird. In sei­nem Buch Zur Tyran­nei der Wer­te fährt Straub fort, daß nicht »Dasein, son­dern Kon­sum« als »Pflicht« erschei­ne: »Der Auf­stieg vom Men­schen zum End­ver­brau­cher war das Pro­gramm fröh­li­cher Markt­theo­lo­gen. Sie erho­ben den Markt zum Erlö­ser, Ret­ter und Befrei­er«. Die­se Markt­hö­rig­keit liegt in der DNA der Euro­päi­schen Uni­on, wie wir sie ken­nen – einer Uni­on, die des­halb abge­lehnt wer­den soll­te und nicht aus dem Grund, daß ihre Haupt­dar­stel­ler eine gemein­sa­me Außen­po­li­tik oder eine kol­lek­ti­ve Sicher­heits­struk­tur präferieren.

Daß sich am Inte­gra­ti­ons­kon­zept des Kapi­tals die hete­ro­ge­ne Rie­ge der mul­ti­kul­tu­rell-links­li­be­ra­len Pres­su­re groups betei­ligt, ver­schärft die anti­eu­ro­päi­sche Note der Euro­päi­schen Uni­on. Ein­zel­ne Ein­grif­fe »Brüs­sels« in den All­tag sind auch ange­sichts die­ses Befunds nicht das Kern­pro­blem, das von der EU in ihrer Gesamt­heit ver­kör­pert wird, in der die euro­päi­schen Völ­ker (wie auch inner­halb der Völ­ker die ein­zel­nen Lands­leu­te) oft mehr als Kon­kur­ren­ten und weni­ger als Part­ner ver­stan­den wer­den, unge­ach­tet des­sen, daß unent­wegt von gemein­sa­men »euro­päi­schen Wer­ten« und ähn­li­chem fabu­liert wird. Es ver­hält sich anders: Die EU schürt gera­de durch ihre ver­meint­lich »pan­eu­ro­päi­sche« Art natio­na­le Chau­vi­nis­men und bringt Men­schen gegen­ein­an­der auf, nicht zuletzt qua Wohl­stands­dis­pu­ten. Es ist dies ein Mus­ter, das auch in den USA oder Chi­na auf­tritt – man hat inner­staat­lich mit ali­men­tier­ten Regio­nen zu tun, was Miß­gunst weckt und nur abge­fe­dert wer­den kann, wenn eine ver­bin­den­de Idee zumin­dest das Bewußt­sein dafür schafft, daß Unter­schie­de und Aus­gleichs­leis­tun­gen dem Gesamt­in­ter­es­se unterstehen.

Doch der EU man­gelt es nun an geis­ti­ger »Erdung« an ein Gesamt­in­ter­es­se euro­päi­scher Völ­ker und ihrer Iden­ti­tä­ten ange­sichts des öko­no­mis­tisch aus­ge­rich­te­ten Nütz­lich­keits­den­kens. Dabei wäre für ein neu­es Euro­pa, das Eini­gen­des über Tren­nen­des stellt, der Topos der Soli­da­ri­tät, eines Gefühls der Zusam­men­ge­hö­rig­keit in Kri­sen­si­tua­tio­nen, unab­ding­bar. Die­se sozia­le Soli­da­ri­tät erfor­der­te die Erkennt­nis des­sen, daß der Haupt­wi­der­spruch inner­halb der EU nicht zwi­schen den euro­päi­schen Völ­kern ver­läuft, son­dern, über­spitzt for­mu­liert, zwi­schen den Bedürf­nis­sen der Völ­ker einer­seits und dem Bedürf­nis des trans­na­tio­na­len Kapi­tals und sei­ner unter­schied­li­chen Sach­ver­wal­ter und Mit­tels­män­ner andererseits.

Zu den Sach­ver­wal­tern und Mit­tels­män­nern die­ses – hier ver­kürzt »Kapi­tal« – genann­ten Blocks zäh­len Behör­den, Ver­wal­tungs­struk­tu­ren, die »Büro­kra­tie« also; dazu zäh­len ton­an­ge­ben­de Jour­na­lis­ten des Main­streams; dazu zählt wesent­lich die füh­ren­de poli­ti­sche Klas­se, wel­che die Völ­ker nicht schützt, kei­ne gro­ßen Erzäh­lun­gen für sie ent­wi­ckelt und kei­ner­lei Idee für den Raum Euro­pa im 21. Jahr­hun­dert besitzt – wäh­rend die Mehr­heit der euro­päi­schen Bevöl­ke­run­gen, expli­zit der jün­ge­ren Jahr­gän­ge, im mate­ria­lis­ti­schen Rausch all­ge­gen­wär­ti­ger Kon­sum­mög­lich­kei­ten gefan­gen sind und die west­eu­ro­päi­sche »Post­po­li­tik« (Chan­tal Mouf­fe) gera­de des­halb so wenig wider­stän­di­ge Hür­den bewäl­ti­gen muß.

Die­se post­po­li­tisch-kon­su­mis­ti­sche Ent­wick­lung ist beson­ders für nicht­ma­te­ria­lis­ti­sche Akteu­re Ärger­nis und Hin­der­nis zugleich, wobei man nun im Klei­nen ver­su­chen kann, sich dem kon­su­mis­ti­schen Modell zu ent­zie­hen und ande­re in die­sem Sin­ne zu beein­flus­sen. Durch indi­vi­du­el­le Ent­schei­dun­gen wird For­mu­lier­tes authen­ti­scher, wobei auch dann noch die Crux bestehen bleibt, daß man durch indi­vi­du­el­les Ver­hal­ten kei­ne grund­le­gen­den Struk­tu­ren in Poli­tik, Wirt­schaft, Gesell­schaft ändern kön­nen wird: Als klei­ne Min­der­heit der gegen­tei­li­gen Lebens­füh­rung im Zeit­al­ter der Waren­äs­the­tik und ‑ver­füg­bar­keit blie­be man ohne attrak­ti­ve Massenwirkung.

Mate­ria­lis­mus und »Besitz­in­di­vi­dua­lis­mus« (Mouf­fe) prä­gen also die euro­päi­sche Lebens­wirk­lich­keit, wäh­rend immer­hin deut­lich wird, daß mone­tä­res Wohl­erge­hen oder auch die blo­ße Aus­sicht auf Kon­sum­mög­lich­kei­ten nicht län­ger ver­schlei­ern kön­nen, daß dies für eine euro­päi­sche Ein­heit spä­tes­tens dann nicht (mehr) aus­reicht, wenn ande­re Fak­to­ren – nicht­eu­ro­päi­sche Mas­sen­zu­wan­de­rung, exter­ne Play­er – dar­an erin­nern, daß es an einem effek­ti­ven und nach­hal­ti­gen Schutz­schirm für die Völ­ker nach innen wie außen man­gelt. Es ist nur fol­ge­rich­tig, daß Gün­ter Maschke der EU jed­we­de Groß­raum­rol­le abge­spro­chen hat. Euro­pa, so der intel­lek­tu­el­le Soli­tär, sei »ein Sys­tem gewor­den, das Gehor­sam for­dert, ohne Schutz zu bie­ten«. Der in der EU gegen­wär­tig aus­ge­foch­te­ne Klas­sen­kampf von oben wird inner­halb die­ses von Maschke ange­spro­che­nen Sys­tems von den herr­schen­den Eli­ten gegen die Bevöl­ke­rungs­mehr­hei­ten geführt.

Was man indes­sen – nach Klä­rung der Feind­be­stim­mun­gen – braucht, ist eine posi­ti­ve Visi­on eines eini­gen Euro­pas jen­seits kate­go­risch mate­ria­lis­ti­scher Denk­wei­sen, und das heißt: die Visi­on eines drei­tau­send­jäh­ri­gen Kul­tur­krei­ses, der von einem Reich­tum an kul­tu­rel­len, natio­na­len und reli­giö­sen Wer­ten, an Regio­nen, Kul­tu­ren und Völ­kern geprägt ist, die sich wech­sel­sei­tig befruch­tet und beein­flußt haben. Gerd-Klaus Kal­ten­brun­ner for­der­te bereits vor 40 Jah­ren für die kon­ser­va­ti­ve Hemi­sphä­re ein, sie sol­le für­der­hin aus dem »unver­brauch­ten Reich­tum an Intel­li­genz, Ener­gie und Schöp­fer­tum, den wir ›Euro­pa‹ nen­nen dür­fen«, Kraft schöpfen.

Eben­die­se unauf­heb­ba­re Ver­schrän­kung der euro­päi­schen Lebens­rea­li­tä­ten ist es, die – um jen­seits der Meta­po­li­tik auch die real­po­li­ti­sche Pra­xis nicht zu ver­nach­läs­si­gen – Andre­as Möl­zer mein­te, als er von der kul­tu­rel­len, poli­ti­schen und geo­gra­phi­schen Nähe der Regio­nen und Natio­nen zuein­an­der sprach; eben­die­se typisch euro­päi­sche Son­der­la­ge schaf­fe »das Bewußt­sein gemein­sa­mer Wur­zeln« und gebe »Hoff­nung für eine gemein­sa­me euro­päi­sche Zukunft«. Frei­lich stellt sich dar­an anschlie­ßend die nahe­lie­gen­de Fra­ge: Wie soll sie aus­se­hen? Allein, Patent­re­zep­te sind nicht die Sache an der Wirk­lich­keit ori­en­tier­ter poli­ti­scher Akteu­re. Fest steht gleich­wohl, daß die Über­le­gun­gen auf die­sem zu beschrei­ten­den Weg unter Drieu la Rochel­les Maxi­me »Revo­lu­tio­nie­ren und Anknüp­fen« ste­hen müß­ten. Gesucht wird die kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­ti­on euro­päi­scher Dimension.

Sie wird sich nicht nur gegen restau­ra­ti­ve und zukunfts­hin­der­li­che Bestre­bun­gen der »alten« Rech­ten zu rich­ten haben, son­dern auch gegen mas­sen­me­di­al prä­sen­te links­li­be­ra­le »Pan­eu­ro­pä­er« wie Ulri­ke Gué­rot und ihr urba­nes Fuß­volk. Die­ser Typus Euro­pä­er kennt nur den auf­ge­klär­ten, mün­di­gen Welt­bür­ger, der mit­hin zufäl­lig auf dem Ter­ri­to­ri­um der euro­päi­schen Staa­ten lebt. Wenn Rech­te sie des­halb kri­ti­sie­ren, ist das fol­ge­rich­tig. Das Pro­blem dabei ist, daß dies meist mit dem Ver­weis auf Argu­men­te aus dem 20. Jahr­hun­dert geschieht, mit Bezug­nah­men auf alte Pro­blem­stel­lun­gen, die nicht immer die­je­ni­gen von heu­te sind.

Dabei kann man auch von einem rech­ten (pan)europäischen Stand­punkt Gué­rot kri­ti­sie­ren: Denn die feh­len­de Rück­ge­bun­den­heit an Regi­on, Nati­on, Euro­pa ist die Ursa­che aller wei­te­ren Fehl­schlüs­se; die Rech­te hat – theo­re­tisch – freie Bahn. In der Pra­xis sieht es anders aus. Denn die natio­na­len Lei­den­schaf­ten, die, wie der neu­rech­te Publi­zist Wolf­gang Strauss eini­ge Jah­re vor­her in meh­re­ren Büchern pro­gnos­ti­zier­te, etwa in Ost­mit­tel­eu­ro­pa und Süd­ost­eu­ro­pa den real exis­tie­ren­den Büro­kra­ten-Sozia­lis­mus in den Orkus der Geschich­te zu ver­drän­gen hal­fen, bedürf­ten für eine euro­päi­sche Eini­gung der Züge­lung. Euro­pa ist nicht nur ein Schutz­schirm nach außen vor exter­nen Akteu­ren und Inter­es­sens­grup­pen, son­dern auch ein Schutz­schirm nach innen vor dem Come­back inner­eu­ro­päi­scher Revan­che­ge­lüs­te, gera­de in der Mit­te, im Süd­os­ten und im Osten des Kontinents.

Die ers­te »Ven­ner-Ebe­ne« – euro­päi­sche Begeg­nun­gen – funk­tio­niert denn auch nur, solan­ge man apo­dik­ti­sche natio­na­le Fra­gen aus­klam­mert. Denn wür­de man aus­dis­ku­tie­ren, daß – bei­spiels­hal­ber – für rele­van­te Tei­le der ser­bi­schen Rech­ten Kroa­ten »katho­li­sche Ser­ben« sind, wäre jeder wei­ter­füh­ren­de Ver­stän­di­gungs­schritt unmög­lich (was eben­so im umge­kehr­ten Fal­le gilt, als ver­sucht wur­de, eine kroa­tisch-ortho­do­xe Kir­che zu kon­sti­tu­ie­ren, um die vom Kroa­ten­tum »abge­fal­le­nen« Ser­ben zu »reinte­grie­ren«). Wür­de man, jetzt im grö­ße­ren Maß­stab gedacht, die The­se, daß das Chris­ten­tum (pan)europäische Iden­ti­tät stif­tet, dahin­ge­hend zuspit­zen, wel­che Kon­fes­si­on nun der Heils­brin­ger sein sol­le, wäre eben­so jeder wei­ter­füh­ren­de Ver­stän­di­gungs­schritt unmöglich.

Eine abschlie­ßen­de und für alle Sei­ten akzep­ta­ble Geschichts­schrei­bung zu for­mu­lie­ren, ist schlicht unmög­lich. Auf euro­päi­scher Ebe­ne wäre viel­mehr zu kon­sta­tie­ren und für die poli­ti­sche Pra­xis zu beden­ken, daß jedes Volk eine indi­vi­du­el­le schick­sal­haf­te Ver­gan­gen­heit mit eige­nen Mar­kern, Eck­punk­ten, Iden­ti­tä­ten und Trau­ma­ta hat, daß man aber zugleich die heu­ti­gen Lösun­gen und Ansät­ze nicht im tren­nen­den Ges­tern suchen darf, son­dern erken­nen muß, daß gegen­sei­ti­ges Abwer­ten stets in einen Abwärts­stru­del führt. Der wir­kungs­mäch­ti­ge natio­na­le Mythos, der in man­cher Hin­sicht (wie­der) ent­fes­selt ist, konn­te den Kom­mu­nis­mus über­win­den hel­fen und die Völ­ker mit Selbst­er­hal­tungs­wil­len und Durch­set­zungs­kraft aus­stat­ten, aber er hat 2018 kei­ne Ant­wor­ten auf die neu­en Kri­sen von heu­te oder von mor­gen. Die natio­na­le Enge führ­te eben auch zu klein­tei­li­gen, nach­hol­be­dürf­ti­gen Öko­no­mien, die sich in Abhän­gig­keit vom Wes­ten befin­den und seit kur­zem auch von nicht­eu­ro­päi­schen Kon­kur­ren­ten umgarnt wer­den; sie führ­te auch zur Mas­sen­ar­beits­lo­sig­keit und Abwan­de­rung der Jugend; sie führ­te auch zu wei­te­rer sozia­ler und natio­na­ler Spal­tung, und zwar in ste­ti­ger Lau­er­stel­lung auf neu-alte Kon­flik­te als exter­na­li­sie­ren­der Aus­weg für oft­mals inter­ne Problemstellungen.

Es ist in die­sem Sin­ne die ewi­ge Wie­der­kehr des Glei­chen, die uns Euro­pä­er trennt: Alte wie fri­sche Nar­ben sor­gen für Aus­ein­an­der­set­zun­gen und erschwe­ren den euro­pä­isch-ent­schlos­se­nen Neu­an­fang. His­to­ri­sche Ver­bre­chen, Zer­würf­nis­se, Unge­rech­tig­kei­ten – Euro­pa ist reich an ihnen. Nicht immer ist es für auf­ge­wühl­te patrio­ti­sche Emp­fin­dun­gen ratio­nal ein­leuch­tend, daß die euro­päi­schen Völ­ker nie davon pro­fi­tiert haben kön­nen, wenn sie ihre ver­meint­li­chen und tat­säch­li­chen Wider­sprü­che aus­kämpf­ten. Sie­ger, das waren nie die Völ­ker. Sie waren immer die Ver­lie­rer – mit dem Ergeb­nis, daß wir heu­te bei­spiels­wei­se die EU vor­fin­den, wie wir sie kennen.

Ein genu­in rech­tes Hin­der­nis im Par­cours zur euro­päi­schen Ein­heit ist dabei also die expli­zi­te Tra­di­ti­ons­ori­en­tie­rung der eige­nen poli­ti­schen Denk­wei­se. Die Rech­te soll­te daher ernst neh­men, was Karl Marx in sei­nem Acht­zehn­ten Bru­mai­re des Lou­is Bona­par­te schrieb, wonach die Men­schen zwar ihre eige­ne Geschich­te schrei­ben, aber »nicht aus frei­en Stü­cken unter selbst­ge­wähl­ten, son­dern unter unmit­tel­bar vor­han­de­nen, gege­be­nen und über­lie­fer­ten Umstän­den«. In Zei­ten »revo­lu­tio­nä­rer Kri­se«, so fährt Marx fort, »beschwö­ren sie ängst­lich die Geis­ter der Vergangenheit«.

So wer­den den heu­te Leben­den die Tra­di­tio­nen aller toten Geschlech­ter oktroy­iert. Doch Tra­di­tio­nen sind nicht per se zu gou­tie­ren, nur weil sie eben Tra­di­tio­nen sind – man wäre dann nicht kon­ser­va­tiv, son­dern reak­tio­när im schlech­ten Sin­ne. Denn es gibt Zeit­punk­te, in denen man als Kon­ser­va­ti­ver nicht nur bewah­rend den­ken muß, son­dern auf­bre­chend, d. h. revo­lu­tio­när. Spe­zi­ell in bezug auf eine unge­sun­de Ver­gan­gen­heits­fi­xie­rung und inner­eu­ro­päi­sche Spal­tungs­me­cha­nis­men ver­hält es sich so. Denn daß es die Idee Euro­pa schon in sta­tus nas­cen­di unmög­lich macht, wenn ver­gan­ge­ne Kon­flik­te repro­du­ziert wer­den, um heu­te – etwa in kurz­sich­ti­gen Wahl­kämp­fen ver­schie­dens­ter rech­ter Par­tei­en, die Stim­mung gegen ein Nach­bar­land machen – auf Wäh­ler­stim­men­jagd zu gehen, ist evident.

Das Gegen­ar­gu­ment, wonach das Volk sol­che ein­fa­chen Bil­der benö­ti­ge, weil Euro­pa nur eine abs­trak­te Leer­stel­le sei, kann man ver­schie­den ent­kräf­ten: auch demo­sko­pisch: Denn der dif­fu­se Wil­le im Volk zur euro­päi­schen Zukunft ist durch­aus zu kon­sta­tie­ren. Alle aus­sa­ge­kräf­ti­gen Umfra­gen, ob von Ber­tels­mann oder von weni­ger welt­an­schau­lich fest­ge­leg­ten Insti­tu­ten, bele­gen, daß tat­säch­lich min­des­tens 50, teil­wei­se 60 bis 70 Pro­zent der Deut­schen »für Euro­pa« plä­die­ren, und zwar für Euro­pa als Gemein­schaft. Gewiß muß die Fra­ge gestellt wer­den: Was meint Euro­pa als Gemein­schaft? Was bedeu­tet es, sie zu befür­wor­ten? Jen­seits des Nebu­lö­sen kann man kon­kret fra­gen: Was kann die poli­ti­sche Rech­te die­sen Men­schen anbie­ten? Wel­che gro­ße Erzäh­lung haben wir als sub­stan­ti­el­le Alter­na­ti­ve für Euro­pa? Daß es noch kei­ne grund­le­gen­de Erzäh­lung von rechts gibt, ist der schwie­ri­gen geschicht­li­chen Lage geschul­det, den Bestän­den, wie sie nun ein­mal sind, den jewei­li­gen (Leidens-)Erfahrungen der Men­schen. Das Feh­len der euro­päi­schen Erzäh­lung liegt infol­ge­des­sen nicht nur am laten­ten oder mani­fes­ten Chau­vi­nis­mus, aber doch erheblich.

Mit dem schwe­ren Gepäck von Nach­bar­schafts­krie­gen und Ste­reo­ty­pen bela­den, das es erschwert, den Blick auf äuße­re Geg­ner und zeit­ge­nös­si­sche Her­aus­for­de­run­gen zu len­ken, erreicht man als Fun­da­men­tal­al­ter­na­ti­ve zum Estab­lish­ment und sei­nen Aus­läu­fern weder die aka­de­mi­sche Eras­mus-Plus-Jugend noch die quan­ti­ta­tiv viel stär­ke­re Jugend von Athen bis Lis­sa­bon, von War­schau bis Madrid, die die EU mit Jugend­ar­beits­lo­sig­keit und der unein­ge­schränk­ten Macht der soge­nann­ten Markt­er­for­der­nis­se ver­bin­det. Es ist dies eine euro­päi­sche Jugend im Kri­sen­mo­dus, die vie­ler­lei Inter­es­sen und Hoff­nun­gen hat, aber die es nicht ver­dient, daß die Rech­te euro­päi­scher Län­der von der Ent­we­der-Oder-Fra­ge aus­geht, als ob es nur die Wahl gäbe zwi­schen einer euro­päi­schen Super­bü­ro­kra­tie und dem Roll­back zum alten Natio­nal­staat. Kei­ne der bei­den angeb­li­chen Optio­nen ist bes­ser, bei­de sind schlimmer.

Eine neue Form der Ein­heit müß­te in Bäl­de gefun­den wer­den, in der die Natio­nal­staa­ten eine ähn­li­che Rol­le spiel­ten wie die Län­der der Bun­des­re­pu­blik. Ein Bay­er bleibt auch in Deutsch­land Bay­er, ein Schot­te hört nicht auf, Schot­te zu sein, weil es Groß­bri­tan­ni­en gibt. Es stellt sich die Fra­ge, wie­so es sich bei einem eini­gen Euro­pa anders ver­hal­ten soll­te, das sich über Zusam­men­schlüs­se sub­si­di­är von unten nach oben auf­baut, von einer Regi­on über die Nati­on bis hin­auf zu Euro­pa. Man gibt Iden­ti­tät und Her­kunft nicht preis, nur weil der staat­li­che Rah­men auf­grund der Anfor­de­run­gen grö­ßer, siche­rer und stär­ker auf­ge­spannt wird.

Denn heu­te bie­ten die klas­si­schen, auf sich bezo­ge­nen Natio­nal­staa­ten, die­se Geschöp­fe des 19. Jahr­hun­derts, weder Schutz vor den Fai­led sta­tes an den Gren­zen Euro­pas, noch Sicher­heit vor den Ver­wer­fun­gen des Welt­mark­tes, noch kann ein ein­zel­ner Natio­nal­staat in Euro­pa die Digi­ta­li­sie­rung beherr­schen oder weit­rei­chen­de infra­struk­tu­rel­le, poli­ti­sche oder wirt­schaft­li­che Gegen­mo­del­le zu Chi­na oder den USA auf­bau­en. Anders pos­tu­liert: Der Natio­nal­staat allein schützt die Völ­ker Euro­pas nicht mehr, weil zuneh­mend neue Kapi­tel auf­ge­schla­gen wer­den, die sei­ne Hand­lungs­op­tio­nen überschreiten.

Gesucht wer­den muß nun jene – dezi­diert euro­päi­sche – Form der Ein­heit, in wel­cher die unter­schied­li­chen Stär­ken jeder ein­zel­nen Regi­on und Nati­on gebün­delt und die Schwä­chen abge­fe­dert wer­den. Wenn man sich aus natio­na­lis­ti­scher Enge oder Selbst­über­hö­hung her­aus für stark genug hält, allei­ne zu bestehen, erliegt man einer »Wahn­vor­stel­lung«, wie Drieu la Rochel­le bereits in den 1930er Jah­ren vor­aus­sah – und zwar rea­li­sier­te er das in einer Epo­che, in der die rasan­ten Ent­wick­lun­gen rund um Digi­ta­li­sie­rung, Indus­trie 4.0 und Hyper­glo­ba­li­sie­rung noch gar nicht denk­bar, geschwei­ge denn so wir­kungs­voll und fol­gen­reich wie heu­te erschei­nen konnten.

Die Ant­wort auf das Schei­tern der EU kann daher nicht die Rück­kehr zum Natio­nal­staats­den­ken sein, jeden­falls nicht in West­eu­ro­pa, wo neue Wege beschrit­ten wer­den müs­sen, deren exak­te Rou­ten ent­lang des Leit­mo­tivs »Unser Euro­pa ist nicht ihre EU« zu ent­wi­ckeln sein wer­den. Denn unser Euro­pa ist ein Euro­pa, das mehr ist als nur Ver­trags­werk, mehr als offe­ne Gren­zen, offe­ne Märk­te, offe­ne Gesell­schaf­ten; ein Euro­pa, das Regio­nen, Natio­nen und Völ­ker nicht gegen­ein­an­der aus­spielt, son­dern an ein gemein­sa­mes Bewußt­sein appel­liert, weil wir im sel­ben Boot sit­zen und ein soli­da­ri­sches und sozia­les, selbst­be­wuß­tes und sou­ve­rä­nes Euro­pa brau­chen. Auch wenn man nun dem His­to­ri­ker Rolf Peter Sie­fer­le folgt, der davon aus­ging, daß für die kom­men­den Gene­ra­tio­nen der Sozi­al­staat nur als ver­ei­nig­tes Euro­pa und das ver­ei­nig­te Euro­pa nur als Sozi­al­staat eine Zukunft hat, wird man doch der Kri­tik der Euro­pa­skep­ti­ker bei­pflich­ten müs­sen, daß es der­zeit nicht aus­rei­chend bewuß­te Euro­pä­er gibt. Eine ange­mes­se­ne Zahl von ihnen ist aber Vor­aus­set­zung für alles wei­te­re, und die­se Euro­pä­er zu fin­den und zu for­men, ist eine von vie­len Auf­ga­ben der sich als »Jun­g­eu­ro­pä­er« inner­halb der Rech­ten ver­ste­hen­den Personenkreise.

»Daß es Deut­sche gibt«, so schrieb Hen­drik de Man vor 90 Jah­ren, »ist nicht die Fol­ge des Bestehens eines Deut­schen Reichs, son­dern des­sen Ursa­che. Ein unab­hän­gi­ges Ame­ri­ka, ein geein­tes Ita­li­en, ein selb­stän­di­ges Polen konn­ten erst bestehen, nach­dem genug Ame­ri­ka­ner, Ita­lie­ner und Polen da waren, die dies woll­ten. Ein neu­es Euro­pa setzt daher neue Euro­pä­er vor­aus.« Neue Euro­pä­er, deren kon­kre­te poli­ti­sche Uto­pie es sein muß, die EU suk­zes­si­ve zu über­win­den oder aber von innen her­aus umzugestalten.

Die Idee »neu­er Euro­pä­er«, deren Bewußt­sein die natio­na­le Lei­den­schaf­ten mit ein­be­zieht und als star­ken Motor der Geschich­te begreift, ohne aber die gesamt­eu­ro­päi­sche Not­wen­dig­keit zu negie­ren, ist idea­lis­tisch gedacht, und die Gene­se die­ser »Eli­te« wäre äußerst lang­wie­rig und benö­tig­te über­dies – jen­seits des Ver­nunft­eu­ro­pä­er­tums aus Sach­zwän­gen – den Mythos des Gemein­sa­men. Die­ser Mythos könn­te bei­spiels­wei­se durch gemein­sa­me Kämp­fe gegen ein »Außen« oder die Bewußt­seins­ent­wick­lung durch mani­fes­te Kri­sen­er­leb­nis­se ent­ste­hen. Das der­zei­ti­ge Feh­len eines sol­chen ist indes kein spe­zi­el­les Argu­ment gegen das ver­ein­te Euro­pa von rechts: Auch die Befür­wor­ter eines Roll­backs zum alten, mitt­ler­wei­le erheb­lich durch die nor­ma­ti­ve Kraft des Fak­ti­schen rela­ti­vier­ten Natio­nal­staa­tes des 19. / 20. Jahr­hun­derts kön­nen ja nicht erklä­ren, wie sich die­se Rück­ent­wick­lung gegen alle (sozia­len, poli­ti­schen, tech­no­lo­gi­schen, wirt­schaft­li­chen usw.) Rea­li­tä­ten voll­zie­hen soll­te, noch dazu ohne natio­nal­be­wuß­te Eli­te, die man in der Hin­ter­hand wüß­te als Gegen­pol zur herr­schen­den Klasse.

Die Rück­kehr zu einem Sta­tus, der ver­gan­gen ist, ist eben­so uto­pisch wie das Anstre­ben eines Fern­zie­les, das noch nicht rea­li­sier­bar erscheint. Pikan­ter­wei­se könn­ten rech­te Pan­eu­ro­pä­er dabei auf den Fak­tor Emma­nu­el Macron hof­fen: Womög­lich wer­den der fran­zö­si­sche Prä­si­dent und ver­gleich­ba­re Poli­ti­ker auf ihrem (fal­schen) Weg zur euro­päi­schen Inte­gra­ti­on Hür­den abräu­men, die ihren Gegen­spie­lern von rechts wie­der­um ihre eige­ne Visi­on leich­ter rea­li­sier­bar machen lie­ße. Der neue Sta­tus quo gäl­te, folgt man die­sem Gedan­ken­ex­pe­ri­ment, als Aus­gangs­punkt für ein neu­es Euro­pa, das gewis­se Klip­pen, die jetzt von Macron und Co. suk­zes­si­ve abge­tra­gen wer­den, gar nicht mehr vor­fin­den wird.

Viel­leicht sta­gniert Macrons Euro­pa­plan aber auch und wir müs­sen mit dem Ist-Zustand zurecht kom­men, der sei­ne Kri­sen und Defi­zi­te über die Jah­re hin­weg ver­schlep­pen kann. Doch auch in die­sem Fal­le wür­de die EU kei­ne Ewig­keits­klau­sel ken­nen; ihr Bestand in zehn oder zwan­zig Jah­ren wäre auch dann noch in Zwei­fel zu zie­hen. Ent­we­der erfolgt ein even­tu­ell fol­gen­der Rück­bau der EU auf­grund einer Schritt-für-Schritt-Reduk­ti­on durch Aus­trit­te, Bei­spiel Brexit, oder durch eine bewuß­te Abschaf­fung durch ihre Kern­mit­glie­der. Eine bewuß­te Abschaf­fung indes wür­de in die­sem Kon­text bedeu­ten, daß eine poli­ti­sche Welt, deren Sta­bi­li­tät gebets­müh­len­ar­tig gepre­digt wird, aus den Angeln geho­ben wür­de. Der­je­ni­ge aber, der eine bestehen­de Welt aus den Angeln heben will, bedarf, so Ernst Jün­ger in sei­nem Essay An der Zeit­mau­er, eines fes­ten Fix­punk­tes, eines Denkstiles.

Daß die­ser Denk­stil frei von Ele­men­ten einer über­spann­ten natio­na­lis­ti­schen Restau­ra­ti­on sein wird, ist nur eine der drän­gen­den Her­aus­for­de­run­gen, die vor der For­mu­lie­rung kon­kre­ter Ideen zum sozia­len, poli­ti­schen oder wirt­schaft­li­chen Auf­bau Euro­pas zu bewäl­ti­gen sind. Das ist, so gilt es zu beto­nen, gänz­lich unab­hän­gig davon, wie weit man die euro­päi­sche Ver­ge­mein­schaf­tung trei­ben möch­te. Ob man daher an ein umfas­sen­des oder ein­ge­schränk­tes Revi­val des Natio­nal­staats glaubt oder das ver­ei­nig­te »Jun­g­eu­ro­pa« als Gegen­mo­dell zum »Euro­pa der Vater­län­der«, der »Repu­blik Euro­pa« oder auch des EU-Euro­pas erträumt: Iden­ti­täts­be­wuß­te Rech­te soll­ten erken­nen, daß die sym­bo­li­schen Res­sour­cen nicht mehr län­ger aus­schließ­lich aus natio­na­len Tra­di­tio­nen und Geschichts­be­zü­gen, nega­ti­ven zumal, geschöpft wer­den müs­sen, son­dern daß es Zeit ist, sich dem »euro­päi­schen Mor­gen« (Drieu la Rochel­le) zuzu­wen­den. Der Hin­der­nis­par­cours ist kräf­te­zeh­rend, aber zu bewältigen.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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