Das Werk von Rolf Peter Sieferle: Zwischen Behemoth und Leviathan

Michael Wiesberg

Michael Wiesberg ist Lektor und freier Publizist.

Sei­nen letz­ten Essay ver­öf­fent­lich­te der Umwelt­his­to­ri­ker Rolf Peter Sie­fer­le im Win­ter­heft 2015 /16 der Zeit­schrift Tumult, wo er mit »Deutsch­land, Schla­raf­fen­land – Auf dem Weg in die mul­ti­tri­ba­le Gesell­schaft« eine der wohl luzi­des­ten Ana­ly­sen zu dem »ganz Euro­pa desta­bi­li­sie­ren- den Wahn­sinn der Grenz­öff­nung« vorlegte.

Die­se Grenz­öff­nung sei viel­leicht »nur der Vor­bo­te umfas­sen­de­rer Kon­vul­sio­nen«, »in denen alles unter­ge­hen« wer­de, »was uns heu­te selbst­ver­ständ­lich ist«. Drei Tage vor sei­nem Frei­tod in Hei­del­berg im Sep­tem­ber 2016 schick­te er an sei­ne engs­ten Freun­de noch einen Brief, in dem er zu der Schluß­fol­ge­rung kam, daß wir »es zur Zeit offen­bar mit einer geziel­ten Selbst­zer­stö­rung der deut­schen, euro­päi­schen, west­li­chen Kul­tur zu tun« haben. Danach ver- stumm­te der gebür­ti­ge Stutt­gar­ter für immer, der als Den­ker sui gene­ris zu Leb­zei­ten bei wei­tem nicht die Auf­merk­sam­keit erfuhr, die ihm auf­grund der Bedeu­tung sei­nes Werks eigent­lich hät­te zukom­men müssen.

Sie­fer­le war zunächst lan­ge Zeit in Mann­heim als Pri­vat­do­zent und Pro­fes­sor tätig, ehe er im Jah­re 2000 eine Beru­fung auf den Lehr­stuhl für Wirt­schafts­ge­schich­te in St. Gal­len erhielt. In ihrem Nach­ruf wies die Wie­ner Umwelt­his­to­ri­ke­rin Vere­na Wini­war­ter, die mit Sie­fer­le immer wie­der wis­sen­schaft­lich zusam­men­ar­bei­te­te, dar­auf hin, daß sich der
»bril­lan­te Vor­tra­gen­de« dem »inter­na­tio­na­len Kon­fe­renz­tou­ris­mus« ent­zo­gen und die »gele­gent­li­che Abge­schie­den­heit als Pri­vat­ge­lehr­ter« geschätzt habe. Das habe »sei­ner Bekannt­heit« gescha­det. »Vie­le von uns«, so Wini­war­ter, trau­er­ten um »einen unbe­stech­li­chen, aber stets wohl­wol­len­den Kri­ti­ker«, aber auch um »einen humor­vol­len, treu­en Freund«, der sich »frem­den Denk­wel­ten« gegen­über »wie kaum ein ande­rer« auf­ge­schlos­sen zeigte.

Es waren wohl die­se Eigen­schaf­ten, die Sie­fer­le zu einem Seis­mo­gra­phen für die Offen­le­gung von »unter­ir­di­schen« Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­sen prä­de­sti­nier­ten, die ihr beson­de­res Pro­fil durch des­sen Bemü­hen gewan­nen, sei­ne Erkennt­nis­se mit Niklas Luh­manns Sys­tem­theo­rie zu amal­ga­mie­ren. Mora­li­sie­ren­de Ein­las­sun­gen, schon gar poli­tisch kor­rek­ter Natur, fin­den sich in sei­nem Werk des­halb so gut wie nicht.
Von die­sem Ansatz sind auch sei­ne eben pos­tum publi­zier­ten Mis­zel­len geprägt, die im kapla­ken-Band Finis Ger­ma­nia nach­ge­le­sen wer­den kön­nen. Über­dies erschien in der Werk­rei­he von Tumult die letz­te Stu­die Sie­fer­les; sie trägt den Titel Das Migra­ti­ons­pro­blem. Bei­de Publi­ka­tio­nen kön­nen auch als Bele­ge dafür gele­sen wer­den, war­um der Umwelt­his­to­ri­ker, des­sen Arbeits­schwer­punk­te Umwelt­ge­schich­te, Uni­ver­sal­ge­schich­te, Sozi­al- sowie Kul­tur- und Ideen­ge­schich­te der Indus­tria­li­sie­rung umfaß­ten, immer wie­der als »Uni­ver­sal­ge­lehr­ter« bezeich­net wur­de. Sein umfas­sen­der Bil­dungs­ho­ri­zont ermög­lich­te ihm Ana­ly­sen und Syn­the­sen, die eine Gesamt­schau auf Vor­gän­ge eröff­ne­ten, wie sie so sonst kaum zu fin­den sind. Die Lek­tü­re von Sie­fer­les Tex­ten bedeu­tet des­halb immer einen Erkennt­nis­fort­schritt – auch wenn die­se Erkennt­nis­se, zumal aus deut­scher Sicht, schmerz­lich sein können.

Läßt man das Gesamt­werk Sie­fer­les Revue pas­sie­ren, ist ein durch­ge­hen­der roter Faden zu erken­nen, der sich bis in sei­ne letz­ten Schrif­ten erstreckt. Auf eini­ge aus­ge­wähl­te Ver­öf­fent­li­chun­gen sei­nes Wer­kes sei im fol­gen­den eingegangen.

Das The­ma sei­ner Dok­tor­ar­beit, mit der er Ende der 1970er Jah­re pro­mo­viert wur­de, lau­te­te Die Revo­lu­ti­on in der Theo­rie von Karl Marx. Sie­fer­le ver­such­te in die­ser Arbeit, zu zei­gen, daß Marx die Gesell­schaft in eine »geschichts­phi­lo­so­phi­sche Kon­struk­ti­on« stell­te, die von vorn­her­ein ihre Auf­he­bung garan­tier­te. Der Kern der Wirk­lich­keit lie­ge aber für Marx in der Öko­no­mie, wes­halb die Ana­ly­se des Kapi­ta­lis­mus im Mit­tel- punkt sei­nes Den­kens stehe.

Sie­fer­le soll­te sich auch in der Fol­ge immer wie­der mit Marx aus­ein­an­der­set­zen; 2007 leg­te er bei­spiels­wei­se eine Ein­füh­rung in das Den­ken von Karl Marx vor. Der Marx­schen Kri­tik der Poli­ti­schen Öko­no­mie beschei­nig­te Sie­fer­le eine beacht­li­che ana­ly­ti­sche und pro­gnos­ti­sche Kraft; die Gren­zen sei­nes Den­kens wür­den aber in des­sen Pla­nungs­op­ti­mis­mus, in sei­ner öko­no­mi­schen Sim­pli­fi­zie­rung sozia­ler Phä­no­me­ne und nicht zuletzt in der Vor­aus­sa­ge einer herr­schafts­frei­en Gesell­schaft nach dem Zusam­men­bruch des Kapi­ta­lis­mus deutlich.

Der nächs­te bedeu­ten­de Wurf Sie­fer­les war das 1982 publi­zier­te Buch Der unter­ir­di­sche Wald. Ener­gie­kri­se und indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on. Die­ses Werk kann als Ver­such gedeu­tet wer­den, eine Art Geschich­te der Ener­gie­sys­te­me unter öko­lo­gi­schen Aspek­ten vor­zu­le­gen. Der Über­gang zur Nut­zung fos­si­ler Ener­gie­trä­ger, vor allem der Koh­le, in der Zeit der Indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on stell­te die Wei­chen für die zukünf­ti­ge wirt­schaft- liche und sozia­le Ent­wick­lung. Wäre der indus­tri­el­le Brenn­stoff­be­darf bis zur Mit­te des 19. Jahr­hun­derts durch Holz gedeckt wor­den, wäre die indus­tri­el­le Ent­wick­lung wohl stark ver­lang­samt wor­den. Die aus dem hohen Tem­po der Indus­tria­li­sie­rung ent­ste­hen­de sozia­le Kri­se wäre dann nicht oder in wesent­lich gemä­ßig­te­rer Form eingetreten.

Der unter­ir­di­sche Wald führ­te qua­si direkt zu Sie­fer­les Aus­ein­an­der­set­zung mit den Fort­schritts­fein­den (1984) von der Roman­tik bis zur Gegen­wart. Aus­gangs­punkt ist die The­se, »daß die Tech­nik­kri­tik seit dem 19.Jahrhundert als Reak­ti­on auf die Zer­trüm­me­rung der alt­stän­di­schen Gesell­schaft ent­stand und daher als Ver­such zu begrei­fen ist, die mit der Ent­ste­hung des Indus­trie­sys­tems ver­bun­de­ne Umwäl­zung intel­lek­tu­ell zu bewäl­ti­gen«. Er ver­sucht, die­sen Pro­zeß nach­zu­zeich­nen, indem er einen Bogen von der Auf­klä­rung über die Maschi­nen­stür­mer, den Pau­pe­ris­mus, Karl Marx, die kon­ser­va­ti­ve Tech­nik­kri­tik sowie den Natio­nal­so­zia­lis­mus bis hin zu den Pro­test- und Alter­na­tiv­be­we­gun­gen der 1980er Jah­re schlägt.

Die Indus­trie­ge­sell­schaft stand auch im Fokus sei­ner fol­gen­den Arbeit: Bevöl­ke­rungs­wachs­tum und Natur­haus­halt (1990). Er geht hier einer Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Moral­phi­lo­so­phen, Theo­lo­gen und Öko­no­men im 18. und 19. Jahr­hun­dert über Pro­ble­me nach, die die sozia­le Legi­ti­mi­tät der Indus­trie­ge­sell­schaft in der Fol­ge beein­flus­sen soll­ten. Auf­ge­zeigt wird zunächst, wie in der Neu­zeit die Natur mehr und mehr als Regel­sys­tem mit ein­ge­schrie­be­nen Gesetz­mä­ßig­kei­ten ver­stan­den wurde

in dem Gott letzt­lich nur die Rol­le eines Uhr­ma­chers zukommt, der nicht mehr ein­zu­grei­fen braucht. Die Denk­fi­gur der Oeco­no­mia naturae, das Modell einer har­mo­ni­schen Ord­nung der Natur, ist Aus­druck die­ses Ansat­zes. Wel­che Ord­nungs­struk­tu­ren letzt­lich auch ent­ste­hen, alles bleibt von der all­mäch­ti­gen gött­li­chen Pro­vi­denz abge­si­chert. Auf die bür­ger­li­che Gesell­schaft über­tra­gen, bedeu­tet dies, »daß die Rol­le der staat­li­chen Kon­trol­le und fürst­li­chen Herr­schaft zuguns­ten der Selbst­re­gu­lie­rung her­ab­ge­setzt wer­den kann«.

Adam Smit­hs Werk vom Wohl­stand der Natio­nen (1776) liest Sie­fer­le vor die­sem Hin­ter­grund weni­ger als natio­nal­öko­no­mi­sches Lehr­buch, son­dern als phi­lo­so­phi­sches Trak­tat, das die­sem Ansatz Gestalt ver­lie­hen hat. Smith ging unter ande­rem der Fra­ge nach, wie sich die unter­schied­li­chen Inter­es­sen der Men­schen in ein aus­ge­wo­ge­nes Gan­zes fügen könn­ten. Er ent­wi­ckel­te dabei das Axi­om, daß das indi­vi­du­el­le Stre­ben der ein­zel­nen ins­ge­samt auf eine har­mo­ni­sche gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung hin­aus­lau­fe. Die »freie und spon­ta­ne Ver­fol­gung von Eigen­in­ter­es­sen und Bedürf­nis­sen« erfor­dert also kei­ne Tugend, die es not­wen­dig macht, »selbst­süch­ti­ge Trie­be zuguns­ten des sitt­li­chen Gan­zen« ein­zu­he­gen. Die­se Smit­h­sche Vol­te, wenn man so will, macht deut­lich, war­um der schot­ti­sche Moral­phi­lo­soph als einer der her­aus­ra­gen­den Ver­tre­ter des Pro­gramms einer »auto­ma­ti­schen Selbst­steue­rung der Gesell­schaft« gilt.

Im aus­ge­hen­den 18. Jahr­hun­dert gab es nun aller­dings Ent­wick­lun­gen, die erheb­li­che Zwei­fel an der Wohl­ge­ord­ne­t­heit der Natur auf- kom­men ließ. Es waren nicht nur die elen­den Lebens­ver­hält­nis­se der Unter­schich­ten (z. B. in Eng­land), son­dern auch die Befürch­tung, daß der »Wohl­stand der Natio­nen« durch Über­be­völ­ke­rung zunich­te gemacht wer­den könn­te. Befeu­ert wur­den die­se Befürch­tun­gen durch die düs­te­re Bevöl­ke­rungs­theo­rie des bri­ti­schen Öko­no­men Robert Mal­thus, der die Auf­fas­sung ver­trat, daß sich eine stän­dig wach­sen­de Bevöl­ke­rung zu einem bestimm­ten Zeit­punkt nicht mehr aus ihrem Lebens­raum ernäh­ren kön­ne. Ist die­ser Punkt erreicht, kommt es zu einer Begren­zung der Be- völ­ke­rungs­grö­ße durch »posi­ti­ve checks« wie zuneh­men­der Sterb­lich­keit durch Hun­ger infol­ge fort­schrei­ten­der Ver­elen­dung der Menschen.

Die nicht zu über­win­den­den Wider­sprüch­lich­kei­ten im Modell der Oeco­no­miae naturae führ­ten nach Sie­fer­le zur Aus­for­mung eines Fort­schritts­pos­tu­lats, das im wesent­li­chen auf der Idee eines stän­di­gen wis­sen­schaft­li­chen und tech­ni­schen Fort­schritts beru­he. Not und Elend wur­den durch die Ver­hei­ßun­gen der Zukunft rela­ti­viert. Der Big bang, den die­ser wis­sen­schaft­li­che Para­dig­men­wech­sel im 19. Jahr­hun­dert aus­ge­löst hat, kann aller­dings nicht über­tün­chen, daß die im 18. Jahr­hun­dert dis­ku­tier­ten Visio­nen von Über­be­völ­ke­rung und end­li­chen natür­li­chen Res­sour­cen kei­nes­wegs ent­kräf­tet sind. Viel­mehr han­delt es sich um Sze­na­ri­en, die heu­te wie­der mit Vehe­menz im Raum stehen.

In sei­nem 1997 publi­zier­ten, ein­mal mehr hoch­kom­ple­xen Werk Rück­blick auf die Natur, das sich als Bei­trag zur Umwelt­ge­schich­te ver­steht, erläu­tert Sie­fer­le unter ande­rem, war­um er den Begriff »Moder­ne« für eine »Fik­ti­on« hält. Modern sei »der jewei­li­ge Sta­tus quo sowie die Über­win­dung die­ses Sta­tus quo zugleich«. Da man aber kein Wis­sen davon besit­zen kön­ne, wohin sich die­ser Pro­zeß bewe­ge, sei »modern« schlecht­hin alles, und das bedeu­te: »nichts«. Die Umwäl­zun­gen der letz­ten zwei­hun­dert Jah­re belegt Sie­fer­le statt­des­sen mit dem Begriff »Trans­for­ma­ti­ons­pha­se«. Ent­spre­chend ist für Sie­fer­le der Pro­zeß der Indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on immer noch voll im Gang – wor­in er sich mit den­je­ni­gen Stim­men trifft, die die gera­de anbre­chen­de Ära der Digi­ta­li­sie­rung als »Vier­te Indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on« dekla­rie­ren. So spricht zum Bei­spiel der His­to­ri­ker Andre­as Röd­der von einem »wei­te­ren Beschleu­ni­gungs­schub einer grö­ße­ren, über­grei­fen­den Ent­wick­lung, die spä­tes­tens mit den ers­ten Eisen­bah­nen des 19. Jahr­hun­derts ein­setz­te«. Auch Röd­der deu­tet die­sen Schub als Aus­druck »viel­fäl­ti­ger Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­se«, die vor gut 100 Jah­ren mit der Elek­tri­fi­zie­rung ein­ge­setzt hätten.

Die­se Ein­sich­ten lei­ten über zu einem Werk Sie­fer­les, das auch über zwan­zig Jah­re nach sei­nem Erschei­nen durch sei­ne pro­gnos­ti­sche und ana­ly­ti­sche Kraft besticht und mit Sicher­heit zu des­sen Ope­ra magna gehört, näm­lich Epo­chen­wech­sel (1994). Wenn man so will, ist die­ses Buch eine Art »Lese­buch« für Sie­fer­les oben ange­spro­che­ne, pos­tum ver­öf­fent­lich­te letz­te Schrif­ten. Zu Recht hat Karl­heinz Weiß­mann in Band 2 des Staats­po­li­ti­schen Hand­buchs dar­auf hin­ge­wie­sen, daß die­se Arbeit mit Blick auf die Aus­deu­tun­gen und Kon­se­quen­zen der Wen­de von 1989 /90 in der Regel nicht genannt wird, obwohl sie zu den »klügs­ten Ana­ly­sen« gehört, die zu Papier gebracht wor­den sind.

Weiß­mann führt die­se Beob­ach­tung auf den Umstand zurück, daß Sie­fer­le hier »unan­ge­neh­me Wahr­hei­ten« anspre­che und sei­ne Prä­fe­renz für den »preu­ßi­schen Sozia­lis­mus« alles ande­re als zeit­geist­kom­pa­ti­bel sei. Ent­spre­chend reser­viert fie­len auch die Rezen­sio­nen aus, die den Autor mög­li­cher­wei­se bewo­gen haben, in der Fol­ge »ver­min­tes Gelän­de« zu mei­den – sieht man ein­mal von sei­nen fünf »bio­gra­phi­schen Skiz­zen« zur Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on ab (1995). Ähn­lich Akzen­tu­ier­tes zur poli­ti­schen Lage­ana­ly­se ist erst wie­der in sei­nen nach­ge­las­se­nen Arbei­ten zu lesen, auf die noch näher ein­zu­ge­hen sein wird.

Es sind nicht nur Sie­fer­les Pro­gno­se einer Wie­der­kehr der Macht­po­li­tik oder die Ent­fal­tung der Migra­ti­ons­pro­ble­ma­tik und ihrer, zumal aus deut­scher Sicht, bedroh­li­chen Kon­se­quen­zen, die Ver­wer­fun­gen des Gebur­ten­schwunds, die Dar­le­gung, war­um der Sozi­al­staat nur als Natio­nal­staat mög­lich sei, oder die pro­fun­den Ana­ly­sen zur »Glo­ba­li­sie­rung«, die das Buch aus kon­ser­va­ti­ver Sicht unent­behr­lich machen, son­dern vor allem sei­ne ideen­ge­schicht­li­che Abrech­nung mit den selbst­zer­stö­re­ri­schen Kon­se­quen­zen des »huma­ni­tä­ren Uni­ver­sa­lis­mus«, der in der Bun­des­re­pu­blik »zum unbe­frag­ten, selbst­ver­ständ­li­chen Daseins­prin­zip wer­den konn­te«, die das Buch als Kar­di­nal­be­griff durchzieht.

Der huma­ni­tä­re Uni­ver­sa­lis­mus ende erst dann, so ana­ly­siert Sie­fer­le, »wenn völ­li­ge Frei­zü­gig­keit, Offen­heit sämt­li­cher Gren­zen und tota­le Mobi­li­tät auf den Welt­ar­beits­märk­ten« bestehe. Es ist im Sin­ne die­ser Logik also nur kon­se­quent, wenn sich die Kanz­le­rin kur­zer­hand vom eth­ni­schen Volks­be­griff ver­ab­schie­de­te, als sie kürz­lich ver­kün­de­te, das Volk sei »jeder, der in die­sem Land lebt«.

Wenn man so will, steht Epo­chen­wech­sel im Span­nungs­feld zwei­er Pole, die der jüdi­schen Mytho­lo­gie ent­lehnt sind, näm­lich Behe­mo­th und Levia­than. »Das nega­ti­ve Extrem der Frei­heit«, so Sie­fer­le, tra­ge »den Namen Behe­mo­th«. Es han­de­le »sich um die kri­mi­nel­le Anar­chie oder den offe­nen Bür­ger­krieg, im äußers­ten Fall um den Kampf aller gegen alle«. Das nega­ti­ve Extrem der Ord­nung hei­ße »Levia­than: Des­po­tie und Tyran­nei bis hin zur tota­len Herr­schaft«. Das Extrem der Frei­heit sei »das blu­ti­ge und grau­sa­me Cha­os«, »das Extrem der Ord­nung die blu­ti­ge und grau­sa­me Unter­drü­ckung«. »Das domi­nan­te Feld der poli­ti­schen Ideo­lo­gie« sei »so weit in Rich­tung des Behe­mo­th ver­scho­ben wor­den, daß fast durch­weg der Levia­than als der ein­zi­ge Feind des Men­schen­ge­schlechts gilt«. Wenn die­se Ver­schie­bung an ihr Ende gekom­men sei, win­ke jedoch »kein sanf­tes Arka­di­en«, son­dern die »har­te Ord­nung des Behe­mo­th, der Sieg der Stärks­ten, Skru­pel­lo­ses­ten und Durch­set­zungs­fä­higs­ten, die den Schwa­chen nur inso­fern Schutz gewäh­ren, als sie sich in ihren Ein­fluß- und Inter­es­sen­zo­nen befin­den«. Die­se Ent­wick­lung käme einem Rück­fall in eine »mul­ti­tri­ba­le Gesell­schaft« – vgl. z. B. Tumult, Win­ter 2015 /16 – gleich; ein The­ma, das Sie­fer­le ins­be­son­de­re in sei­nen letz­ten, oben ange­spro­che­nen Mis­zel­len beschäf­tigt hat.

Die 30 Kurz­schrif­ten Sie­fer­les in dem kapla­ken-Band Finis Ger­mania, die sich in Tei­len wie ein Kom­pi­lat des Epo­chen­wech­sels lesen, umkrei­sen unter ande­rem die The­men »Deut­scher Son­der­weg und Sie­ger­per­spek­ti­ve«, »Die neue Staats­re­li­gi­on«, die Logik des Anti­fa­schis­mus, die im »star­ken Maße Anti­ger­ma­nis­mus« sei, bis hin zum »ewi­gen Nazi«  als »prak­ti­scher Nega­ti­on des huma­ni­tä­ren Uni­ver­sa­lis­mus«. Die aus die­sem Uni­ver­sa­lis­mus her­aus­zi­se­lier­te »neue Reli­gi­on der Mensch­heit«, so Sie­fer­le, impli­zie­re die pro­gram­ma­ti­sche For­de­rung nach einer mul­ti­kul­tu­rel­len Gesell­schaft. Deren Geg­ner wür­den durch eine »pro­gram­ma­ti­sche Iden­ti­fi­ka­ti­on von Faschismus/Rassismus und Rechts­ra­di­ka­lis­mus« ins Abseits gestellt werden.

Denkt man alle Lini­en, die in die­sen zum   Teil pam­phle­tis­tisch gestei­ger­ten Streit­schrif­ten aus­ge­zo­gen wer­den, zu Ende, kommt man um eine Schluß­fol­ge­rung nicht her­um, die Rai­mund Th. Kolb, der mit Sie­fer­le in engem Kon­takt stand, im Nach­wort so aus­drückt: Was uns »heu­te noch lieb und teu­er ist«, wer­de »in abseh­ba­rer Zeit ver­schwun­den« sein. Unter­stri­chen wird die­se Wahr­neh­mung von der zutiefst zivi­li­sa­ti­ons­kri­ti­schen Pro­gno­se Sie­fer­les, daß der Natur­zu- stand am Ende und nicht »am Anfang der bür­ger­li­chen Gesell­schaft« ste­he. Wenn das »Aas des Levia­than« ver­zehrt sei, gin­gen sich »die Wür­mer« in einer in den Tri­ba­lis­mus zurück­ge­fal­le­nen Gesell­schaft »gegen­sei­tig an den Kragen«.

Im Mit­tel­punkt der Manu­scrip­tum-Publi­ka­ti­on Das Migra­ti­ons­pro­blem ste­hen Ursa­chen und Kon­se­quen­zen der aktu­el­len Völ­ker­wan­de­rung sowie die Unver­ein­bar­keit von Sozi­al­staat und Mas­sen­zu­wan­de­rung, ein The­ma, dem im Epo­chen­wech­sel eben­falls bereits eine expo­nier­te Bedeu­tung zukam. Der unhalt­ba­re Druck, der durch Mas­sen­mi­gra­ti­on auf den deut­schen Sozi­al­staat aus­ge­übt wird, müs­se, da die­ser auf der Natio­nal­öko­no­mie fuße, über kurz oder lang sei­nen Zusam­men­bruch zur Fol­ge haben (Social overst­retch). Sie­fer­le arbei­tet her­aus, daß die Legi­ti­mie­rung der Poli­tik der Mas­sen­zu­wan­de­rung mit star­ken Nar­ra­ti­ven arbeitet.

Zu die­sen Nar­ra­ti­ven gehö­re die Behaup­tung, bei den Ein­wan­de­rern han­de­le es sich um »Schutz­su­chen­de«. Die­se Behaup­tung sol­le bei der auf- neh­men­den Gesell­schaft ent­spre­chen­de »soli­da­ri­sche Effek­te« aus­lö­sen. Unter den drei Alter­na­ti­ven, mit denen auf die Völ­ker­wan­de­rung reagiert wer­den kön­ne (näm­lich tota­le Abschot­tung, selek­ti­ve Zuwan­de­rung und unein­ge­schränk­te Zuwan­de­rung), habe Deutsch­land die letz­te Alter­na­ti­ve gewählt, die Sie­fer­le als »hoch­ris­kan­te, gera­de­zu aben­teu­er­li­che Poli­tik« bewer­tet, »die in die sozia­le Kata­stro­phe füh­ren kann«. Unmiß­ver­ständ­lich ist das Urteil, das Sie­fer­le über die Haupt­ver­ant­wort­li­che für die­se Poli­tik, näm­lich Ange­la Mer­kel, fällt: Sie wer­de als eine der »gro­ßen Kata­stro­phen­ge­stal­ten« in die deut­sche Geschich­te eingehen.

Mit Krieg und Zivi­li­sa­ti­on, des­sen Ver­öf­fent­li­chung gera­de vor­be­rei­tet wird, steht noch ein nach­ge­las­se­nes Opus magnum Sie­fer­les aus, das den Bogen von den tri­ba­len über die Staa­ten­krie­ge bis hin zu den heutigen

»Cyber-Krie­gen« schlägt. Sie­fer­le schrieb in sei­nem Vor­wort, daß er mit die­sem Buch »eine Struk­tur­ge­schich­te des Krie­ges« vor­le­gen wol­le, »in der auch tech­ni­sche und poli­ti­sche Fak­to­ren zur Spra­che« kom­men. Die Durch­drin­gungs­tie­fe, die allen Schrif­ten die­ses außer­ge­wöhn­li­chen Intel­lek­tu­el­len eigen ist, läßt völ­lig neue Ein­sich­ten in das Phä­no­men Krieg erhoffen.

Am 17. Sep­tem­ber 2016 »ver­sank er im Meer, ohne auch nur geahnt zu haben, wie sehr man ihn ver­mis­sen wird«, schreibt Rai­mund Th. Kolb. Die schmerz­li­che Lücke, die Rolf Peter Sie­fer­le hin­ter­läßt, wird, die­se Pro­gno­se sei an die­ser Stel­le abge­ge­ben, nicht zu schlie­ßen sein.

 

Michael Wiesberg

Michael Wiesberg ist Lektor und freier Publizist.

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