Eine Kollegin hat am Kirchturm ihrer Gemeinde ein großes, weithin sichtbares Banner hängen: »Ich war ein Fremder unter euch. – Jesus«.
Nur dieser Satz – keine Folgerung, keine Forderung, und dennoch: Wie mächtig spürt man den ethischen Imperativ, der sich wie ein unsichtbares Kraftfeld um ihn herum ballt. Jesus, der Sohn einer Flüchtlingsfamilie, die vor dem Kindermord des Herodes in Ägypten Asyl suchte. Jesus, zeitlebens ein Fremder im Gefüge der antiken jüdischen Gesellschaft, wo»Füchse ihre Gruben und Vögel ihre Nester haben, aber der Menschensohn nichts, wo er sein Hauptbette« (Luk 9,58). Jesus, der als Sohn Gottes »in sein Eigentum kam, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf« (Joh 1,11). Jesus: ein Fremdling – auch Zeitgenossen, die sich dem christlichen Glauben sonst gar nicht verpflichtet fühlen, dafür aber der von Angela Merkel ausgerufenen »Willkommenskultur«, weisen dieser Tage gern darauf hin.
Ganz in Übereinstimmung mit der theologischen Tradition seines Volkes fordert Jesus zudem im Gleichnis von der Scheidung im letzten Gericht ein, das »Recht des Fremdlings« zu beachten (Mt 25,35). Aber worin besteht es denn eigentlich, dieses Recht? Was sind die ethischen Forderungen der Bibel im Umgang mit Ausländern?
In den Schriften des Alten Testaments findet man unter der deutschen Übersetzung des »Fremdlings« zwei hebräische Begriffe: den Ger und den Nach’ri (oder auch Bennechar). Der Ger bezeichnete in der archaischen Stammeszeit den Gast, der unter dem besonderen Schutz seines Gastgebers steht. Ein bewegendes Beispiel für den hohen Stellenwert, den der Schutz des Fremdlings im Sittengesetz einnahm, findet sich in 1.Mose 19: Engel kommen in der Gestalt von Menschen in die Stadt Sodom und kehren unter Lots Dach ein. Die Bewohner der Stadt rotten sich vor seinem Haus zusammen und fordern, daß Lot die Fremdlinge heraus- gebe, damit sie sie vergewaltigen können. Lot weigert sich, denn sie stehen unter seinem Schutz, und bietet der aufgebrachten Menge stattdessen seine Frau und seine Töchter an.
In späterer Zeit, in der Israel ein Königreich war und nicht mehr das Sittengesetz, sondern das kanonisierte Recht offizielle Geltung beanspruchte, bezeichnet der Ger einen Ausländer, der zum Judentum übergetreten ist, also einen Proselyten. Jude konnte ja eigentlich nur sein, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde. Das Gesetz regelt aber auch die Ausnahme. Wenn ein Ausländer den Glauben an den einen Gott bekannte und sich seinem Gesetz unterstellte, so galt das Gesetz für ihn wie für einen Juden: »Es soll ein und dasselbe Recht unter euch herrschen, für den Ger genauso wie für den Einheimischen – denn ich bin der Herr, euer Gott.« (3. Mose 24,23)
Die Hinwendung zum Judentum ist als eine so weit wie nur möglich denkbare Anverwandlung vorzustellen. Der Nach’ri wird erst durch den Vorgang der Assimilation zum Ger und erlangt damit einen sozialen Status, der es ihm erlaubt, am Gottesdienst im Tempel oder der Synagoge teilzunehmen und damit ein Teil der jüdischen Gesellschaft zu werden (Jes 56,6.7).
Für den Ger gelten besondere Schutzmaßnahmen: Er darf nicht »bedrängt und bedrückt« werden. Der Einheimische soll ihn lieben wie seinesgleichen. Nach der Ernte soll keine Nachlese stattfinden, damit der Arme und der Ger sich versorgen können. Es darf auch kein Zins von ihm gefordert werden. Vor allem aber bedeutet »nicht bedrängen und bedrücken«, einen Ger nicht zum Sklaven zu machen. Juden war es verboten, andere Juden als Sklaven zu halten, aber auf mittellose und hilfsbedürftige Ausländer mag so mancher Großgrundbesitzer ein begehrliches Auge geworfen haben, wäre es doch viel gewinnbringender, Sklaven für sich arbeiten zu lassen als freies Gesinde oder selbst Tagelöhner. Daß genau dies und nichts anderes damit gemeint ist, ergibt sich aus dem Zusammenhang, denn das »Recht des Fremdlings« wird oft begründet mit dem Satz: »Auch ihr wart Fremdlinge in Ägypten!« – womit natürlich an das kollektive Trauma der Sklaverei erinnert wird.
Der Ger ist kein Jude aus Abstammung, aber der Glaube zählt mehr als die Abstammung, und wenn er sich zu dem einen Gott bekennt und sein Gesetz einhält, so schützt ihn dieses Gesetz auch. Für den Nach’ri gilt das alles nicht. Jüdisches Recht galt für Juden und »Judengenossen«. Der Nach‘ri hat keinerlei Rechte. Die Idee, ihn zu integrieren, also die Grenze und den Abstand aufzuheben, der zu einem solchen bestand, wäre als groteske Zumutung aufgefaßt worden. Ausländer galten in ritueller Hinsicht als unrein: Sie verehrten fremde Götter, aßen unreine Speisen, der Kontakt mit ihnen war, wenn es ging, auf ein Mindestmaß zu begrenzen. Sei es, daß ein griechischer Kaufmann im Handel mit einem Juden übervorteilt wurde; sei es, daß ein römischer Matrose wegen einer Krankheit im Hafen zurückgelassen werden mußte: Es gab keine gesellschaftliche Institution, die sich um solche Fälle gekümmert hätte. Sie waren auf sich allein gestellt.
Es gab nur wenige Möglichkeiten, einen Fuß in die Tür zu kriegen: Man wurde entweder Proselyt, bekannte sich also zum jüdischen Glauben, hielt die Gebote ein und erlangte dadurch den Rechtsschutz des jüdischen Religionsgesetzes. Oder man setzte sich ins Gebirge ab, wo Räuberbanden ihr Unwesen trieben – dort interessierte es niemanden, woher man kam. Oder – in römischer Zeit – man begab sich zu einer militärischen oder zivilen römischen Einrichtung und fand dort Anschluß.
Wenn Jesus das »Recht des Fremdlings« anmahnt, so appelliert er an die Sittlichkeit des einzelnen: »Gib dem, der dich bittet!« (Mt 5,42) Verantwortlich ist man nach der Lehre Jesu zuvörderst für den, dem man von Angesicht zu Angesicht begegnet, der einem sozusagen vor die Füße fällt: Dieser konkret erfahrbare Mensch ist der Nächste, nicht etwa jeder X‑Beliebige. Ein Outsourcing der Armen- oder Flüchtlingshilfe an die Adresse der gesamten Gesellschaft hatte er nicht im Sinn, im Gegenteil: Jeder Appell an eine »politische Lösung« würde den einzelnen ja aus seiner »Vertikalspannung« (wie Sloterdijk es nennt), d. h. aus seiner sittlichen Verantwortung vor Gott entlassen – und vice versa: Die Verantwortung, der ich mich als Mensch vor Gott zu stellen habe, an den »Staat« oder die »Gesellschaft« zu delegieren, ist von Übel.
Interessant ist es, zu beobachten, wie streng Jesus dabei die tradierten Grenzen einhielt. Auf die Bitte einer Ausländerin um Hilfe antwortet er, nachdem er sich erst taub stellt und von seinen Jüngern überzeugt werden muß: »Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.« (Mt 15,24) Zwar heilt er ihre Tochter wie auch den Sohn eines römischen Hauptmanns, aber im Unterschied zu anderen Heilungen enthält sich Jesus hier eines Segens, überhaupt jeder Berührung. Ebenso verhält es sich mit den aussätzigen Samaritanern – die Heilung erfolgt sozusagen »auf Abstand« (Luk 17,11ff.). Nicht einmal die römische Münze nimmt er in die Hand, an deren Beispiel er lehrt: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!« (Mt 22,21) Jesus hat das Gebot des Abstands, der Grenze zwischen den Menschen keineswegs aufgegeben oder gesprengt.
Bei den biblischen Beispielen und jesuanischen Forderungen zum »Recht des Fremdlings« handelt es sich durchweg um Einzelfälle. Nirgendwo dagegen gibt die Bibel ein Beispiel dafür, daß ein massives Eindringen von Ausländern in die Gesellschaft kommentarlos hinzunehmen oder gar zu fordern und zu fördern wäre. Dabei hatte die jüdische Gesellschaft reichhaltige Erfahrungen mit Invasoren: die Heere der Ägypter, Assyrer, Babylonier, Hellenen, Römer stürmten die Levante aus geopolitischen Grün- den (wie später auch die Araber, Osmanen und Briten: Israel war nur den geringsten Teil seiner Existenz frei und selbstbestimmt, war es doch die Landbrücke zwischen Asien und Afrika). Jeder Prophet hat die Herrschaft der Fremden verurteilt und die Frage bzw. Forderung nach der Souveränität des jüdischen Volks formuliert – Nehemia fordert gar, die Mischehen zwischen Juden und Ausländern wieder aufzulösen.
Die heutige Massenmigration mit all ihren Folgen läßt sich nun allerdings weder mit dem Modell des »Einzelfalls« beschreiben noch mit dem der »Invasion«. Wir stehen vielmehr vor einem davon zu unterscheidenden dritten Phänomen, das ich als »Verdrängungsmigration« bezeichnen möchte. Auch dafür gibt es ein biblisches Beispiel, und das ist die Einwanderung des Volkes Israel ins Land Kanaan, wovon das Buch Josua erzählt.
Andere geschichtliche Beispiele sind die Einwanderung der Arier in die altindische Gesellschaft, die Einwanderung der Buren in die südafrikanische Stammesgesellschaft und natürlich die Einwanderung der Europäer nach Amerika. Halbwegs passabel für die autochthone Bevölkerung und die zuwandernde Bevölkerung ging es dann aus, wenn ein soziales Reglement der Abstandnahme gefunden wurde: In Indien etablierte sich die Kastengesellschaft, in Südafrika die Apartheid. Beide Phänomene sind soziale Abstandssysteme, die den Clash of civilisations abdämpften. Wir sind daran gewöhnt, nur auf die negativen Seiten dieser Reglements zu schauen, auf das Leid der Opfer dieser Entwicklungen, aber das ist eben nur die eine Seite.
Auf der anderen Seite ist dadurch eine Ausbalancierung zwischen Autochthonen und Zugewanderten er- reicht worden, während in anderen Fällen ein Geno- oder Ethnozid stattfand, in Verbindung beispielsweise mit der Verdrängung der Autochthonen in Reservate – oder aber die Zuwanderung scheiterte, wie bei den Wikingern im nordamerikanischen Vinland.
Von der biblischen Ethik her ist das Gebot der Fürsorge für den einzelnen bedürftigen Ausländer ebenso klar wie das Recht auf Widerstand gegen eine Invasion. Wie aber soll man mit gutem christlichen Gewissen auf das Phänomen der Verdrängungsmigration reagieren? Hier mischen sich ja Schutzbedürftige und Aggressoren, Integrationswillige und Integrationsverweigerer.
Der ethische Imperativ des Christentums, wie er beispielsweise in jenem Banner am Kirchturm mitformuliert ist, wirkt mit Macht. Der christlichen Nächstenliebe wohnt etwas Unbedingtes inne; etwas, das danach drängt, über die Worte und Taten Jesu und sonstige biblische Befunde hinauszuwachsen. Schon in der christlichen Urgemeinde war das so. Die Urchristen wußten sich im Gegensatz zu Jesus nach seiner Auferstehung »gesandt zu allen Völkern« (Mt 28,19). Und Jesus selbst sagt zu seinen Jüngern: »Ihr werdet größere Werke tun als ich« (Joh 14,12). Auch in der Frage des Umgangs mit Ausländern muß die Kirche deshalb keineswegs bei dem ethischen Mindestmaß stehenbleiben, das der Bibel zu entnehmen ist. Es steht der Kirche, und das heißt auch: jedem einzelnen Christen, durchaus frei, mehr für Ausländer zu tun.
Dabei wäre es allerdings angemessen, politische Entscheidungen nicht mit den Feigenblättchen biblischer Zitate zu rechtfertigen. Die Angelegenheit ist komplexer, die biblischen Instruktionen sind durchaus differenzierter. Es ist ein Mißbrauch der Bibel, wenn man mit ihr die Politik der »Willkommenskultur« rechtfertigt: Auch in dieser Sache muß man theologisch redlich bleiben.
Damit verbunden ist es unangemessen, eine politische Vorgabe wie die »Willkommenskultur« als grundlegendes Ethos der Kirche zu bestimmen. Eine Kirche, die sich »Volkskirche« nennt, sollte alle Positionen des Volkes abbilden. Außerdem ist die Zustimmung zu dieser politischen Vorgabe nicht einmal Sache der gesamten Kirche. Es gibt genügend Kritiker in den Gemeinden – gehören die denn nun nicht mehr dazu? Die Grundlage, auf der die Kirche aufbaut, ist der Glaube und nicht die politische Positionierung: Daran ist festzuhalten und immer wieder zu erinnern.
Im Zusammenhang damit ist auch immer wieder darauf hinzuweisen, daß die Scheidung zwischen »Schafen« und »Böcken« nicht die seelsorgerliche Aufgabe der Kirche ist, sondern das eschatologische Vorrecht des Herrn der Kirche (Mt 25). Solange die Kirche nicht jeden Menschen unabhängig von seiner politischen Grundeinstellung, und das heißt: solange sie nicht auch jeden Einwanderungskritiker ebenso annimmt wie jeden anderen, ihn nicht ebenso willkommen heißt, ihn nicht ebenso zur Buße ruft und ihm nicht ebenso Gottes Gnade verkündet, verweigert sie sich ihres seelsorgerlichen Auftrags und verleugnet Christus, denn »so jemand spricht: ›Ich liebe Gott‹ und haßt seinen Bruder, ist er ein Lügner – wenn er seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie könnte er dann Gott lieben, den er nicht sieht?« (1. Joh 4,20).
Was wir derzeit feststellen müssen, ist jedoch, daß die Leitungsgremien und Hirten der Kirche und ein Teil »engagierter« Gemeindemitglieder in aller Regel nicht nur bereit sind, jene Christen fallenzulassen, die sich nicht der Staatsräson beugen, sondern sie auch noch stoßen.
Dringend notwendig wäre eine klare und saubere Trennung zwischen dem Aufgabenbereich der Kirche und dem des Staats. Momentan läßt sich die Grenze zwischen beiden Institutionen bestenfalls als »diffus« bezeichnen – die Nichtachtung auch dieser Grenze ist auch ein Charakteristikum des politischen Totalitarismus. Die Kirche hat dem Volk das Gebot der Barmherzigkeit zu verkündigen, der Staat hat sich dagegen um das Recht zu sorgen und darf nicht barmherzig sein, weil er sonst korrupt wird (Richard Schröder). Da ja doch nicht alle Migranten bei uns aufgenommen werden können, muß der Staat die Einhaltung eines Reglements überwachen. Zeigt er sich »barmherzig«, d. h.: macht er plötzlich Ausnahmen, wird er zum Unrechtsstaat. Barmherzigkeit ist vielmehr die sittliche Entscheidung eines Individuums und hat nichts mit dem lautstarken Fordern jener Leute zu tun, die immer »wir« sagen und dabei nie sich selbst meinen. Die Adresse des Barmherzigkeitsgebots kann nicht der Staat oder die Allgemeinheit sein, sondern immer nur der zur Verantwortung vor Gott gerufene Einzelne.
Theologisch redlich bleiben hieße auch, die Unterschiede zwischen Christentum und Islam nicht unkenntlich zu machen, wie das beispielsweise immer wieder mit dem Verweis auf die »abrahamitischen Religio- nen« oder die Bedeutung Jesu für den Koran geschieht, sondern den Islam als Irrlehre zu kennzeichnen und dies biblisch-exegetisch und dogmatisch zu begründen.
Von oberster Bedeutung ist jedoch das Eintreten der Kirche und jedes einzelnen Christen für die Opfer der durch Muslime und/oder Migranten verursachten Gewalt, allzumal für die Opfer unter den eigenen Geschwistern im In- und Ausland. Hier gebietet der Glaube Rücksichtslosigkeit gegenüber jeglicher Art von Political correctness. Die Kirche hat für die Opfer zu beten und zugleich klar und konkret die Untaten zu benennen und die Täter mit ihrer Sünde zu behaften – wenn sie dies nicht tut, verweigert sie den Tätern die Möglichkeit, ihre Sünden zu bekennen und somit Vergebung zu erlangen. Was wir stattdessen feststellen müssen, ist Bagatellisierung oder die Einordnung in abstrakte Menschenrechtsrhetorik – oder ein lautes, donnerndes Schweigen: ein Schweigen zum Gericht, denn »wenn diese schweigen werden, werden die Steine schreien!« (Luk 19,40).
Als Theologe lernt man, jede biblische Aussage mit den Mitteln der historisch-philologischen Methode zu kritisieren und damit auch zu relativieren – alles steht auf dem Prüfstand. Nur die Aussagen zum Problem des Aufenthalts von Ausländern scheinen schlechterdings unhinterfragbar zu sein. Nur da wird plötzlich nicht mehr zwischen einer historischen und der aktuellen Situation unterschieden. Im Zusammenhang mit anderen Themenbereichen nennt man das »Fundamentalismus«.