Die sogenannte Kunstinstallation »He Will Not Divide Us« des Schauspielers Shia LaBeouf richtet sich gegen US-Präsident Trump. Die Anlage besteht aus einer Internetkamera, vor der Trump-Gegner ihre Wut und ihre Angst vortragen sollen. Da tauchen eine Handvoll junge Leute auf, watscheln im Krebsgang mit fuchtelnden Armen herum und kreischen dabei infernalisch. Das ist ein Mem: »Autistic screeching«.
Facebook führt ein neues Paket an Emoticons ein, die eine glupschäugige violette Taube in verschiedenen drolligen Posen zeigen – innerhalb von zwei Wochen überschwemmt eine Welle von Darstellungen dieser Tauben mit Hakenkreuzen die sozialen Netzwerke. Die Vögelchen sitzen auf der Schulter Adolf Hitlers oder sind zum Reichsadler umstilisiert. Daraufhin treten linke Gruppen auf den Plan und »enttarnen« die Taube (»Trash Dove«) als Symbol einer neonazistischen Internetverschwörung – schon ist sie ein Mem. Das Photo einer vollverschleierten Frau und eines Transvestiten im Kleidchen, die in der New Yorker U‑Bahn nebeneinander sitzen, geht unter der Überschrift »Das ist die Zukunft, die Liberale wollen« binnen weniger Stunden um die ganze Welt, provoziert erregte Reaktionen von ganz rechts bis ganz links und läßt den Slogan ikonisch werden, der seither tausende Bilder ganz anderer Sinnzusammenhänge ziert: »Mem-Magie« reinsten Wassers.
Wer das alles für krude Netzwitzchen hält, die binnen weniger Tage wieder vergessen sein werden, der kratzt nur an der Oberfläche eines nicht mehr zu ignorierenden Phänomens unseres digitalen Informationszeitalters. Die Myriaden von oftmals höchst kryptischen Sinnbildern, ‑filmen und sonstigen Kommunikationsmitteln, für die sich die Sammelbezeichnung »Mem« etabliert hat, sind trotz ihrer scheinbaren Albernheit in Wahrheit der Schlüssel zum Verständnis der niederschwelligen Onlinekommunikation.
Und sie sind, wie spätestens der »große Memkrieg von 2016« im Zuge des US-Präsidentschaftswahlkampfs gezeigt hat, ohne Probleme politisch instrumentalisierbar. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Millionen Besucher von Foren wie 4chan, Tumblr oder Reddit, die auf selbsterstellten Inhalten der Nutzer basieren und so gewissermaßen Kreißsäle für Meme darstellen, über einen festgefügten theoretischen Hintergrund verfügten. Die Memtheorie dient vielmehr der Beschreibung des Phänomens einer wildwüchsigen Kommunikationsguerilla im Netz des 21. Jahrhunderts.
Die Begriffsprägung selbst ist schon fast ein halbes Jahrhundert alt und geht zurück auf den britischen Biologen Richard Dawkins. Dawkins ist strenger Atheist und verficht in seinen populärwissenschaftlichen Büchern zur Evolutionsbiologie einen neodarwinistischen Ansatz; diese Ausrichtung hat ihm den Spitznamen »Darwin’s Rottweiler« (Stephen Hall im Discover-Magazin) eingebracht. Mit seinem Buch The Selfish Gene (dt. Das egoistische Gen) von 1976 erlangte er weltweite Aufmerksamkeit, weil darin die neuartige soziobiologische These vorgebracht wurde, daß es sich bei den Genen um die tatsächlichen Objekte der evolutionären Selektion handele.
Zum Verständnis: Seit Darwin wurde dieser Status gemeinhin den Arten (»Arterhaltung« usf.) zugeschrieben. Im Laufe des 20. Jahrhunderts fokussierte die Wissenschaft mehr und mehr die Individuen und ihren jeweiligen Überlebenskampf, weshalb Dawkins’ These wenig mehr als ein radikales Weiterdenken darstellte: Da sich Individuen durch sexuelle Fortpflanzung nicht vollständig replizieren, sondern nur einen relativ kleinen Teil ihres Chromosomensatzes weitergeben können, liegt die Vermutung nicht fern, daß in Wahrheit die Gene selbst miteinander im Wettbewerb der Fitness stehen.
Die Organismen selbst sind nach dieser Interpretation nicht viel mehr als »Überlebensmaschinen« und »Vehikel«, die die Gene auf dem Weg aus der Ursuppe heraus um sich selbst aufzubauen begannen, um ihre Vermehrungschancen zu erhöhen. Das aber läßt im Umkehrschluß die Frage zu, wieviel Willensfreiheit dem einzelnen Individuum noch verbleibe, wenn seine Gene unablässig auf ihre eigene Reproduktion »hinarbeiten« (was natürlich nur ein anschauliches Bild ist, da Gene weder Absichten noch Gefühle haben – Dawkins selbst nennt sie »blinde Replikatoren ohne Bewußtsein«).
Zur Untermauerung seiner soziobiologischen These bemühte sich Dawkins im gleichen Werk, auch das Zusammenwirken der Menschen in einen evolutionären Zusammenhang zu stellen: Analog zu den Genen als kleinsten Trägern der Erbinformation seien kleinste Bewußtseinsinhalte vorstellbar, etwa einzelne Gedanken oder Emotionen, die ebenso im Replikationswettbewerb stünden und demnach mit den üblichen Theorien im Sinne einer soziokulturellen Evolution beschrieben werden könnten.
Als Namen für die hypothetische neue Einheit schlug Dawkins in Anlehnung an das griechische Mimema für »Nachgemachtes« Meme / Memes als Analogon zum biologischen Gene /Genes vor; die Einhaltung dieser klanglichen Entsprechung gebietet hierzulande die Benutzung des hölzernen deutschen »Mem«/»Meme« gegenüber »Gen«/»Gene«. Bemerkenswert ist, daß in Deutschland bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein sehr ähnlicher Begriff für kulturelle Evolution im Sinne der damals aktuellen Theorie eines organischen Gedächtnisses geprägt worden war: 1904 griff der Evolutionsbiologe Richard Semon einen Vortrag des Physiologen Ewald Hering auf (»Über das Gedächtnis als allgemeine Funktion der organisierten Materie«, 1870) und entwickelte dessen Gedanken in seinem eigenen Werk Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens (vom griechischen Mneme für »Erinnerung«) weiter.
In diese Kategorie fielen demnach kulturelle Artefakte wie Kleidermoden, bekannte Melodien oder Schlagworte ebenso wie abstrakte Überzeugungen, etwa politische Ideologien und der Gottesglaube. Die Meme entstehen als einzelne Bewußtseinsinhalte, sobald »das menschliche Nervensystem auf eine Erfahrung reagiert« (Mihály Csíkszentmihályi), und ununterbrochen kämpfen unzählige von ihnen innerhalb des »Mempools« um Ausbreitung, also um die Aufmerksamkeit anderer Menschen, ihrer potentiellen Wirte und Vektoren – so nennt man in der Biologie und Gentechnik Transportvehikel, oft die Überträger von Krankheiten.
Den Vorteil haben dabei solche Meme, die dem soziokulturellen Umfeld angepaßt sind. So wie einzelne Gene zueinander in Wechselwirkung treten können, gibt es sogenannte »koadaptive Memkomplexe« (später zu »Memplexe« verkürzt), die gemeinsam reproduziert werden und sich intern verstärken. »Demokratie« läßt sich beispielsweise als ein solcher Memplex beschreiben, bestehend aus Submemplexen wie »freie Wahlen« oder »Meinungsfreiheit«, die sich wiederum in einzelne Meme zerlegen lassen. Die Schwierigkeit einer genauen Definition des hochkomplexen und gleichzeitig assoziativen Untersuchungsgegenstands zeigt sich bereits darin, daß der Begriff Mem in diesem Sinne sowie als erfolgreiche Imitation der deutschen terminologischen »Vorarbeit« – die Dawkins nicht bekannt war – selbst ein Mem darstellt, das sich gegen andere Modelle kulturellen Wandels zu behaupten hat.
Es überrascht daher nicht, daß innerhalb des etablierten wissenschaftlichen Diskurses als soziokulturellem Umfeld anfangs niemand so recht etwas mit dem neuen Kommunikationskonzept anzufangen wußte. Der Fortbestand des Membegriffs war der zugrundeliegenden biologistischen Definition nach, die sich im einfachen Satz »If it doesn’t spread, it’s dead« (dt. Wenn es sich nicht ausbreitet, ist es tot) zusammenfassen läßt, mehr als fraglich. Erst nach einem knappen Jahrzehnt kam Leben in die Theorie, maßgeblich angestoßen durch wissenschaftliche Kolumnen des US-Kognitionswissenschaftlers Douglas R. Hofstadter, die 1985 gesammelt unter dem Titel Metamagical Themas. Questing for the Essence of Mind and Pattern erschienen.
»Memetik« und »Memetiker« etablierten sich analog zu Genetik und Genetiker, und der fachbereichsübergreifende Anspruch des Denkgebäudes zog allmählich Wissenschaftler verschiedenster Hintergründe an. Den endgültigen Durchbruch im Sinne einer schlagartig erhöhten Aufmerksamkeit (und somit memetischen Verbreitung) schaffte die Memtheorie jedoch erst durch Publikationen außerhalb des akademischen Betriebs, die den Charakter des Replikators als unheimliche Steuerungsinstanz des menschlichen Bewußtseins überbetonten: Virus of the Mind (»Virus des Geistes«) von Richard Brodie, dem Entwickler von Microsoft Word, und Thought Contagion (»Gedankliche Ansteckung«) des Mathematikers Aaron Lynch erschienen beide 1996 und beschäftigten sich insbesondere mit irrationalen Kulturbestandteilen wie Ideologien und Religionen, also ganzen Memplexen, die sich durch kommunikative Ansteckung innerhalb einer Gesellschaft auszubreiten schienen. Diese Vorstellung von Sprache als Virus fand sich in der Belletristik schon bedeutend früher, so in den frühen 1960er Jahren beim bekannten Beat-Autoren William S. Burroughs; der Einzug der Meme in die Popkultur, die doch nach eigenem Anspruch erst aus ihnen selbst hervorgehen sollte, verschaffte den mit ihnen befaßten Memetikern ungeahnten Aufwind.
Passend zur allgemeinen Verbreitung des Internets erschien von 1997 bis 2005 die Onlinepublikation Journal of Memetics mit dem Untertitel »Evolutionäre Modelle der Informationsübertragung«, die zur zentralen Debattenplattform der internationalen Memforscher wurde. 1999 veröffentlichte die britische Psychologin Susan Blackmore ihr von Richard Dawkins sehr gelobtes Buch The Meme Machine (dt. Die Macht der Meme), das die ursprüngliche Theorie vertiefte und mit verschiedensten Phänomenen des kulturellen Mainstreams wie auch der Sprachentwicklung und menschlichen Selbstwahrnehmung in Einklang zu bringen versuchte; bei ihrem Werk dürfte es sich um die einflußreichste, aber auch umstrittenste Arbeit zum Thema handeln.
Vom akademischen Diskurs zurück in die Tiefen des Internets: Was bleibt von den gelehrten Spekulationen über kommunikativ verbreitete Informationsreplikatoren angesichts ungezählter Hitler-Filmschnipsel mit absurden Untertiteln, zum rassistischen Haßsymbol erklärten Comicfröschen (»Pepe the Frog«) und Albernheiten wie dem »Harlem Shake« oder der »Ice Bucket Challenge«? Wer mit den berüchtigten Worten des US-Republikaners Rick Wilson, der damit selbst zu einem Mem wurde, davon ausgeht, es handle sich bei den Urhebern solcher Inhalte um »meist kinderlose, alleinstehende Männer, die zu japanischen Zeichentrickfilmen masturbieren«, der irrt sich gründlich.
Die ursprünglich relativ harmlosen Internetmeme, angefangen mit den simple Emotionen ausdrückenden »Rage faces« bis hin zur Geopolitik- und Geschichtssatire der »Countryballs«, haben im US-Präsidentschaftswahlkampf des vergangenen Jahrs ihre »Unschuld« als reine Spaßveranstaltung verloren. Ebenso werden sie längst nicht mehr von stereotypen Nerds und Kellerkindern gefertigt, die sich nie von ihren Computern und Smartphones zu lösen scheinen – die Politik hat einer auf Ironie und Anspielungen gründenden Szene einen Hauch von Ernst verliehen. Wenn heutzutage Richard Spencer vom National Policy Institute oder andere zentrale Vertreter der AltRight augenzwinkernd davon sprechen, sie hätten Präsident Trump »in die Wirklichkeit gememt«, dann läßt sich das vor dem oben ausgebreiteten theoretischen Hintergrund durchaus nachvollziehen.
Die zahllosen Bilder und sonstigen Meme etwa, die Trump vor der Wahl als Gottimperator oder glorreichen Heerführer darstellten, schafften demnach bei ihren »Wirten« einen Grundeindruck von Trump als allegorischer Herrscher- und Vaterfigur, nicht viel anders als der britische Skandaljournalist Milo Yiannopoulos, der – mit seiner eigenen Homosexualität spielend – von Trump kokett als »Daddy« sprach.
Wesentliche Kennzeichen der Internetmeme unserer Zeit, ob nun politisch oder nicht, sind der schlüssigen Analyse Limor Shifmans zufolge Varianz, Nachahmung und Nutzerbeteiligung. Das erste Kriterium unterscheidet Meme von in ihrer Verbreitung ähnlichen »viralen« Inhalten, etwa Enthüllungsnachrichten oder beliebten Werbevideos: Beide verbreiten sich entlang der nicht linearen, sondern – um dem Poststrukturalismus einen passenden Begriff zu entlehnen – »rhizomatischen«, undurchschaubar verworrenen und hierarchielos verknüpften Kommunikationsstrukturen des Internets. Doch während sich die Virals nur betrachten und weiterverbreiten lassen, laden die Meme ihrem Namen gemäß zur Nachahmung und Abwandlung ein. Das schafft neben dem Buhlen um die Aufmerksamkeit der Nutzer einen Wettbewerb um die Deutungshoheit, da sich Meme auch kapern lassen: So wurde das eingangs erwähnte Mem mit Burkaträgerin und Transvestit ganz bewußt auch von Liberalen weiterverbreitet, die dazu erklärten: »Toleranz und öffentlicher Personennahverkehr – ja, genau das wollen wir!«
Empirisch zeigt sich jedoch bisher eine bemerkenswerte Talentlosigkeit der politischen Linken bei der Schaffung neuer Meme. Erklärbar ist das mit einem Mangel an Selbstironie und Kreativität (bestes Beispiel sind die halbherzigen Versuche, beliebte Donald-Trump-Meme eins zu eins auf den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz zu übertragen) sowie vor allem fehlender Angriffslust. Dazu gehört vor allem, Online-Verbalattacken des politischen Gegners nicht auszuweichen, sondern voll in sie hineinzulaufen und immer noch eins draufzulegen – eine an das Culture jamming der anarchistischen Gegenkultur angelehnte Taktik der Kommunikationsguerilla.
So wird maximale Aufmerksamkeit sichergestellt und häufig das eine oder andere neue Mem »geboren«. Was in den USA den Memplex der Edginess, also ungefähr »Grenzwertigkeit«, bildet, ist ein Wille zur Kontroverse und Geschmacklosigkeit, der in der Bundesrepublik aufgrund geltender Strafgesetze größtenteils nicht replizierbar ist.
Vielleicht braucht es das auch gar nicht. Einer gedeihlichen politischen Memetik sind auch im deutschsprachigen Raum theoretisch keinerlei Grenzen gesetzt. Es gibt jedoch zwei Bedingungen: Die Conditio sine qua non ist eine unvoreingenommene Herangehensweise. Weder sollte man die auf den ersten Blick meist kryptischen, weil voraussetzungsreichen Meme voreilig als Kindereien oder bloßes Spiel abtun, noch darf stur entlang der erfolgreichen US-Vorbilder gearbeitet werden. Zur Erinnerung: Ein Mem muß dem soziokulturellen Umfeld angepaßt sein und Abwandlungen ermöglichen, um erfolgreich zu sein.
Zweitens bedarf es einer Schärfung des Gespürs für Bilder, Texte usf., die sich »memen« lassen. Ein griffiges Beispiel findet sich direkt vor der Haustür: Seine umfassende Reportage über Götz Kubitschek im Spiegel 51 /2016 übertitelte Tobias Rapp (oder die Redaktion) mit »Der dunkle Ritter«. Das ist nicht einmal eine Steilvorlage, es ist bereits ein komplettes Mem, das nur noch der Einspeisung in den unendlichen Diskurs des Internets bedarf und dort übrigens wiederum international anschlußfähig wäre, ist doch der ikonische Wert der Comicfigur »Batman«, des popkulturellen »dunklen Ritters«, schon mehrmals in der amerikanischen AltRight rege diskutiert worden.
Es braucht nur den Willen, aus der altbekannten Lethargie und dem Jammern über schlechte Presse herauszukommen, um die vom politischen Gegner in die Welt gesetzten Schlagworte und Inhalte »umzudrehen«, emotional neu aufzuladen und zum eigenen Vorteil einzusetzen. Dazu braucht es wenig Zeitaufwand: Die wesentliche Funktion der sozialen Netzwerke des Web 2.0 ist das »(Mit-)Teilen«, und so reicht es vollkommen, ein neues Mem gut sichtbar zu plazieren und den Replikatoren ihren Lauf zu lassen. Kreative, ans Werk!