»Leck mich, Mutter Natur!« – Neues von der Geschlechterfront

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Eine Art »flui­des Indi­vi­du­um« scheint mir das Wunsch­bild rezen­ter Uto­pis­ten zu sein. Ein Para­dox: Indi­vi­dua­lis­mus zählt heu­te zu den unhin­ter­geh­ba­ren Blau­pau­sen. Das beginnt in der früh­kind­li­chen Erzie­hung (»eige­ne Gefüh­le äußern«, Nei­gungs­grup­pen im Kin­der­gar­ten) und endet im hohen Alter (»selbst­be­stimm­tes« Ster­ben). Aus die­sem Grund besteht unse­re Gesell­schaft – der »Wes­ten« – nur noch aus Segmenten.

Inner­halb die­ser Zer­set­zung haben sich aus Indi­vi­du­en Grup­pen gebil­det. Über die Cha­rak­ter­ty­pen der Indi­vi­dua­li­sie­rung hat David Ries­man in sei­nem Welt­best­sel­ler The Lonely Crowd (1950; dt. Die ein­sa­me Mas­se, Darm­stadt 1956) das Wesent­li­che gesagt. Der Pfer­de­fuß jedes noch so ori­gi­nel­len Indi­vi­dua­lis­mus ist die Iden­ti­tät – genau die­se gemein­det das Indi­vi­du­um ja wie­der in Kol­lek­ti­ve ein.

Dem Kol­lek­ti­ven wohnt eine zähe Vis­ko­si­tät inne. Begrei­fe ich mich bei­spiels­wei­se als sen­si­ble, nicht­wei­ße, hete­ro­se­xu­el­le Frau, habe ich nolens  volens  vier Gemein­den am Hals, denen ich Soli­da­ri­tät schul­dig bin: den Frau­en, den Nicht­wei­ßen, den Heten und den Sen­si­blen. Flui­di­tät wäre eine pas­sa­ble Opti­on! Ein popu­lä­res Prä­fix ist daher trans‑, Bedeu­tung: über, hin­durch, jen­seits. Wir ken­nen die belieb­ten Lem­ma­ta: Trans­kul­tu­ra­ti­on, Trans­gen­der, Trans­fer. »Trans« erhebt sich über die Din­ge, es ist eine gewal­ti­ge uni­ver­sa­lis­ti­sche Gebär­de. Unse­re Trans-Indi­vi­du­en fol­gen dem Gedan­ken­ge­bäu­de der gren­zen­lo­sen Flui­di­tät: heu­te Tür­ke, mor­gen Deut­scher; heu­te Arbei­ter­kind, mor­gen Dok­to­rand. Gebo­ren als Mann, heu­te: Frau. Heu­te Hete­r­oe­he und drei Kin­der, mor­gen schwul.

Die  Auf­lö­sung   aller   Gewiß­hei­ten  führt nun nicht zu einem fröh­li­chen Durch­ein­an­der all die­ser flui­den Tran­si­den­ti­tä­ten. Schön wär’s zwar, aber da hat der Träu­mer sei­ne Rech­nung ohne den Men­schen gemacht. Es führt zu  einer Ver­un­k­la­rung der Fron­ten. Es gilt: Baue eine Front, eine Hier­ar­chie ab – und zig neue ent­ste­hen. Beson­ders augen­fäl­lig geschieht die­ser Umbau mit all sei­nen Ver­stri­ckun­gen im Bereich der Geschlech­ter­po­li­tik. Der Geschlech­ter­kampf nimmt wie­der Fahrt auf, und das liegt nicht nur am Früh­ling mit die­ser Viel­zahl von Frau­en­fes­ten, etwa dem Inter­na­tio­na­len Frau­en­tag, dem »Equal Pay Day«,  dem Mäd­chen­zu­kunfts­tag und dem alt­ba­cke­nen Mut­ter­tag, der sicher auch noch einen coo­le­ren Namen erhal­ten wird.

Die aktu­el­le Emma titelt »Frau­en­pro­tes­te welt­weit« und rich­tet den Fokus sowohl auf Ame­ri­ka und des­sen popu­lä­re Töch­ter (Meryl Streep, Jane Fon­da, Miley Cyrus und und- und), die nun gemein­sam mit fünf Mil­lio­nen Wut­frau­en auf die femi­nis­ti­schen Anti-Trump- Bar­ri­ka­den gin­gen, als auch auf die Tür­kei, wo Erdo­gan Ver­hü­tung und Abtrei­bung als »Ver­rat an der Nati­on« bezeich­net hat und die Damen grol­len läßt. Das femi­nis­ti­sche Inter­net­por­tal jezebel.com schreibt von einer gigan­ti­schen femi­nis­ti­schen Revol­te, die über Latein­ame­ri­ka rol­le, und in Polen pro­tes­tier­ten 20000 Frau­en gegen eine schär­fe­re Abtrei­bungs­ge­setz­ge­bung. (Sie hat­ten dazu ein ulki­ges Sym­bol ent­wor­fen: einen Ute­rus , der mit einem sei­ner Eilei­ter die soge­nann­te Stin­ke­fin­ger­ges­te vollführt.)

Das Dau­er­the­ma Geschlech­ter­po­li­tik bil­det sich auch auf dem aktu­el­len Bücher­markt ab. Ich möch­te hier die Bücher von Jack Urwin (Boys don’t cry. Iden­ti­tät, Gefühl und Männ­lich­keit, Ham­burg 2017), Andi Zeis­ler (Wir waren doch mal Femi­nis­tin­nen. Vom Riot Grrrl zum Cover­girl. Der Aus­ver­kauf einer poli­ti­schen Bewe­gung, Zürich 2017) und Roger Dev­lin (Sex – Macht – Uto­pie, Schnell­ro­da 2017) vor­stel­len. Alle drei sind jeweils sym­pto­ma­tisch. Urwin ist Bri­te, Jahr­gang 1992; er per­so­ni­fi­ziert den Men­schen­schlag, der von Män­ner­recht­lern »lila Pudel« genannt wird: die Nach- fol­ge­ge­nera­ti­on der »Frau­en­ver­ste­her«.

Sein Buch über »toxi­sche Männ­lich­keit« wird hier­zu­lan­de ziem­lich gehypt. Andi Zeis­ler ist 44 Jah­re alt und als Mit­be­grün­de­rin des US-ame­ri­ka­ni- schen Medi­en­pro­jekts Bitch alt­ge­dien­te Femi­nis­tin. In ihrem klu­gen Buch wid­met sie sich der Fra­ge, was es bedeu­tet, daß das Bekennt­nis zum Femi­nis­mus in den letz­ten zwei, drei Jah­ren der­art en vogue wur­de. Roger Dev­lin nun ist nach eige­nem Bekun­den kein Frau­en­has­ser, son­dern nennt sich einen »Men­schen­feind mit beson­de­ren Augen­merk auf Frau­en« – zumal die Defi­zi­te der Män­ner hin­läng­lich pla­ka­tiert seien.

Jack Urwin ist ein pum­me­li­ger Typ, des­sen auf­ge­bläh­tes Mach­werk man nicht recht zer­rei­ßen will. Beim Lesen des post­pu­ber­tä­ren Ergus­ses, der aus einem viel­be­ach­te­ten Arti­kel im Schmud­del­ma­ga­zin Vice ent­stan­den ist, erwa­chen eher müt­ter­li­che Instink­te. Urwin trägt ein gewich­ti­ges Trau­ma, das sein Buch durch­zieht: Sein Papa ist früh gestor­ben, Herz­in­farkt. Vater Urwin war weder eine Kar­rie­re­bes­tie noch ein Tes­to­ste­ron­hengst oder ein Pascha, aber so wirk­lich über Gefüh­le gere­det hat er nicht. Und ist das nicht ein Rie­sen­pro­blem? Daß Män­ner so »dicht­ma­chen«? Urwin schämt sich ein wenig dafür, »Gen­der« in sei­nem Buch aus der »binär­ge­schlecht­li­chen« Per­spek­ti­ve zu beleuch­ten. Als gäbe es das (also: Mann und Frau) im Ernst! Sein Jubel gilt der Erfin­dung der Milch­er­satz­nah­rung, da sie Män­nern erlaub­te, zur Haupt­be­zugs­per­son des Säug­lings zu werden.

Text­pro­be, durch­aus reprä­sen­ta­tiv: »Ist euch klar, wie ver­dammt geil das ist? Leck mich, Mut­ter Natur, du bist eh nicht mei­ne rich­ti­ge Mama!« Man muß beto­nen, daß hier kein auf Streit gebürs­te­ter Kerl schreibt, son­dern ein armer Jun­ge, der auf den Durch­bruch von »gen­der­neu­tra­ler Baby­klei­dung« hofft und dar­auf, daß mit dem Schwin­den von »Län­dern, Gren­zen, Krie­gen« end­lich das Kon­zept von Männ­lich­keit passé sei. Die (nun auch in Deutsch­land sich durch­set­zen­de) Regel »Nein heißt nein« im Zwei­fels­fall sexu­el­ler Annä­he­rung reicht Urwin natür­lich nicht aus. Auch nicht ein »Ja« als Ein­ver­ständ­nis. Inti­mi­tä­ten sol­len nur dann als ein­ver­nehm­lich gel­ten dür­fen, wenn eine »enthu­si­as­ti­sche Zustim­mung« vor­lag. Jack bie­tet sei­nen Leser*innen an, daß sie ihn gern »per Tweet um schlüs­si­ge Argu­men­te bit­ten« kön­nen. Der trans­pa­ren­te Mann, voi­là!

Frau Zeis­ler nun ist mit allen Was­sern der femi­nis­ti­schen Theo­rie und Pra­xis gewa­schen, und ihr Buch liest sich ulki­ger­wei­se viel weni­ger ame­ri­ka­nisch als das ihres jun­gen Kol­le­gen. Sie stellt fest: Nicht erst seit Barack Oba­mas umju­bel­ten State­ment (»This is what a femi­nist looks like«, 2016) ist der Femi­nis­mus markt­taug­lich gewor­den. Zeis­ler sub­su­miert die viel­fa­chen Bekennt­nis­se zum Femi­nis­tisch­sein unter Begrif­fen wie Markt‑, Wohl­fühl- und Hochglanzfeminismus.

Groß­ar­tig ist vor allem das ers­te der neun Kapi­tel ihres pink­ro­sa Buchs: Wie der neu­ge­bo­re­ne Femi­nis­mus bereits vor hun­dert Jah­ren in den Fokus der Wer­be­fach­leu­te rück­te. Wie durch Kon­sum­pro­duk­te (etwa: die Ziga­ret­te als Schlüs­sel­ele­ment der Eman­zi­pa­ti­on) die Iko­no­gra­phie der »neu­en Frau« betrie­ben wur­de! Wie der Femi­nis­mus umge­kehrt die­se mer­kan­ti­len Denk­ge­wohn­hei­ten über­nom­men hat! Es gibt dafür sogar einen Fach­be­griff und einen Hash­tag: #fem­ver­ti­sing. Auch Zeis­lers Auge für Details ist bestechend. Neh­men wir das popu­lä­re Twerk­ing (dt. »Powa­ckeln«) – heu­te zur femi­nis­ti­schen Selbst­er­mäch­ti­gungs­ges­te gewor­den! Oder das Stich­wort Spanx: Ganz Hol­ly­wood trägt die­se »figur­kor­ri­gie­ren­de« Unter­wä­sche, die Erfin­de­rin ist Mil­li­ar­dä­rin, alles Femi­nis­tin­nen! Zeis­ler zitiert: »Das ist femi­nis­tisch, weil wir sagen, daß es femi­nis­tisch ist.«

Und nun Dev­lin, ein pseud­ony­mer Gelehr­ter aus den USA, Phi­lo­soph, Dis­ser­ta­ti­on über Alex- and­re Kojè­ve. Er wäscht uns, die wir doch alle längst unter der Hand femi­nis­tisch kor­rum­piert sind, gründ­lich den Kopf. Das ist kei­ne Hirn­wä­sche, nein, er spült da was frei! Wir haben hier neun Auf­sät­ze und ein kun­di­ges Nach­wort (so- wie über­aus hilf­rei­che, wei­ter­füh­ren­de Ver­fuß­no­tung) von Über­set­zer Nils Weg­ner. Dev­lin lie­fert gleich­sam ein anti­fe­mi­nis­ti­sches Vade- mecum, kalt und zorn­los. Beson­ders ein­drück­lich: sei­ne Ein­füh­rung des Begriffs der Hyper­ga­mie, die weib­li­che Art der Poly­ga­mie betreffend:

»Frau­en wol­len Hengs­te – um sie zu kas­trie­ren.« Dev­lin ist kein frus­trier­ter Hage­stolz, son­dern ein über­aus wacher Beob­ach­ter, der genau weiß, daß kon­ser­va­ti­ve Tugend­wün­sche unzeit­ge­mäß wären. Wel­chen Sinn hät­te es, das Stall­tor zu ver­rie­geln, nach­dem das Pferd aus­ge­ris­sen ist? All die Debat­ten, die in Deutsch­land erst anbran­den (Date rape, Lip­stick-Femi­nis­mus) kennt Dev­lin aus dem Eff­eff. Mit Frau­en, sagt Dev­lin, sei es »wie mit Poli­ti­kern: Wenn man sie ver­ste­hen will, muß man igno­rie­ren, was sie sagen, und beob­ach­ten, was sie tun.«

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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