Eine Art »fluides Individuum« scheint mir das Wunschbild rezenter Utopisten zu sein. Ein Paradox: Individualismus zählt heute zu den unhintergehbaren Blaupausen. Das beginnt in der frühkindlichen Erziehung (»eigene Gefühle äußern«, Neigungsgruppen im Kindergarten) und endet im hohen Alter (»selbstbestimmtes« Sterben). Aus diesem Grund besteht unsere Gesellschaft – der »Westen« – nur noch aus Segmenten.
Innerhalb dieser Zersetzung haben sich aus Individuen Gruppen gebildet. Über die Charaktertypen der Individualisierung hat David Riesman in seinem Weltbestseller The Lonely Crowd (1950; dt. Die einsame Masse, Darmstadt 1956) das Wesentliche gesagt. Der Pferdefuß jedes noch so originellen Individualismus ist die Identität – genau diese gemeindet das Individuum ja wieder in Kollektive ein.
Dem Kollektiven wohnt eine zähe Viskosität inne. Begreife ich mich beispielsweise als sensible, nichtweiße, heterosexuelle Frau, habe ich nolens volens vier Gemeinden am Hals, denen ich Solidarität schuldig bin: den Frauen, den Nichtweißen, den Heten und den Sensiblen. Fluidität wäre eine passable Option! Ein populäres Präfix ist daher trans‑, Bedeutung: über, hindurch, jenseits. Wir kennen die beliebten Lemmata: Transkulturation, Transgender, Transfer. »Trans« erhebt sich über die Dinge, es ist eine gewaltige universalistische Gebärde. Unsere Trans-Individuen folgen dem Gedankengebäude der grenzenlosen Fluidität: heute Türke, morgen Deutscher; heute Arbeiterkind, morgen Doktorand. Geboren als Mann, heute: Frau. Heute Heteroehe und drei Kinder, morgen schwul.
Die Auflösung aller Gewißheiten führt nun nicht zu einem fröhlichen Durcheinander all dieser fluiden Transidentitäten. Schön wär’s zwar, aber da hat der Träumer seine Rechnung ohne den Menschen gemacht. Es führt zu einer Verunklarung der Fronten. Es gilt: Baue eine Front, eine Hierarchie ab – und zig neue entstehen. Besonders augenfällig geschieht dieser Umbau mit all seinen Verstrickungen im Bereich der Geschlechterpolitik. Der Geschlechterkampf nimmt wieder Fahrt auf, und das liegt nicht nur am Frühling mit dieser Vielzahl von Frauenfesten, etwa dem Internationalen Frauentag, dem »Equal Pay Day«, dem Mädchenzukunftstag und dem altbackenen Muttertag, der sicher auch noch einen cooleren Namen erhalten wird.
Die aktuelle Emma titelt »Frauenproteste weltweit« und richtet den Fokus sowohl auf Amerika und dessen populäre Töchter (Meryl Streep, Jane Fonda, Miley Cyrus und und- und), die nun gemeinsam mit fünf Millionen Wutfrauen auf die feministischen Anti-Trump- Barrikaden gingen, als auch auf die Türkei, wo Erdogan Verhütung und Abtreibung als »Verrat an der Nation« bezeichnet hat und die Damen grollen läßt. Das feministische Internetportal jezebel.com schreibt von einer gigantischen feministischen Revolte, die über Lateinamerika rolle, und in Polen protestierten 20000 Frauen gegen eine schärfere Abtreibungsgesetzgebung. (Sie hatten dazu ein ulkiges Symbol entworfen: einen Uterus , der mit einem seiner Eileiter die sogenannte Stinkefingergeste vollführt.)
Das Dauerthema Geschlechterpolitik bildet sich auch auf dem aktuellen Büchermarkt ab. Ich möchte hier die Bücher von Jack Urwin (Boys don’t cry. Identität, Gefühl und Männlichkeit, Hamburg 2017), Andi Zeisler (Wir waren doch mal Feministinnen. Vom Riot Grrrl zum Covergirl. Der Ausverkauf einer politischen Bewegung, Zürich 2017) und Roger Devlin (Sex – Macht – Utopie, Schnellroda 2017) vorstellen. Alle drei sind jeweils symptomatisch. Urwin ist Brite, Jahrgang 1992; er personifiziert den Menschenschlag, der von Männerrechtlern »lila Pudel« genannt wird: die Nach- folgegeneration der »Frauenversteher«.
Sein Buch über »toxische Männlichkeit« wird hierzulande ziemlich gehypt. Andi Zeisler ist 44 Jahre alt und als Mitbegründerin des US-amerikani- schen Medienprojekts Bitch altgediente Feministin. In ihrem klugen Buch widmet sie sich der Frage, was es bedeutet, daß das Bekenntnis zum Feminismus in den letzten zwei, drei Jahren derart en vogue wurde. Roger Devlin nun ist nach eigenem Bekunden kein Frauenhasser, sondern nennt sich einen »Menschenfeind mit besonderen Augenmerk auf Frauen« – zumal die Defizite der Männer hinlänglich plakatiert seien.
Jack Urwin ist ein pummeliger Typ, dessen aufgeblähtes Machwerk man nicht recht zerreißen will. Beim Lesen des postpubertären Ergusses, der aus einem vielbeachteten Artikel im Schmuddelmagazin Vice entstanden ist, erwachen eher mütterliche Instinkte. Urwin trägt ein gewichtiges Trauma, das sein Buch durchzieht: Sein Papa ist früh gestorben, Herzinfarkt. Vater Urwin war weder eine Karrierebestie noch ein Testosteronhengst oder ein Pascha, aber so wirklich über Gefühle geredet hat er nicht. Und ist das nicht ein Riesenproblem? Daß Männer so »dichtmachen«? Urwin schämt sich ein wenig dafür, »Gender« in seinem Buch aus der »binärgeschlechtlichen« Perspektive zu beleuchten. Als gäbe es das (also: Mann und Frau) im Ernst! Sein Jubel gilt der Erfindung der Milchersatznahrung, da sie Männern erlaubte, zur Hauptbezugsperson des Säuglings zu werden.
Textprobe, durchaus repräsentativ: »Ist euch klar, wie verdammt geil das ist? Leck mich, Mutter Natur, du bist eh nicht meine richtige Mama!« Man muß betonen, daß hier kein auf Streit gebürsteter Kerl schreibt, sondern ein armer Junge, der auf den Durchbruch von »genderneutraler Babykleidung« hofft und darauf, daß mit dem Schwinden von »Ländern, Grenzen, Kriegen« endlich das Konzept von Männlichkeit passé sei. Die (nun auch in Deutschland sich durchsetzende) Regel »Nein heißt nein« im Zweifelsfall sexueller Annäherung reicht Urwin natürlich nicht aus. Auch nicht ein »Ja« als Einverständnis. Intimitäten sollen nur dann als einvernehmlich gelten dürfen, wenn eine »enthusiastische Zustimmung« vorlag. Jack bietet seinen Leser*innen an, daß sie ihn gern »per Tweet um schlüssige Argumente bitten« können. Der transparente Mann, voilà!
Frau Zeisler nun ist mit allen Wassern der feministischen Theorie und Praxis gewaschen, und ihr Buch liest sich ulkigerweise viel weniger amerikanisch als das ihres jungen Kollegen. Sie stellt fest: Nicht erst seit Barack Obamas umjubelten Statement (»This is what a feminist looks like«, 2016) ist der Feminismus markttauglich geworden. Zeisler subsumiert die vielfachen Bekenntnisse zum Feministischsein unter Begriffen wie Markt‑, Wohlfühl- und Hochglanzfeminismus.
Großartig ist vor allem das erste der neun Kapitel ihres pinkrosa Buchs: Wie der neugeborene Feminismus bereits vor hundert Jahren in den Fokus der Werbefachleute rückte. Wie durch Konsumprodukte (etwa: die Zigarette als Schlüsselelement der Emanzipation) die Ikonographie der »neuen Frau« betrieben wurde! Wie der Feminismus umgekehrt diese merkantilen Denkgewohnheiten übernommen hat! Es gibt dafür sogar einen Fachbegriff und einen Hashtag: #femvertising. Auch Zeislers Auge für Details ist bestechend. Nehmen wir das populäre Twerking (dt. »Powackeln«) – heute zur feministischen Selbstermächtigungsgeste geworden! Oder das Stichwort Spanx: Ganz Hollywood trägt diese »figurkorrigierende« Unterwäsche, die Erfinderin ist Milliardärin, alles Feministinnen! Zeisler zitiert: »Das ist feministisch, weil wir sagen, daß es feministisch ist.«
Und nun Devlin, ein pseudonymer Gelehrter aus den USA, Philosoph, Dissertation über Alex- andre Kojève. Er wäscht uns, die wir doch alle längst unter der Hand feministisch korrumpiert sind, gründlich den Kopf. Das ist keine Hirnwäsche, nein, er spült da was frei! Wir haben hier neun Aufsätze und ein kundiges Nachwort (so- wie überaus hilfreiche, weiterführende Verfußnotung) von Übersetzer Nils Wegner. Devlin liefert gleichsam ein antifeministisches Vade- mecum, kalt und zornlos. Besonders eindrücklich: seine Einführung des Begriffs der Hypergamie, die weibliche Art der Polygamie betreffend:
»Frauen wollen Hengste – um sie zu kastrieren.« Devlin ist kein frustrierter Hagestolz, sondern ein überaus wacher Beobachter, der genau weiß, daß konservative Tugendwünsche unzeitgemäß wären. Welchen Sinn hätte es, das Stalltor zu verriegeln, nachdem das Pferd ausgerissen ist? All die Debatten, die in Deutschland erst anbranden (Date rape, Lipstick-Feminismus) kennt Devlin aus dem Effeff. Mit Frauen, sagt Devlin, sei es »wie mit Politikern: Wenn man sie verstehen will, muß man ignorieren, was sie sagen, und beobachten, was sie tun.«