1.) Als ich am Beet kniete, um Rettich zu verziehen, traf es mich wie ein Nackenschlag: Nichts tust du noch, ohne es politisch einzuordnen. Alles hat seinen Platz in deinem Bild erhalten, wird politisch vernutzt. Warum kam Dir eben das Wort »identitär« in den Sinn, als du vor und hinter dem Pflänzchen die zu nahen Nachbarn jätetest?
Ist dieses bißchen Gemüse, sind die paar Hühner, die Beerenbüsche, die Apfelbäume, sind die Ziegen und die Salatköpfe widerständige Akte oder nicht doch einfach das, was dir Freude bereitet, wie jedem Freund der Fluren (und von dieser Sorte trifft man doch in jedem Dorf ein paar)? Der Gärtner, der Hegende: fraglos eine politische Figur, du hast sie selbst verwendet und dabei an Gerhard Nebel, Baldur Springmann und Tom Bombadil gedacht. Der Gärtner vor allem aber: eine uralte, fördernde, dem Leben zugewandte, singende Gestalt, die es gibt, seit du seßhaft bist. Man sagt, deiner Großmutter seien drei Ernten im Jahr gelungen. Du sagst, deine Frau sei nie schöner als in der Mittagshitze eines sommerlichen Gartens, wenn man die Früchte lautlos reifen hören kann. In welche ferne Zeit bloß verschiebst Du den Dank? Auf übermorgen?
2.) Es muß Anfang 1991 gewesen sein, als ein Unteroffizier der Fernspäh-Kompanie, in der ich diente, im Suff aus zwei Latten ein Kreuz bastelte, es mit Schuhcreme einschmierte und sich selbst ein Laken überwarf. Dann stolperte er durch die Kaserne und pflanzte das Kreuz vor einer Unterkunft für Rußlanddeutsche auf, die jenseits lag. Der Unteroffizier war zu faul selbst für die geringste Verschleierungsmaßnahme. Er fackelte sein Kreuz innerhalb der Umzäunung ab, schrie irgendetwas in die Nacht und stiefelte zurück in die Unterkunft. Wir Rekruten bekamen von alldem nichts mit.
Am nächsten Morgen trat die Kompanie vollzählig vor dem hohen Gebäude der alten Ulanenkaserne an. Der Spieß berichtete von dem Vorfall, den die Wache protokolliert hatte, und äußerte lapidar, daß der Täter seiner und unseres Kompaniechefs Meinung nach ohne jeden Zweifel aus unseren Reihen stamme – keinem der anderthalbtausend Fernmelder und Nachschieber, mit denen wir uns den Standort teilen mußten, sei derlei zuzutrauen. Er gebe nun diesem Idioten drei Sekunden Zeit, vorzutreten und sich zu stellen, uns allen eine knappe Minute, um den Kerl auszuliefern. Niemand rührte sich.
Der Spieß befahl uns ins Stillgestanden, unser Chef, der Major, trat aus dem Gebäude und ließ sich melden. Er befahl seine Feldwebel zu sich und entsandte sie zur Durchsuchung der Stuben. Nach wenigen Minuten brachte man ein Laken, das seinen Besitzer zweifelsfrei als den Täter überführte: Er hatte es vorschriftsmäßig wieder auf sein Bett gezogen, die beiden hineingeschnittenen Augenlöcher sorgfältig glattgestrichen auf Höhe des Kopfkissens. Nun trat er vor, gestand, weinte ein wenig und wurde abgeführt. Unser Chef regelte die Sache. Der Unteroffizier wurde degradiert, schob drei Monate lang an jedem Wochenende Dienst, bewährte sich, besuchte den Laufbahnlehrgang noch einmal und schied nach acht Jahren Dienstzeit als ein Stabsunteroffizier aus, der sich nie wieder etwas Derartiges zuschulden hatte kommen lassen.
Wir Rekruten wurden damals nicht lange behelligt mit irgendeiner »Aufarbeitung« dieses Falles. Derlei kam wohl vor, und in der Theorie war klar, daß so etwas generell unreif, idiotisch, eines Soldaten nicht würdig war. Aber wir lernten mit der Zeit auch die Gemütslage besoffener Kerle kennen, die als Staatsbürger in Uniform, bar jeder Tradition, in der Sinnkrise des Militärs nach der Wende und im Post-Histoire nichts mit sich anzufangen wußten und auf dumme Gedanken kamen, wenn sie zu lange in der Kaserne herumsaßen und mitbekamen, daß man sie alle- samt für Mörder hielt und halten durfte.
Ich war mit jenem Unteroffizier dreimal auf Trupp, einmal über anderthalb Wochen bei saumäßig naßkaltem Wetter in miesem Gelände. Selten bin ich besser geführt worden, und ich habe dabei auf die Zuversicht und kameradschaftliche Fürsorge zu vertrauen gelernt, die den guten Vorgesetzten auszeichnet und von denen es in der Fernspäherei Dutzende gab. Sie alle haben diese Armee verlassen müssen oder sind aus freien Stücken gegangen.
Der eine wurde Pilot in Afrika, der andere gründete eine Fallschirmspringer-Schule, der dritte, vierte und fünfte zogen mit Schäferhunden um Firmengebäude, bevor sie bei amerikanischen Firmen anheuerten und sich als Söldner verdingten. Andere sind im Zivilleben eingeschlafen und nie wieder aufgewacht (wer wirklich Soldat war, versteht, was ich damit meine).
Vielleicht kam der Bruch 1997, ich weiß es nicht mehr genau: Jedenfalls sollten wir Offiziere plötzlich eine Anordnung unterschreiben, die uns nichts weniger als die Denunziation jedes Untergebenen vorschrieb, der sich in irgendeiner Weise »rechts« betätigte oder überhaupt nur eine solche Tendenz zeigte. Man wollte »das« loswerden, wollte es aus der Armee schmeißen, und natürlich unterschrieb ich diesen Hygienebefehl nicht, auch aus der Erfahrung mit jenem Unteroffizier heraus; denn wer, wenn nicht die Armee, sollte solche Kerle erziehen, zurechtbiegen, in die richtige Richtung drehen? Und mit wem wollte diese Armee eigentlich das Vaterland tapfer verteidigen, wenn nicht mit Männern, die nicht an die Gleichheit glauben und Entschuldigungen für das Versagen im entscheidenden Moment für Geschwätz halten?
Es hat mir vor zwei Jahren einmal einer von diesen Typen geschildert, wie er einen Konvoi von Mossul nach Bagdad mit seinen Leuten gesicherte. Südafrikaner waren dabei, Engländer, zwei Tschechen, ein weiterer Deutscher, und wie sie fuhren, geriet das Ende des Konvois unter Beschuß, das letzte Sicherungsfahrzeug schlingerte und fuhr in einen Holzstapel. Man hätte weiterfahren können, es gab gute Gründe dafür, aber der Typ, ein ehemaliger Fallschirmjäger aus Nagold, fächerte seine Kolonne auf, ließ in großen Kurven wenden und die Wegelagerer mit allem angreifen, was er hatte.
Diese Sekunde des Entschlusses, – zu wenden und ins Feuer zu fahren – ist ein Katapult in eine unserer »Gesellschaft« ganz fremd gewordenen Region von Leben, Tod und Tauglichkeit, und jedes Land braucht Männer, die dort einmal waren oder dort hinwollen. Wir werden sie auf- suchen müssen, übermorgen. Wir werden sie wecken müssen. Unsere Armee aber, die Bundeswehr, sorgt dieser Tage erneut und in gewissem Sinne endgültig dafür, daß wir diese Männer nicht mehr dort finden wer- den, wo sie in Deutschland immer waren: unter Waffen und im Dienst.
3.) Ich kann das Ausmaß der Säuberung nicht abschätzen, denn ich habe keine Kontakte mehr dorthin: Es werden aber auf jeden Fall ein paar Dutzend Soldaten in den kommenden Wochen feststellen müssen, daß sie zu heißen Kartoffeln geworden sind. Man wird sie fallenlassen – nicht, weil sie nichts taugten oder weil man sie nicht mehr brauchte. Es wird sich ganz einfach an ihnen kein Vorgesetzter mehr die Finger verbrennen wollen, das ist schon alles. Sie sind AfD-nah oder haben die falsche Zeitung im Abonnement oder sind auf einer Demonstration mit- gelaufen. Irgendetwas davon klebt an ihnen wie Pech und Schwefel, und: Nun kommt alles ans Licht.
Worüber reden wir? Es ist ja das Normale, das Selbstverständliche, das da vertreten wird, und es ist nur innerhalb der Bandbreite unserer sehr speziellen deutschen Befindlichkeit an einem Rand zu liegen gekommen, wo es doch in die Mitte gehörte. Aber dies zu betonen hilft im Zweifelsfall rein gar nichts, und so ist dieses Normale, das von einem bestimmten Prozentsatz der Leute vertreten und unter- stützt wird, doch noch immer ein Ausschluß- und Ausgrenzungsgrund. Es gibt keine Lobby für diese politische Richtung, keine Auffangnetzte, keinen grundsätzlichen Konsens gegen das Denunzieren, und so ist je- des einzelnen Bekenntnis sein ganz persönlicher, biographischer Drahtseilakt.
Als Verleger einer der Informationsknotenpunkte zu sein, bedeutet auch: Leute aufs Seil treten, balancieren und fallen zu sehen. Ist dies das Schicksal der ersten Reihe? Hört das je auf, wenn nicht morgen, dann übermorgen? Und vor allem: Können wir das verantworten, wir, die wir das Widerständige zu einem Teil unseres Geschäfts und unseres Lebensentwurfs gemacht haben? Dürfen wir die Transparenz, mit der wir den verblüfften Journalisten begegnen, zu einer Blaupause machen, dürfen wir die Leute dazu auffordern, sich mit Namen, Gesicht, Biographie in ein Getümmel zu stürzen, in dem sie den Gegner, den »Big Other« niemals treffen werden? Nein, wir dürfen es nicht.
4.) Es kommt nämlich über die Leute wie ein Wolkenbruch, es ist, als fänden sich auf ihren Festplatten Pornos mit Kindern, mit zu Tode gequälten Tieren, mit Erschießungsfilmchen nebst Tanzmusik vor Babi Jar. Sie werden »enttarnt«, ihnen wird nachgestellt, sie werden eingekreist, festgemacht, in Netzwerken, »Zellen« vermutet. Es herrscht der Verdacht, und die Herrschaft des Verdachts ist ein Zirkelschluß: Es gibt aus dem Selbstverständnis der »offenen Gesellschaft« heraus keinen Grund, irgendetwas zu verschweigen, denn das Politische wird fair verhandelt.
Wer dennoch schweigt, hat etwas zu verbergen, und im Erspüren des Verborgenen und Verdächtigen ist in unseren Tagen die Zivilgesellschaft, dieses breite Bündnis, nicht zu übertreffen. Wer etwas verbirgt, ist verdächtig, und wer sich äußert, verbirgt wohl die weniger gefälligen, die gefährlichen Anteile. Kurz: Wer die moralische Macht hat, die Fragen zu stellen, darf auch bestimmen, welche Antwort genügt.
Meist ist daher die Infragestellung des Fragestellers die richtige Antwort, die Nichtbeteiligung am »Gespräch«: Die Transparenz nämlich läßt das Gefällige blühen, und selbst unter uns ist der Hang zur Selbstverharmlosung nicht totzukriegen, wenn ständig einer durch die Scheibe glotzt, während wir uns zu formieren versuchen. Werden wir eines Tages zur Transparenz verpflichtet? Wird für asozial gelten, wer sich nicht beteiligen will, wer nicht offenlegen will, was er denkt und treibt, wer seinen »Status« nicht mehrmals am Tag aktualisieren will?
Der Roman Der Circle von Dave Eggers beschreibt einen Superkonzern, der Facebook, Twitter, WhatsApp, Paypal, Amazon undsoweiter in sich vereint und aufgrund seiner Effizienz Verwaltungsaufgaben an sich ziehen will. Die Kommunikation aller mit allen gilt als unverzichtbare Voraussetzung für die Verbesserung der Welt und die Optimierung der Menschheit. Wer sich nicht beteiligt, ist suspekt, Transparenz ist das oberste Gebot. Der Circle hätte seine Vollendung erreicht, wenn jedes Fleckchen Erde ausgeleuchtet, jeder Mensch gläsern, jedes Gespräch mit- geschnitten wäre, gemäß dreier Leitsätze: »Geheimnisse sind Lügen«,
»Teilen ist Heilen«, »Alles Private ist Diebstahl«.
Am Ende des Romans wird ein Mann zu Tode gehetzt. Weil alles transparent geworden ist und bereits Millionen von Usern um den Hals kleine Kameras tragen, um alles Private in die Community einzuspeisen, bleibt niemandem mehr ein Rückzugsort. Der Mann, nicht besonders sympathisch, eher penetrant und schwierig, will nicht transparent sein, nicht auffindbar, und er schlägt aus, was ihm eine frühere Freundin zuschanzen könnte, jetzt, wo sie im »Circle« hochrangig arbeitet. Er will sich nicht vernutzen lassen, er hält nichts von Selbstoptimierung, guter Laune, Kommunikationsbehutsamkeit und einem verlogenen Zwang zur freiwilligen Offenlegung und Kontrolle. Stets wird die totale Ausleuchtung mit dem Argument verkauft, es könne in absehbarer Zeit kein Verbrechen mehr geschehen, wenn nur jeder mitmache.
Selbst Algorithmen zur Vorauserkennung möglicher verbrecherischer Handlungen seien nur noch eine Frage der Zeit, gäbe es nur endlich lückenlose Bewegungsprofile, deren Bewegungsrichtung Vorhersagen über Abwege zuließen. Neben diesen Argumenten verhallen die Rufe nach Privatheit, Dunkelheit, Einsamkeit und nichtoptimiertem Leben ungehört und wie geradezu abartig antiquierte Haltungen.
Es ist die Community, es ist der Jagdeifer der Community: ein Mann wird gestellt, der sich zurückzog, verschwinden wollte, den Waldgang nicht nur symbolisch, sondern tatsächlich vollzog. Millionen User mit Circle-Account suchen ihn, es ist die Rache seiner ehemaligen Freundin an ihm, der es wagte, sie zu kritisieren. Das Netz nimmt seine Spur auf, man sah ihn tanken, man kreist ihn ein, man vermutet ihn in einem Haus am Rande eines Kaffs ganz im Norden.
Es jagen Autos normaler Bürger den Hang hinauf, es hetzt der Mann in seinen Wagen, er flieht in die Berge, aber der Circle läßt die Drohnen los, und bald umschwirren Kame- ras den Jeep und filmen das Gesicht eines wilden Tieres, das nicht mehr durch die Lappen gehen kann. Der Wagen durchbricht das Geländer einer Brücke und stürzt in einen Abgrund aus Felsen und Schmelzwasser, in dem noch keine Kamera angebracht ist. Sein Tod ist seine eigene Schuld, heißt es: Ein Vereinsamter, wohl Kranker, wollte sich nicht von den Vielen helfen lassen, die ihn ins Licht zurückholen und ihm ganz sicher hätten helfen können.
5.) Ich bin ein Gegner der Transparenz. Es muß immer wieder das Auto geben, das einbiegt und gleichsam vorsichtig auf dem Platz vor dem Rittergut zum Stehen kommt. Vorgestern stiegen zwei Männer aus, ich kam ihnen gleich vom Stall her entgegen, dann führte der Sohn sie ins Buchlager, während ich noch die Tiere versorgte. Kunstschaffende, Leser, seit kurzem Abonnenten. Sie blieben übers Abendessen hinaus, berichteten viel und offen, blind darauf vertrauend, daß dies ein Gespräch in der Sicherheit des Schweigens sei. Unvorstellbar, daß uns dabei eine Kamera hätte begleiten können.
6.) Aber vielleicht ist übermorgen die Unterwerfung des Einzelnen durch ein lückenloses Kommunikations‑, Selbstoptimierungs- und Bedarfsweckungsangebot schon abgeschlossen. Zu vermuten, es gäbe unter der Oberfläche (dem Datenstrom, der Cloud, dem Content) so etwas wie ein Eigentliches, in dem man verbleiben könne, wäre dann ein romantisches Bild, ein Ordnungswunsch von vorgestern.
In Eugen Ruges Roman Follower hat die Hauptfigur Nio Schulz jene Verhaltensweisen, Abhängigkeiten und Sprachsensibilitäten bereits verinnerlicht, deren Vordringen wir heute in atemberaubender Geschwindigkeit wahrnehmen. Nio findet sich nur dann zurecht, wenn er mithilfe seiner Internetbrille und seinen Ohrenstöpseln online gegangen und wie eine Koordinate im Netz verortet worden ist. Ständig lenken ihn Kommunikationsfetzen ab, verfaßt von Leuten, deren Follower er ist und deren Anwesenheit er braucht wie eine Familie.
Wie weit ist es mit uns gekommen, wie weit wird es noch führen? Während wir halb überheblich, halb belustigt diesem verstöpselten Nio Schulz beim Followen zusehen, bereitet Eugen Ruge das Kapitel »Genesis/Kurzfassung« vor und erschlägt uns damit. Er fragt sich und uns, wie es überhaupt möglich war, daß bis zu Nio Schulz eine ununterbrochene Linie an Vorfahren nicht abriß, sondern sich durchsetze, durchhielt und immer wieder fortpflanzte – trotz Hunger, Krankheit, Seuche, Krieg, Brutalität, Armut.
Diese Vorfahren wühlten sich erst um 1850 aus der Hilflosigkeit heraus, von sieben Kindern fünf oder sechs im frühesten Alter wegsterben sehen zu müssen. Gerade einmal vier, fünf Generationen vor Nio konnten man also auf Medizin, gute Nahrung und Bildung setzen, und dennoch zerschlugen die beiden Weltkriege auch diese Leben. Aber wieder pflanzte sich einer fort, und irgendwann kam die Generationenfolge bei Follower Nio an, der nun wahrlich alles besitzt, um ein sorgloses Leben zu führen und ein, zwei Kinder zu bebrüten. Doch nun der Schlag: Mit ihm reißt alles ab, er kriegt das nicht mehr hin, er gibt nicht mehr weiter, was sich über Jahrtausende durchbiß und ihn formte – so unfruchtbar ist seine Zeit, so abgelenkt vom Entscheidenden.
7.) Mein Haus, mein Garten, kein WLAN, meine Frau, meine Kinder, keine Follower, mein Weinstock, meine Ziegen, mein Kartoffelkeller, mein Tisch, kein Facebook, meine Bücher, meine politische Romantik.