Lookism /Lookismus wäre nach meinem Dafürhalten die Annahme, daß das äußere Erscheinen ein Indikator für die Beurteilung eines Menschen sei. Ein erster Anhaltspunkt, ein revidierbares Vor-Urteil.
Als Lookistin pflege ich vom Äußeren einer Person erste Rückschlüsse auf ihr Temperament, ihren Charakter, ihre Interessen vorzunehmen. Ich gehe dabei nicht systematisch vor. Es gibt keinen Vorsatz und kein Raster. Ich beobachte nur gern. Ich bin »äußerlichkeitssensibel«.
Einer trägt Dutt. Eine hat dichte Haare auf dem Arm. Einer hat einen Stiernacken. Eine trägt vorkonfektionierte Risse in den Jeans. Einer stopft das Hemd in die Hose, der andere trägt es flatternd darüber. Die eine neigt zur Stirnfalte, die andere zu Nasolabialkerben. Manches ist ererbt, manches erworben (durch Gewohnheiten, durch soziale oder schicksalhafte Umstände), anderes ist frei gewählt. Einerlei: Es sagt mir etwas. Der warme Händedruck, der kalte, der feuchte, der lasche, der zerquetschenwollende. Eine richtet die Füße beim Gehen nach innen: eine Geisteswissenschaftlerin? Einer trägt ein Kinngrübchen: irgendwas mit Wirtschaft? Einer trägt Bequemschuhe aus Plastik: Schlurft der auch inwendig? Trefferquote: beträchtlich, keinesfalls hundertprozentig.
Erinnert man sich eigentlich noch an die RAF-Fahndungsplakate? Stichwort »angewachsene Ohrläppchen«? Undenkbar heute, wo bereits die Farbe des Teints kriminologisch als nicht wegweisend gilt! Und die Schöpfer jenes modischen Begriffs »Lookismus« verschärfen diese Sachlage noch ins Böswillige (Grund genug für eine Selbstbezichtigung als Lookistin!): Sie reden nicht von »Beurteilung« und »Unterscheidung«, sondern von »Abwertung«. Die Masche ist bekannt: Wer differenziert, wird der Abwertung bezichtigt. Lookismus wäre also die Abwertung einer Person entlang eines Vorurteils, das sich beim Blick auf ihr Äußeres bildete. Das Anhängsel ‑ismus dient auch in diesem Fall dazu, die Position oder Sichtweise zuzuspitzen und ins Arge zu ziehen, obwohl sie einem »natürlichen Empfinden« entspricht und oft noch vor ein paar Jahrzehnten – und Jahrhunderte zuvor ohnehin – als »Normalfall« galt.
In der Antike war unter Gelehrten die Physiognomik gang und gäbe. Als Begriffsschöpfer gilt Aristoteles. Eine kurze, flache Nase sollte für die Neigung zum Diebstahl stehen, desgleichen kleine Ohren. Kleine Augen wiesen auf Verzagtheit hin und so weiter. Man befleißigte sich der Analogieschlüsse nach dem Muster Löwenmähne: löwenstark, schmalbrüstig: feige.
Die große Renaissance der Gestaltenlehre fand im späten 18. Jahrhundert unter dem Namen Johann Caspar Lavater statt: Die vierbändige Schrift Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe des Zürcher Pastors war seinerzeit ein Bestseller. Lavater zog vorwiegend aus Schattenrissen, also den Silhouetten von Körpern und Gesichtern, Rückschlüsse auf die Wesensart der jeweiligen Personen.
Die Gestaltdeuterei wurde zum Gesellschaftssport der gehobenen Klassen: ein naiver, wenn auch »fremdbestimmter« Vorläufer des rezenten Selfies!
In der anthroposophischen Medizin wird noch heute nach den altbewährten Konstitutionstypen unterschieden: leptosom, athletisch, pyknisch. Die Phrenologie, die unter Franz Joseph Gall im ausgehenden 18. Jahrhundert einen Zusammenhang zwischen Schädel- und Gehirnformen und Charakter-/Geistestypen herstellte, ist hingegen beinahe so sehr außer Mode wie die vermaledeite Kraniometrie, die Lehre von der Schädelvermessung, die zur NS-Zeit Ärzten dazu diente, den Daumen zu heben oder zu senken.
Als moderne, aufgeklärte Lookistin sehe ich mich von diesen überkommenen Modewissenschaften weit entfernt. Ich halte nichts von Maßbändern oder sonstigen starren Mustern und wünsche mir in keinem Fall eine Exkludierung nach Aussehen.
Durch die Hintertür haben aber solche ‑logien und ‑metrien ihren kaum hinterfragten Eingang in die moderne Welt gefunden, nämlich via biometrisches Paßbild, Irisscanner (zwecks Smartphonesicherheit) und Google-Gesichtserkennung. All das ist einigermaßen knallhart.
Gall hatte seinerzeit die Schädel noch abgetastet. Bei den aktuellen Methoden der Identifizierung zählt nicht der manuelle Eindruck, sondern der Nanometer. Das heißt: ein Millionstel Millimeter, und eine Vielzahl dieser Millionstel unseres einmaligen Gesichts bestimmt unhintergehbar die Identität. Naiv, wer den Beteuerungen Glauben schenkte, mit dieser Identifizierung sei keine Klassifizierung verbunden: Die Verknüpfung von Gesicht und digitalem Bewegungsprofil hat längst zu Rastern geführt, die den blonden Typ mit dem langen Gesicht und den Geheimratsecken zu seinen äußerlichen Geschwistern in eine Berufs‑, Verhaltens- und Konsumkiste stecken.
Weil nun Lookism seit Erfindung des Begriffs ein Schmähwort ist beziehungsweise sich als anklagender Terminus gegen eine zu schmähende, unmoralische Handlung richtet, lautet die offiziöse, etwa von Wikipedia verbreitete Definition wie folgt: »Lookism ist die Annahme, dass das Aussehen ein Indikator für den Wert einer Person ist. Sie bezieht sich auf die gesellschaftliche Konstruktion einer Attraktivitätsnorm und die Unterdrückung durch Stereotypen und Verallgemeinerungen über Menschen, die diesen Normen entsprechen und über diejenigen, die ihnen nicht entsprechen.«
An was denken wir spontan, wo von »exkludierenden Attraktivitätsnormen« die Rede ist? Keinesfalls an Hinkefuß und Zwergenmann Goebbels und seine unschönen Konsorten. Die anerkannt Bösen dürfen wir nämlich weiterhin ungestraft lookistisch bewerten. Auch die sogenannten Umstrittenen von heute: Es geht deshalb gemeinhin in Ordnung, von schmerbäuchigen AfD-Anhängern zu schreiben oder über das Doppelkinn und die Zornfalten von PEGIDA-Gängern zu lästern. Herablassende Körper- und Gesichtsbeschreibungen von »rechten« Außenseitern sind selbst in den seriösen Medien Legion.
Nein, wenn heute über die Gemeinheit von Schönheitsnormen gesprochen wird, denken wir an die hübsche Kera Rachel, die mit ihren Kurven dennoch für zu dick für eine Modelkarriere befunden wurde. An Hamid, der beklagt, daß er sicher aufgrund seiner dunkleren Hautfarbe nicht den Job auf dem Amt ergattern konnte. An Peter, der zwar erfolgreich als Kameraassistent reüssiert, jedoch aufgrund seiner Stirnfalte und der wulstigen Stirn nirgends richtig anzukommen glaubt.
Unter allen verrufenen ‑ismen dominieren in der öffentlichen Wahrnehmung bislang diese: Rassismus, Sexismus, Antisemitismus. (Klassismus hingegen, die Abwertung aufgrund der sozialen Position, ist neuerdings selbst zum Abwertungsinstrument der herrschenden Elite geworden.) Diese drei Exklusionsschemata sind hinreichend bekannt und geächtet.
Daß über die Abscheulichkeit solcher Maßstäbe weitgehend Einigkeit herrscht, daß sie also als No-go eingefleischt sind, führt zur Verästelung. Es gibt, so suggerieren unsere Normativitätssensiblen, gemeine Ausschlußmechanismen, die subkutan und unterhalb der Schwelle eben dieser populären ‑ismen verlaufen. Eine »World Association of Ugly People« soll bereits 1963 in einer italienischen Landgemeinde gegründet worden sein. Ihr Motto: »Ein Mensch ist das, was er ist, und nicht das, wonach er aussieht.« Als Emblem wählten die Gründer einen Wildschweinkopf. Als Protest gegen »Schönheitsnormen« gab es später (2004 /05) prominent die Werbekampagne der Seifenfirma Dove, die nun auch füllige, faltige und asymmetrisch gewachsene Frauen nackend abbildete, um diese »normale«, aber modetechnisch normativ exkludierte Zielgruppe zu »mehr Selbstwertgefühl« zu ermutigen.
Es gab in Deutschland den (gescheiterten) Versuch der Frauenzeitschrift Brigitte, auf den Modestrecken ohne professionelle Models auszukommen und stattdessen »normale« Frauen abzubilden. Noch später kamen Einlassungen der Grünen-Politikerin Marianne Burkert-Eulitz und der ehemaligen taz-Chefin Barbara »Bascha« Mika hinzu, die dazu dienten, den Lookismus-Vorwurf populär zu machen.
Burkert-Eulitz hatte 2013 beklagt, daß bei Miß-Wahlen nichtgroße, nichtschlanke und nichtdeutsche Menschen benachteiligt würden. Frau Mika hingegen litt (Mutprobe. Frauen und das höllische Spiel mit dem Älterwerden, München 2014) unter einer Unterform des Lookismus, dem
Ageism, der Altersdiskriminierung qua Optik.
Es ist fraglos ungerecht, daß normale Bauarbeiter (bewußt wähle ich diese weiß konnotierte Gruppe) nur selten Frauen jenseits der Klimakteriumsgrenze nachpfeifen. Es ist sicher psychisch ungesund, wenn sich Frauen gegen ihre biologischen Gegebenheiten stemmen. Der aktuelle Kinofilm Embrace – Du bist schön zeigt charmant, wie Frauen sich gängigen Schönheitsmustern entziehen können.
Allein, der Markt, selbst wenn wir ihn als Fleischmarkt brandmarken, zeigt eigene, unhintergehbare Gesetzmäßigkeiten: Sein und Bewußtsein bilden hier kein Paar. »Authentische Schönheit« in dem Sinne, wie sie die Body-positive-Bewegung feiert, ist eine ähnlich nette Idee wie der Kommunismus.
Theoretisch funktioniert es gut: Gar nichts ist verkehrt an der Schwarte des Büromenschen, am fleischgewordenen Rettungsring der Mehrfachmama. An dieser Narbe, die von einem krassen Erlebnis zeugt, an jenen Falten, die aufgelebtes Leben« hinweisen. Nur: »Es gibt kein Menschenrecht auf Schönheit.« (Frédéric Schwilden)
Wenn Lookismus also einen Ast der altbekannten Diskriminierungsformen Sexismus/Rassismus darstellt, dann hat sich dieser bereits mehrfach verzweigt. Neben dem Ageism finden wir noch den Ableismus oder auch den Heightismus. Müssen wir das ernst nehmen? Die zeternde Rede gegen Diskriminierung gemäß Befähigung und Körpergröße? Sind das nicht bedauernswerte Nischenphänomene, kaum der Beschäftigung wert? Sagen wir so: Wer hätte noch vor 20 Jahren für möglich gehalten, daß die Schreib- und Sprechweise von Student*innen sich universitär durchsetzen würde? Daß es im Ernst karriereschädigende Minuspunkte für den/die gibt, der /die noch dem ollen generischen Maskulinum anhängt?
Es gibt analog zu den notorischen steuerfinanzierten Gender studies mittlerweile Disability studies, die streng über ‑istische Formulierungen wachen. Aufmerksame Zeitgenossen wissen, daß die Rede von »Blinden« oder von »Prothesenträgern« als diskriminierend gilt: Jeweils, so heißt es, verschwinde in dieser Sprachform der (als Individuum wertvolle) Mensch hinter seiner Behinderung. Deshalb müsse von »Personen mit …« die Rede sein.
Mein Sohn hat einen Spruch aufgeschnappt, der lautet: »Don’t judge a book by its cover! / Beurteile ein Buch nicht nach seinem Umschlag!« Der Junge ist zwölf, ihn hat dieser Spruch beeindruckt. Als leidenschaftlicher Buchmensch war es relativ leicht für mich, das zu entkräften. Ein bißchen ist es mit Büchern wie mit Menschen: Der erste Eindruck entscheidet. Natürlich: mit Abstrichen.
Ein unschön gesetztes Buch mit häßlichem Einband kann auch mal wertvollen Stoff bergen. Ist so! Ist aber selten. Mich erinnerte diese Weisheit an gewisse Sprüche, die in meiner Jugend kursierten und in Poesiealben ihren Niederschlag fanden: Auf die inneren Werte kommt es an! Befragt: Julian, 17 Jahre, 184 cm, 77 kg, extrem attraktiv, Bravo Girl 1988: »Bei einem Mädchen zählt für mich mehr der Charakter als das Aussehen.« Balsam für unsere Seelen, die ja völlig okay waren, währenddessen das offenkundig bewertbare Äußere immer hinterherhinkte: Pickelchen, blöde Augenbrauen etc.
Am Ende bekamen und bekommen aber die hübschen Typen die ähnlich hübschen Mädels. Der Maßstab der Attraktion wurde dabei nicht innerlich angelegt, sondern nach Äußerlichkeiten bemessen. Oder? Oder ging das Hand in Hand? Hübsche Schale und ein großartiger Kern? Überhaupt, was heißt schon »Kern«?
Die modische Rede geht von der »sekundären Devianz«. Dieses schon jahrzehntealte soziologische Konzept – eigentlich auf delinquente Personen angewendet – geht vereinfacht von folgendem Gedankengang aus: Jemand werde (anhand des Offensichtlichen) beurteilt und eingeordnet, »gelabelt«. Solche Etikettierung wirke sich auf das Selbstbild der jeweiligen Person aus. Die Einordnung, und sei sie ungerecht, wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Das heißt, aus gesellschaftlichen Zuschreibungen (»kleine Männer neigen zu Profilneurosen«) und Stigmatisierungen (»Dicke sind faul«) entwickele sich eine Art Teufelskreis, innerhalb dessen negative Zuordnungen verstärkt werden. Demgemäß gäbe es kein Entkommen aus der eigenen Haut.
Verhaltensforscher und Biologen haben uns lang und breit erklärt, wie der Hase läuft: Der Affe mit dem breiteren Kreuz gewährleistet Schutz und Versorgung. Deshalb hat sein kümmerlicher Artgenosse das Nachsehen in puncto Erbgutverbreitung. Auch beim Menschen gibt es das, und zwar die Menschheitsheitsgeschichte entlang: Dominanz, Ebenmaß, Idealgrößen. Das wirkt sich konstant auf die ökonomischen Meßgrößen aus. Es gibt eine gewisse Norm, die mindestens Jahrtausende überdauerte.
Wir müssen das nicht tollfinden. Es bedarf unserer Bewertung nicht. Modern gesagt: Isso.
Was unsere tierischen Gefährten und frühzeitlichen Ahnen allerdings nicht kannten und kennen: a) Mode, b) Freizeit, c) Konsumnutzen. Alle drei Faktoren unterminieren das natürliche Bewertungsverhalten hinsichtlich des Aussehens. Im Reiche unserer animalischen und altvorderen Anverwandten sind solche Fälle nicht bekannt, beispielsweise die Attraktivität des extrem dünnen Weibchens, der Lücke zwischen den Schneidezähnen, des nervös-androgynen Männergesichts.
Fast sämtliche Werbekampagnen zeitgenössischer Modemarken prägen diesen nach anthropologisch beweisbaren Auswahlkriterien abweichenden Typus: den metrosexuell-zarten Mann und die sichtbar »gebärunfreudige« Frau. Als Phänotypen sind diese Figuren aus lookismus- skeptischer Sicht allerdings genauso untragbar wie ihr exaktes Gegenteil: der Kerl mit den Oktoberfestwaden und das Weib mit dem berüchtigten gebärfreudigen Becken.
Was täte man also, um diesen fiesen Lookismus zu bannen? Orchester setzen vermehrt auf Blind auditioning (hinterm Vorhang spielt einer vor; keiner weiß, wie er aussieht), große Unternehmen haben sich in anonymisierten, paßbildfreien Bewerbungsverfahren versucht. Unterm Strich wurden auch ohne Ansehen diejenigen genommen, vulgo bevorzugt, die man auch bei gesichtsnaher Präsentation angenommen hätte.
Der Publizist Lukas Mihr hat vor Jahren ernsthaft überlegt, wie man Personen gerecht werden könnte, die aufgrund ewiger oder zeitgenössischer Attraktivitätsnormen diskriminiert werden oder sich solch unausgesprochenem Diktum unterworfen fühlen: »Eine Lookismus-neutrale Politik könnte also hässliche Menschen besser entlohnen oder ihnen in einem Quotenmodell eine bestimmte Zahl an Führungspositionen zugestehen. Doch eine solche Maßnahme wäre pauschal.
Verdient der Niedriglöhner wegen seines Aussehens oder seiner mangelnden Qualifikation wenig?« Und, möchte man ergänzen, was wäre, wenn derart gelabelt würde? Wer könnte eine Häßlichkeitsnorm festsetzen und aufgrund welcher Kriterien? Wie man sieht (herrje: Es gilt doch, die Augen zu schließen!), ist die Sache hochkomplex. Kennt man die drei Affen, gern als modischer Halskettenanhänger oder Hoodie-Emblem getragen? Der eine verschließt mit den Händen seine Augen, der zweite den Mund, der dritte die Ohren. Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Weithin unbekannt ist der vierte Affe, aus dessen Anus es drängt. Verdaut wird immer, und hin und wieder muß es raus. Was? Etwas Ismusförmiges.