Das »andere« Amerika – Henry David Thoreau zum 200.

Es scheint, als hät­te Tho­reau auch jen­seits sei­nes Jubi­lä­ums Kon­junk­tur. Sie steht wohl in engem Zusam­men­hang mit einem Kri­sen­be­wußt­sein, wie wir es nun schon eine gan­ze Wei­le wahr­neh­men kön­nen. Der Name Tho­reau und die Rezep­ti­on sei­ner Wer­ke sind eng ver­bun­den mit der Suche nach einer Alter­na­ti­ve, nach mög­li­chen – wenn auch nicht immer wirk­li­chen – Aus­we­gen. Sei­ne Popu­la­ri­tät hat inso­fern mit einer Sehn­sucht nach Rat­ge­ber­li­te­ra­tur zu tun.

Wen die Kri­se des poli­ti­schen oder des öko­no­mi­schen Sys­tems, unse­res Regiert-Wer­dens und unse­res Wirt­schaf­tens umtreibt, der nimmt viel­leicht sei­ne berühm­ten Essays »Über die Pflicht zum Unge­hor­sam gegen den Staat« und »Leben ohne Prin­zi­pi­en« zur Hand, die er 1848 und  1854   erst­mals  einem  Publi­kum  vortrug:

»Unter einer Regie­rung, die irgend jeman­den unrecht­mä­ßig ein­sperrt, ist das Gefäng­nis der ange­mes­se­ne Platz für einen gerech­ten Men­schen.« Wer eine Lebens- oder Bewußt­seins­kri­se ver­spürt, mag zu Wal­den oder Leben in den Wäl­dern (1854) grei­fen in der Hoff­nung, ein­fa­cher und inten­si­ver und natür­lich bewuß­ter leben zu ler­nen: »Es ist not­wen­dig, zu einer gewis­sen Zeit ein ursprüng­li­ches Leben geführt zu haben, zu wis­sen, was letz­ten Endes die Lebens­not­wen­dig­kei­ten sind.« (Mitt­ler­wei­le gibt es ein Out­door-Maga­zin, das sich Wal­den – Abenteu­er vor der Haus­tür nennt.)

Es war natür­lich von die­sen berühm­ten, wirk­mäch­ti­gen Tex­ten die Rede in  den  vie­len Arti­keln, die Tho­reau, gebo­ren am 12. Juli 1817 in Con­cord, in den letz­ten Wochen in den Feuil­le­tons anläß­lich  sei­nes  Jubi­lä­ums  wür­dig­ten. Das hat viel damit zu tun, daß sich im 20.Jahrhundert wich­ti­ge poli­tisch-gesell­schaft­li­che Strö­mun­gen auf Tho­re­aus Tex­te bezo­gen und Tho­reau selbst eben nicht nur als Theo­re­ti­ker und Autor erscheint, son­dern als jemand, der die Alter­na­ti­ve wag­te und Kon­se­quen­zen für sei­ne Über­zeu­gun­gen in Kauf nahm.

Was man heu­te als PR-Coup insze­nie­ren wür­de, geschah damals wohl still: Am 4. Juli 1845 bezieht Tho­reau am Nord­ufer des Wal­den Pond unweit sei­ner Hei­mat­stadt eine selbst- gebau­te Hüt­te »allein im Wal­de und ver­dien­te mei­nen Lebens­un­ter­halt  ein­zig  mit  mei­ner Hän­de Arbeit. Dort leb­te ich zwei Jah­re und zwei Mona­te lang«. Das Grund­stück hat ihm sein Freund und Men­tor Ralph Wal­do Emer­son zur Ver­fü­gung gestellt unter der Auf­la­ge, Tho­reau sol­le ein Stück Land urbar machen und einen Gemü­se­gar­ten, vor allem mit Boh­nen, anlegen.

Und in die­se zwei Jah­re als Teil­zeit­aus­stei­ger und ‑ere­mit (denn Tho­reau emp­fängt häu­fig Besuch und hält Kon­takt zu Nach­barn und Freun­den) fällt auch sei­ne Wei­ge­rung, die Kopf­steu­er zu ent­rich­ten – aus Pro­test gegen die Expan­si­ons­po­li­tik der Ver­ei­nig­ten Staa­ten auf mexi­ka­ni­schem Gebiet und gegen die noch immer gedul­de­te Skla­ve­rei. Im Zuge des­sen kommt es zur Inhaf­tie­rung Tho­re­aus: Der zustän­di­ge Beam­te, Consta­ble Sam Stap­les, ist  ein  Freund des Steu­er­ver­wei­ge­rers und bie­tet ihm an, die Sum­me aus­zu­le­gen, doch Tho­reau lehnt ab – er kön­ne die Steu­er zah­len, wol­le aber nicht. Daß er nach einer Nacht wie­der das Gefäng­nis ver­las­sen darf, ist wohl Tho­re­aus Tan­te zu ver­dan­ken, die schließ­lich das Geld hinterlegt.

Die­se Epi­so­de stellt  die  Grund­la­ge  dar für »Über die Pflicht zum Unge­hor­sam gegen den Staat«, einen Text, auf den sich auch Mahat­ma Gan­dhi, die ame­ri­ka­ni­sche Bür­ger­rechts- und die spä­te­re Anti-Viet­nam­krieg-Bewe­gung eben­so bezo­gen wie Tei­le der Hip­pies und der Natur­schutz­be­we­gung auf Wal­den. Aller­dings kön­nen die­se Tex­te nicht nur in einem pro­gres­si­ven Sin­ne gele­sen wer­den. Viel­mehr – und das macht die Viru­lenz Tho­re­aus aus – bie­ten sie unter ver­än­der­ten Vor­zei­chen auch für Rech­te und Kon­ser­va­ti­ve  vie­le  Anknüp­fungs­punk­te, was die Reak­ti­on des ein­zel­nen auf die Zumu­tun­gen von Staat und soge­nann­ter Zivil­ge­sell­schaft betrifft.

Trotz­dem muß  hin­sicht­lich  der  wirk­mäch­tigs­ten Tex­te  Tho­re­aus  gesagt werden:

»Ein ori­gi­nel­ler Den­ker war Tho­reau nicht«  (W. E. Rich­artz), denn dafür sind sei­ne Essays zu impul­siv, zu idea­lis­tisch, zu wider­sprüch­lich, sein Men­schen­bild viel­fach zu opti­mis­tisch. Zudem konn­te er auf Vor­bil­der zurück­grei­fen. Als wacher Kopf nahm er den Zeit­geist auf, und der tob­te in sei­ner nächs­ten Umge­bung ganz beson­ders, war zu jener Zeit durch­aus ein rebel­li­scher, der Neu­es anstieß. Anders als im alten Euro­pa zeig­te sich das Rebel­li­sche wäh­rend der 1830er und 1840er Jah­re in den USA  nicht durch  revo­lu­tio­nä­re Bewe­gun­gen, son­dern eher in refor­me­ri­schen Ideen des Zusam­men­le­bens und der Bil­dung sowie im reli­giö­sen Separatismus.

Zu nen­nen wären die Abspal­tung der Unita­ri­er von den Pres­by­te­ria­nern, die Grün­dung der Mor­mo­nen-Kir­che, das Ent­ste­hen diver­ser kib­buz- arti­ger Kom­mu­nen und Kol­lek­ti­ve sowie die Erpro­bung einer neu­en, repres­si­ons­frei­en Päd­ago­gik. Die klei­ne Stadt Con­cord im Neu­eng­land­staat Mas­sa­chu­setts ent­wi­ckel­te sich zum Zen­trum der neu­en Ideen und Strö­mun­gen, in Wir­kung und Anzie­hungs­kraft ver­gleich­bar mit dem Wei­mar der Klas­sik, dem Jena der Früh­ro­man­tik oder dem Schwa­bing der Bohe­me. So ver­wun­dert es nicht, daß vor Tho­reau bereits Charles Whee­ler und Ellery Chan­ning, die zu Tho­re­aus enge­rem Freun­des­kreis gehör­ten, das ein­sied­le­ri­sche Leben im Wald erprobt hat­ten. Und ein ande­rer Freund, der Schrift­stel­ler und Päd­ago­ge Amos Bron­son Alcott, mach­te schon vor Tho­reau vom Wider­stands­recht der Steu­er­ver­wei­ge­rung Gebrauch.

Die wich­tigs­te intel­lek­tu­el­le Figur von Con­cord ist der Phi­lo­soph und Begrün­der des roman­tisch gepräg­ten Tran­szen­den­ta­lis­mus Ralph Wal­do Emer­son; auf sei­ne Initia­ti­ve hin zie­hen etwa Natha­ni­el Hawt­hor­ne und Mar­ga­ret Ful­ler in die Stadt. Tho­reau, ein durch­aus schwie­ri­ger Cha­rak­ter, ein Eigen­bröt­ler und Que­ru­lant, steht in engem Kon­takt zu ihnen, arbei­tet etwa als Her­aus­ge­ber und Redak­teur für Emer­sons Pro­jek­te, als Gärt­ner für Hawt­hor­ne oder als Leh­rer in einer zusam­men mit sei­nem Bru­der gegrün­de­ten Pri­vat­schu­le, wo er die  Kin­der in Latein, Grie­chisch, höhe­rer Mathe­ma­tik und Eng­lisch unter­rich­tet und ansons­ten mit ihnen Wan­de­run­gen unter­nimmt sowie Tie­re und Pflan­zen beobachtet.

Über­haupt besticht Tho­reau, der aus beschei­de­nen Ver­hält­nis­sen stammt (sein Vater brach­te das Ver­mö­gen des Groß­va­ters durch) und am Har­vard Col­lege stu­dier­te, durch sei­ne Viel­sei­tig­keit und sei­nen Sinn  fürs Prak­ti­sche. Er unter­schreibt manch­mal mit »Hen­ry David Tho­reau, Civil Engi­neer« und gibt in einem Fra- gebo­gen zu sei­nem Beruf an: »Ich bin Schul­meis­ter, Haus­leh­rer, Land­ver­mes­ser, Gärt­ner, Land­wirt, Maler – ich mei­ne Anstrei­cher –, Zim­mer­mann, Mau­rer, Tage­löh­ner,  Blei­stift- und Schleif­pa­pier­pro­du­zent, Schrift­stel­ler und manch­mal Dich­ter­ling.« Emer­son schätz­te offen­sicht­lich den Prak­ti­ker Tho­reau, bemerk­te aber kri­tisch über sei­nen Freund: »Tho­reau man­gelt es an einem gewis­sen Ehr­geiz in sei­ner Mischung […]. Statt den ame­ri­ka­ni­schen Inge­nieu­ren vor­zu­ste­hen, ist er der Anfüh­rer einer Blaubeersammlergesellschaft.«

Auch wenn sich Tho­reau zwi­schen Theo­rie und Pra­xis ver­zet­telt haben mag und er kein her­aus­ra­gen­der poli­ti­scher oder phi­lo­so­phi­scher Den­ker war, so bleibt er doch ein gro­ßer Schrift­stel­ler. Zusam­men Her­man Mel­ville, Natha­ni­el Hawt­hor­ne, Walt Whit­man, Emi­ly Dick­in­son und Edgar Allan Poe stand er an der Wie­ge der US-ame­ri­ka­ni­schen Lite­ra­tur, war Teil der Ame­ri­can Renais­sance, der Pha­se, in der sich eine eigen­stän­di­ge US-ame­ri­ka­ni­sche Lite­ra­tur her­aus­bil­de­te und deren ers­te Meis­ter­wer­ke entstanden.

Tho­re­aus gro­ße Kön­ner­schaft zeigt sich in sei­nen Beschrei­bun­gen von Pflan­zen, Tie­ren und Natur­phä­no­me­nen, in sei­nem Bewußt­sein für den Raum, in dem er sich bewegt, für die Erde, auf der er steht. Nach­zu­le­sen ist das nicht nur in den diver­sen Pas­sa­gen des Klas­si­kers Wal­den, son­dern etwa auch in Ktaadn, dem 2017 erst­mals ins Deut­sche über­setz­ten Bericht über die Bestei­gung des Mount Kathad­in in Maine (Jung und Jung 2017. 153 S., 20 €).

Der Ver­lag Matthes & Seitz Ber­lin hat sich nun an die Über­set­zung von Tho­re­aus eigent­li­chem Haupt­werk her­an­ge­wagt: sei­nem Tage­buch mit einem Gesamt­um­fang von 47 Manu­skript­bän­den, das er fast lücken­los von 1837 bis 1861 führ­te. Der ers­te Teil erschien 2016 (326 S.,26.90 €), seit die­sem Jahr liegt das Tage­buch II (377 S., 26.90 €) vor, das auch die Zeit des Wal- den-Expe­ri­ments umfaßt.

Hier gibt es vie­le Ein­trä­ge zu ent­de­cken, die Tho­reau als  einen der Mit­be­grün­der des Natu­re Wri­ting aus­wei­sen, einer genu­in ang­lo-ame­ri­ka­ni­schen Lite­ra­tur­gat­tung, die man viel­leicht als ein Schrei­ben über Natur und in der Natur bezeich­nen könn­te. Flo­ra, Fau­na, Eis­kris­tal­le, Wol­ken­for­ma­tio­nen, Wind – nichts ent­geht dem wachen Blick Tho­re­aus. Kein Wun­der, daß er ein­mal schreibt: »Ich bin hei­misch in der Welt.« Bemer­kens­wert an den Beschrei­bun­gen, die sich in sei­nem Tage­buch fin­den, ist ein stil­ler, zurück­hal­ten­der Humor, der sich auch dann zeigt, wenn er über sei­ne Mit­men­schen berich­tet, und den man in sei­nen ande­ren Schrif­ten sel­ten antrifft.

Tho­reau starb am 6. Mai 1862 nach lan­ger Krank­heit. Sam Stap­les, der Mann, der ihn einst­mals ver­haf­tet hat­te, war bei ihm und schrieb spä­ter: »Habe nie eine Stun­de mit grö­ße­rer Befrie­di­gung ver­bracht. Habe nie einen Mann mit soviel Freu­de und Frie­den ster­ben sehen.«

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