Wir wollen nicht nur als bloße Opposition in die Parlamente einziehen, sondern eine andere Politikergeneration hervorbringen! – So äußerte sich sinngemäß auf dem Stuttgarter Parteitag 2016 Marc Jongen im Zusammenhang mit der Diskussion um eine mögliche Begrenzung der Amtszeit für Abgeordnete, die in der AfD den notorischen Berufspolitiker-Karrieristen verhindern sollte. Doch eben deshalb, weil man sich als neue, korrigierende Kraft verstehe und demgemäß einen insgesamt höheren Anspruch an sich selbst stelle, der es unmöglich mache, sich durch sein Mandat sogleich korrumpieren zu lassen, sei ein solcher Begrenzungsbeschluß gar nicht nötig.
Darin liegt viel Hoffnung begründet, mit der AfD werde tatsächlich ein anderer Charakter die Bühne des Politischen betreten, der sich wesentlich von dem in jeder Hinsicht abstoßenden Typus des Blockparteienfunktionärs unterscheide.
Nun, wäre es nicht allerdings eine fulminante Aufbruchs- und Ausbruchsgeste, wenn man mit oberster Priorität diesen neuen Charakter darstellen und vermitteln wollte? Freilich müßte das heutige Demokratieverständnis schon den Ansatz zu einem solchen »geistigen Adel« in der Politik als einen lächerlichen Anachronismus verwerfen und vereiteln, weil er sich auf geradezu anmaßende Weise vom Allgemeinmenschlichen zu sehr entfernte; dennoch wäre es vielleicht den Versuch wert, eine Art Antipoden, also den auch geistig unbestechlichen, nicht selbstsüchtigen, bloß seinem Gewissen als Volksvertreter verpflichteten Ausnahmepolitiker in die Wirklichkeit einzuführen und dem absurd-fratzenhaften Geschwätz staatlicher Dauerwerbesendungen die Vision komplett anderer Charaktere entgegenzustellen.
Einer, der die ungeheuerliche Frechheit besäße, die kleinen und großen Verlogenheiten des »Regimes« – also der Gesamtheit herrschender Wirklichkeiten – unerschrocken beim Namen zu nennen und der die Courage hätte, all denen, die innerhalb des intellektuellen Mitläufertums bis in die dritte Reihe hinein, ohne ihren Gesinnungsautomatismus je selber reflektiert zu haben, für dreißig, spätestens aber für dreihundert Silberlinge auch am miesesten Spiel teilnehmen müssen: all diesen also, der größten aller geschichtlich-funktionalen Mehrheiten, die bösesten Wahrheiten ins Gesicht zu sagen.
Kurz: einer, dem es an Verschlagenheit und Selbstgefälligkeit fehlte, um jemals einer von denen zu werden. – Natürlich ist es äußerst fraglich, ob so jemand, der das Zeug zu alldem hätte, sich heute überhaupt noch in die Politik verirrte oder auch nur Zugang zu den Werkhallen industrieller Meinungsfertigung suchte. Und was, wenn jene täglich demonstrierten Schäbigkeiten längst als lauter »Menschlichkeiten«, mithin als das »Normale« von den allermeisten inzwischen anerkannt und hingenommen worden wären? – Hier also endet bereits der schöne Traum. Denn wer würde als echtes, rigoroses Vorbild vorangehen und den Grimm wie den Spott auf sich ziehen wollen, ein Spielverderber, Miesmacher, naiver Idealist und politischer Romantiker zu sein?
Wie viel Absicht auch immer hinter der eingangs zitierten Selbstbeschreibung gesteckt haben mag, einen wirklich anderen Politikercharakter zu generieren: Sie enthält die unbedingt nötige personale Grundvoraussetzung für die Legitimität der AfD, sofern die Forderungen nach einer Alternative und dem Mut zur Wahrheit keine bloßen Phrasen bleiben sollen. – Denn eh man sich versieht und formal zwar immer noch den politischen Wechsel anstrebt, hat sich vielleicht schon ein ganz anderer Wechsel vollzogen: Gab man einst vor, mit seiner Person dem Politischen dienen zu wollen, dient plötzlich das Politische der eigenen Person.
In seinem Vortrag Politik als Beruf entwarf Max Weber 1919 den Dualismus aus Verantwortungsethik und Gesinnungsethik: »Es gibt zwei Arten, aus der Politik seinen Beruf zu machen. Entweder man lebt ›für‹ die Politik – oder aber: ›von‹ der Politik. Der Gegensatz ist keineswegs ein exklusiver.« In der Regel tue man nämlich beides. Und es zeichne die erste Ethik aus, die zweite nie außer acht zu lassen. Denn: »Einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind hat daher der Politiker täglich und stündlich zu überwinden: die ganz gemeine Eitelkeit, die Todfeindin aller sachlichen Hingabe und aller Distanz, in diesem Fall: der Distanz sich selbst gegenüber. […] Der Verantwortungsethiker rechnet mit eben jenen durchschnittlichen Defekten der Menschen, – er hat […] gar kein Recht, ihre Güte und Vollkommenheit vorauszusetzen, er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen.«
Daher strebt, wie die Erfahrung lehrt, der in diesem Sinne »unvollkommene« politische Mensch instinktiv danach, sich über das Gemeinwesen selber zur Geltung zu bringen, also nicht Medium der Sache oder des Amtes zu sein, sondern die Sache als Medium für die eigene Geltung zu nutzen. Schließlich ist auch und gerade der Politikos nur ein Mensch – und nichts Menschliches ist ihm fremd. Ja, vielleicht ist der politische Mensch sogar viel mehr Mensch als irgendein Mensch.
Als Selbstvermarktungsstratege tritt er zum Staat in ein Unternehmensverhältnis mit Gewinngarantie, das vor allem Managerqualitäten erfordert. Denn die Partei ist das Produkt, das es zu bewerben gilt; und um wieviel leichter fällt ihm diese Aufgabe, wenn er bloß zwischen zwei Produkten gleicher Art, zwischen Pepsi und Coca-Cola zu wählen hat! Darin liegt das verhängnisvolle, verhärtende, aber eben auch stabilisierende Element des heutigen Parteienstaates.
Vielleicht dürfte mittlerweile auch mancher die AfD als ein solches Geschäftsmodell für sich entdeckt haben, der in den Altparteien nie über eine subalterne Stellung hinausgelangt war und nun seine Chance auf Rangerhöhung beim Aufsteiger sucht. Daher ist der Verdacht möglicherweise gar nicht ganz unbegründet, daß einzelne, die erst kürzlich damit begannen, sich »Gedanken um Deutschland zu machen«, den derzeit wieder leicht erhöhten Marktwert des Produkts Patriotismus erkannt haben und vor allem deshalb für die neue Firma tätig geworden sind? – Denn welchem der bisherigen Berufspolitiker wäre es je um das Wohl des Landes gegangen, wenn damit nicht zugleich die Aussicht auf ein noch höheres Eigenwohl verbunden wäre?
»I will always be too expensive to buy« – Bliebe auch dies nicht bloß einer der vielen verlogenen Sprüche heuchlerischer Pseudokünstler (hier der Adrian Pipers und ihrer Biennale-Installation von 2015), gäbe es weder unsere politische Klasse noch den Kulturbetrieb oder die Kunstszene, deren zumeist blödsinniges und durchsichtiges Gehabe ja gar nicht stattfinden würde, wenn es nicht staatlich alimentiert würde. Wo das öffentliche Leben als großer Korruptionsvorgang oder, gelinder gesagt, als selbstbetrügerischer Überlebenskompromiß erkannt wird, schwinden die Freude am Spiel und die Achtung vor den Gewinnern. Es ist kaum möglich, mit Augen auf diese Dinge zu schauen, ohne daran erblindet oder von sich selber als Teil der Dinge berauscht zu sein.
Schließlich wird jeder Staat irgendwann auf seine Weise hermetisch, selbstsüchtig, ja verbrecherisch, wenn er nur lange genug Gelegenheit dazu bekommt. Denn das Allzumenschliche findet in jedem Regime über kurz oder lang seine treuen Verbündeten. Wo nicht spätestens alle fünfzig Jahre die politischen und kulturellen Eliten ausgetauscht werden, endet jeder Staat dort, wo dieser inzwischen angekommen ist: in einem verhalten totalitär-ochlokratischen Zustand, den akzeptieren muß, wer mitspielen will. Eine Wirklichkeit, in die sich die allermeisten derart eingelebt haben, daß ihnen das Bedrückende dieser Lage gar nicht mehr auffällt. In einem solchen Regime, das keine echte Opposition, keinen echten Widerspruch, keine Bewegung in die andere Richtung duldet, genießt die staatliche Niedertracht freien Lauf.
Deshalb stehen die Chancen, daß wir in absehbarer Zeit eine Wiederkehr der großen Verwerfungen und politischen Leidenschaften erleben werden, momentan nicht eben hoch. Jedenfalls scheinen derzeit hierzulande keine grundsätzlichen Entscheidungen, keine Kurswechsel gewünscht, sondern allenfalls sanfte Korrekturen, womit der Traum von einer echten politischen wie geistigen Erneuerung ins Irreale kippt, zumal er von einem saturierten, streng auf Integrität bedachten, fest im Leben verankerten Wohlstandsbürgertum am allerwenigsten geträumt wird.
Schon das politische Ethos eines Max Weber dürfte gar nicht mehr verstanden werden, wo man im Käfig der Konditionierungen fleißig seine Runden dreht, eingezirkelt von lauter roten Linien, welche die Zoodirektion in der Absicht immer enger zog, das Tier auf eine neue Art hin zu dressieren. Und schon will es auch gar nicht mehr gefährlich sein, sondern nur noch mitmachen, weil es die Vorteile begriffen hat, die ihm die neue Wirklichkeit bietet; dieser ehemalige Tiger also ist nicht einmal mehr traurig – sondern nur noch pragmatisch. Er hat sich an den Speiseplan gewöhnt und auch daran, seinen Wärtern aus der Hand fressen zu müssen, um nicht sanktioniert zu werden. Was bleibt ihm, so er nicht ab- magern will, auch anderes übrig?
Tatsächlich befindet sich der stolze, freiheitlich-patriotische Mensch heute erneut in einem historischen Dilemma: Sucht er als moderater Teilnehmer am Bestehenden den Zugang in den Machtapparat, um diesen von innen heraus mitzugestalten, muß er sich seinen Kontrahenten so sehr angleichen, daß echte Brüche nicht mehr möglich sein werden, zumal niemand innerhalb des regierenden Feudalismus bereit ist, die Spielregeln zu ändern. Bewahrt er sich hingegen seinen fundamentaloppositionellen Anspruch auf einen Regimewechsel, wären drastische Verschlechterungen der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie europaweite Umsturzbestrebungen nötig, um jemals in die Regierungsverantwortung hin- eingewählt zu werden.
Björn Höcke sprach in seiner wohl auch deshalb von allen Seiten reflexartig denunzierten »Dresdner Rede« manche böse Wahrheit aus, so auch diese, daß die AfD die letzte evolutionäre Chance auf Veränderung sei – was impliziert: Wird diese Chance vertan, wäre Veränderung nur noch revolutionär möglich. Weil Höcke dann auch noch gegen den heilig- sten Staatskult verstieß, indem er die zum festen Bestandteil hiesiger Politik gehörende Methode kritisierte, die historische Schande zum Zwecke der eigenen Unantastbarkeit zu instrumentalisieren, machte er sich gewissermaßen der »Gotteslästerung« schuldig; und der innerparteiliche Rüffel folgte auf dem Fuß: Als konservative Partei will die AfD naturgemäß keine revolutionäre sein; also habe man sich auch nicht gegen die bestehenden, unsere politische Wirklichkeit konstituierenden Staatskulte zu richten, geschweige denn mit diesen zu brechen.
Vor hundert Jahren, zu Max Webers Zeiten, hätte die Tatsache noch Geltung für sich beanspruchen dürfen, daß sich ein »Volk« in seiner Einheit dadurch definiert, daß es instinktiv weiß, was das »Richtige« ist, weil es sich versteht. Wo diese Übereinkunft und damit der ethisch-ethnische Zusammenhalt nicht mehr gegeben ist, wird aus Gemeinschaft Gesellschaft, und es verschieben sich die Koordinaten zur Begründung des sozialen Miteinanders. Würde man sich heute über die tatsächliche Lage ungeschönt bewußt werden, müßte man unweigerlich zu dem Schluß kommen, daß es unter den gegebenen Umständen leider gar keine Alternative zur Fundamentalopposition gibt. – Oder glaubt man allen Ernstes, dieses Regime werde die AfD jemals respektieren oder auch nur entsprechend gewähren lassen, solange die Partei sich den Etablierten nicht komplett angeglichen hat?
Daher bleibt die Naivität der sogenannten »Realpolitiker« erstaunlich, man könne als »koalitionsfähige« AfD politisch irgend etwas bewirken, denn eine im derzeitigen Parteiensystem koalitionsbereite AfD wäre natürlich keine Alternative mehr, sondern eine Contradictio in adiecto. Die Abschleifung hin zur Realpolitik ergibt sich erfahrungsgemäß automatisch, weshalb ein fundamentaloppositioneller Ansatz so lange wie möglich bewahrt werden sollte, sofern man wirklich ein anderes Land, eine andere Politik, andere Eliten anstrebt.
Wollte die AfD dagegen selber die Bedingungen diktieren, müßte sie (was eben nicht sehr wahrscheinlich ist) in absehbarer Zeit mit mindestens 40 Prozent stärkste Partei werden, was wiederum einen gründlichen Zeitgeistwandel voraussetzte. Wer einen echten »Wechsel«, also richtungsweisend in die Verhältnisse eingreifen will, muß diesen jedoch eine andere »Kultur« (Literatur, Philosophie, Kunst) entgegensetzen, die sich nicht bloß aus nostalgischen Glücksmomenten herleitet, sondern parallel zum laufenden Prozeß selbst erst erschaffen wird.
Denn politische Wirkung basiert bekanntlich nicht zuletzt immer und vor allem auf kultureller Hegemonie. Solange also die parlamentarische Rechte sich nicht bemüht, eine echte Kontrakultur zu entwerfen und darzustellen, weil sie deren Bedeutung unterschätzt, wird sie auch keinen entscheiden- den Einfluß auf den Zeitgeist nehmen können und politisch marginal bleiben. Denn ohne das Rüstzeug für eine geistige Erneuerung dürfte schwerlich eine politische durchzusetzen sein.
Natürlich ist das alles leichter gesagt als getan. Denn die Gesinnungskartelle im gesamten institutionellen Spektrum zu durchbrechen, das von den Hochschulen bis in die Redaktionen der Staatsmedien reicht, gliche einer wahren Herkulesarbeit, da die Institutionen heute viel geschlossener und homogener sind, als sie es noch für die sogenannten 68er waren. Aber solange die Opposition den gesamten staatlichen Propagandaapparat gegen sich hat, wird sie sich kaum öffentlichkeitswirksam darstellen können.
Deshalb wäre zunächst eine interne intellektuelle Aufrüstung vonnöten, die das Fundament legte, um langfristig auch mit einer geistigen Alternative den bestehenden Strukturen entgegenwirken zu können. Denn noch nie hat sich ein politischer Wandel ereignet, ohne daß ihm eine geistig-kulturelle Bewegung vorausgegangen wäre.
Vielleicht gelänge es dann, in vielerlei Hinsicht besser zu werden und anders zu bleiben als die Herrschenden, um dieses Besser- und Anders- sein allen Nichteinverstandenen als echte Alternative anzubieten. Denn wo es reichlich Mut erfordert, sich für die Opposition zu engagieren und jede politische Arbeit jenseits der Kartelle zum existentiellen Wagnis wird, haben die Regierenden das Politische als solches unattraktiv gemacht und die Demokratie nicht nur ad absurdum geführt, sondern quasi abgeschafft.
Dieser Zustand könnte wiederum nur dadurch aufgebrochen werden, daß die von nun an im Bundestag vertretene Opposition irgendwann zur Regierung gelangte und dann ihrerseits mit den Gegnern fairer umginge, als die regimeeigene »Zivilgesellschaft« heute mit der AfD umgeht; also ohne Gleichschaltung und Zensur im öffentlichen Raum, ohne staatlich gedeckten Terror gegen Andersmeinende. Solange aber bleiben die freie Republik und echte Demokratie, bleibt das freie Spiel der Kräfte ein zu verwirklichender, vielleicht allzu naiver Traum.
Denn nach zweitausendfünfhundert Jahren Staatsgeschichte und den Erfahrungen der letzten dreißig Jahre fällt es freilich schwer, noch an die Verwirklichung ideal-demokratischer Verhältnisse zu glauben. Schließlich ist Freiheit immer die Freiheit derer, die sich dazu ermächtigen, den Gegnern ihrer Herrschaft das Recht auf Beteiligung abzusprechen. Und weil der Mensch ein Mensch ist, wird der historische Traum von einem vernünftig-weitsichtig, volksnah und dennoch klug-gerecht regierten Land, der Traum von einer politisch-kulturellen Wirklichkeit, die den feineren Geschmack nicht permanent beleidigt, wohl immer ein Traum bleiben. – Dennoch: Bewahren wir uns diese Hoffnung, die ein Auftrag ist! Der Anfang wäre gemacht.