Wer während weniger Wochen Ostpreußen und Ostküste bereist, erlebt die Antipoden des Westens. Hier berücken Sommerkühle, Stille, Ent- schleunigung, Natur, weite Horizonte und Horizontalität; dort erdrükken Schwüle, Getöse, Rastlosigkeit, Urbanität und eine Vertikalität, die den Horizont oft auf einige hundert Fuß heranrücken und überdies nur mit dem Kopf im Nacken sichtbar werden läßt.
Selbst wer »God’s own Country« über dessen linksliberales Schmelztiegel-Einfallstor New York betritt (entgegen Günter Maschkes Anweisung nicht »wenn überhaupt, dann als Mitglied einer Invasionsarmee«, sondern als gemeiner Tourist), ist vom Gegensatz frappiert: Die multiethnische Stadt, dabei die Stadt schlechthin, wie man alsbald zähneknirschend einräumt, ist an einem gewöhnlichen Wochentag beflaggt, wie man es sogar aus Europas selbstbewußteren Staaten an Nationalfeiertagen nicht kennt. Immer wieder zwingen überwältigende Schauwerte zum Rundumblick; immer rückt dabei das unentrinnbare Sternenbanner ins Gesichtsfeld – und am Rathaus von Staten Island ein eiserner Sammelbehälter zur Abgabe und würdigen Weiterbehandlung von »retired U.S. flags only«.
Auf der Fähre zurück nach Manhattan und in dessen Eingeweiden, auf jedem U‑Bahn-Wagen, den plakativen T‑Shirts oder dezenten Ansteckern auf Anzugrevers und selbst auf den Getränkebechern der Passagiere, auf deren Mützen und den Werbeflächen darüber – spätestens wenn man an der piekfeinen Fifth Avenue wieder an die Oberfläche steigt, glaubt man in Sachen Flaggentaumel alles gesehen zu haben: bis man die katholische St. Patrick’s Cathedral erblickt, ungläubig, weil selbst sie mit Stars and Stripes beflaggt ist.
Sogar die spätnächtliche Ausfahrt eines Feuerwehrwagens über den taghellen Times Square am Broadway, eines chromblitzenden Ungetüms, gerät zur patriotisch-dramatischen Inszenierung, und gelte es auch nur ein Kätzchen aus der Baumkrone zu retten: Blinkend und gellend bahnt sich Truck 4 – laut zahlreichen Aufschriften »Pride of Midtown« – seinen Weg, mit flatternden US-Fahnen am Heck.
Ihren Ruhm hat sich die Truppe insbesondere an Nine-Eleven erworben, als über 300 Feuerwehrleute unter den Trümmern des World Trade Centers zu Tode kamen. So erwartet man gerade am Ground Zero gestreift-gesterntes Pathos in Blau- Weiß-Rot, das alles Bisherige in den Schatten stellt – und erlebt eine handfeste Überraschung: Der zentrale Gedenkort ist vollkommen flaggenlos, ist einer der stillsten und horizontalsten Orte Manhattans – und auch deshalb einer der beeindruckendsten. Dort, wo einst die beiden Haupttürme des WTC in die Wolken ragten, ihre Abmessungen am Fundament beibehaltend, sind die Namen der 3000 Toten des 11. September in die umlaufende, massive Bronzebrüstung eingekerbt, hinter der ein Wasserfall in unzähligen feinen Fäden auf den Grund der rechteckigen Bekken stürzt, um dann, einer fast unmerklichen Neigung folgend, in deren Mitte langsam in einem dunklen Schacht zu verschwinden, dessen Grund dem Blick der Betrachter entzogen bleibt.
Und diese sind ungewöhnlich still, obwohl die sonst allgegenwärtigen Aufsichtsorgane und belehrenden Hinweisschilder fehlen, verzehren nichts, posieren nicht, telephonieren kaum und verleihen dem Ort zusätzliche Würde. Das angrenzende neue One World Trade Center scheint menschenleer, niemand fährt über die stark bewehrte Auffahrt vor, niemand betritt oder verläßt den Turmbau, dessen gläserne Fassade den strahlend blauen Himmel spiegelt und sich trotz ihrer 400 Meter Höhe beinahe dezent in diesen einfügt. Der vollständig aus dem Getriebe der Riesenstadt herausgelöste Ort vermittelt insgesamt den Eindruck, als wäre Amerika womöglich nachdenklich geworden, nachdenklich an seiner eigenen Größe und der üblichen Art, diese zu zelebrieren und aller Welt auf allen Kanälen unausgesetzt ins Bewußtsein zu hämmern.
Der schwerste Hammer, trotz der nun wirklich nicht zu vernachlässigenden politischen, wirtschaftlichen und populärkulturellen Schlaginstrumente, bleiben die United States Armed Forces, denen man denn auch Schlag auf Schlag begegnet: Auf Bahnhöfen und Flughäfen, immer wieder entlang der einschlägigen Phalanx hausgroßer Fahnen, US Army, US Ma- rine Corps, US Navy, US Air Force, US Coast Guard, schon vor der eigentlichen Ankunft und erst recht hinterher, wo allgegenwärtige Details eine allgemeine Geisteshaltung kennzeichnen: Von der Getränkekarte, die in Großbuchstaben HEROES VODKA, weil »veteran owned«, empfiehlt, über die empörte Entgegnung eines zerlumpten Stadtstreichers auf die vorbeugende Zurückweisung durch einen Washingtoner Hochbürokraten: »I’m a veteran, man!«; vom ausgewachsenen Flugzeugträger, als Kriegsmuseum dauerhaft vor Anker an der West Side Manhattans, bis zur National Mall, die sich im Herzen Washingtons über Kilometer erstreckt – die US-Amerikaner sind nicht das Volk, das sich »ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt« hätte.
Stattdessen reihen sich dort gewaltige Denkmäler für Kriege, Krieger und Kriegsherren, von keinerlei Selbstzweifeln angekränkelt, in ununterbrochener Abfolge aneinander – und selbst »kontextualisierende Erklärungstafeln«, die aus der bequemen Position der Nachgeborenen die Vergangenheit (um)deuten könnten, fehlen zwischen den gletscherweißen Massiven von Kapitol und Lincoln Memorial. Nur die Gesichtszüge der Monumentalstatue des Präsidenten auf seinem Thron aus Rutenbündeln sind zerquält, wenn sie dem Potomac River den Rücken zukehrt, auf dessen jenseitigem Ufer Virginia liegt. Dort befindet sich der Nationalfriedhof Arlington, dessen Erde über eine Viertelmillion Gefallene bedeckt – die ersten Toten des Bürgerkriegs. Sinnigerweise befindet sich der Friedhof auf dem enteigneten Anwesen des legendären Konföderierten-Generals Robert E. Lee.
Daneben zwei weitere emblematische Bauten der US-Streitkräfte: Die fünf jeweils 300 Meter langen Fassaden des äußersten der fünf Gebäuderinge des Pentagon und das Marine Corps War Memorial, das den weltberühmten »Schnappschuß« von sechs Marines, die auf Iwo Jima die US- Flagge hissen, in Bronze gießt. Die Inschriften am Sockel verzeichnen die Waffentaten der Marineinfanterie: Euphemistisch, wie in »War between the States«, fragwürdige Heldenstücke wie die »Indian Wars« und frühe Bananenkriege, oder unzählige Feldzüge jüngeren Datums – wo auch immer Uncle Sam sich »widerwillig« gezwungen sah, Freiheit, Demokratie und Menschenrechten »selbstlos« zum Durchbruch zu verhelfen.
Diese Sichtweise trommeln auch die Fremdenführer des angrenzenden Arlington National Cemetery unbekümmert, und wenn die Schalterdame zuvor darauf hingewiesen hat, daß der Eintritt für Veteranen frei sei, und zwar für jene aller Nationen, möchte man fair enough! aus- rufen – sind doch die meisten nichtamerikanischen Veteranen erst durch US-Angriffe in diesen Stand gelangt.
Gleichviel: Zwischen den sattgrünen Gräberfeldern mit hunderttausenden gleichartigen, schneeweißen Grabsteinen, die sich in Reih und Glied bis zum Horizont der makellos gepflegten hügeligen 250 Hektar hinziehen, wandelt man durch eine arkadische Landschaft, zudem »the nation’s most sacred shrine«, wie Hinweisschilder den ehrfürchtigen Besuchern überflüssigerweise einschärfen. Erst am Grabmal des Unbekannten Soldaten des Ersten Weltkriegs, während der Ansprache des kommandierenden Offiziers der Wachablösung, wird dessen bombastische Rede und outrierende Intonation selbst einem dem Militärisch-Zeremoniellen gewogenen ausländischen Beobachter schwer erträglich; keineswegs aber den anwesenden Amerikanern, was den entscheidenden Mentalitätsunterschied zwischen deren Volk und Politikern und Europa, insbesondere Deutschland, unterstreicht, den unterschiedlichste Gesprächspartner im Verlauf der Reise ausnahmslos bestätigen: Während die entschlossene Parteinahme für Nation, Fahne und Armee hierzulande politische Karrieren beendet, ist sie dort Voraussetzung.
Diese überragende gesamtgesellschaftliche Wertschätzung wurde den U.S. Armed Forces traditionell allerdings keineswegs zuteil, ganz im Gegenteil, wie Martin van Crefeld darlegte: »Historisch gesehen waren militärische Werte der amerikanischen Demokratie so fremd, daß das Militär als vernachlässigtes Stiefkind galt und sich auch so empfand. (…) Offiziere der Land- und Luftstreitkräfte erfüllten hartnäckig ihre Pflicht in einem Volk, das hoffte und zu glauben versuchte, alle Offiziere seien so nutzlos wie ihre Säbelketten« (Kampfkraft, Graz 2005.).
Und in der scheinbar so unerschütterlichen Verbundenheit der Amerikaner mit Armee und Nation zeigen sich neuerdings wieder Risse – neuartige. Anders als zu Zeiten des Vietnamkriegs richtet sich heute der Widerstand nicht quer durch alle Schichten gegen den Gesamtstaat und seine Interventionen overseas, mithin gegen ein als ungerecht erachtetes gegenwärtiges Wirken nach außen: Die nicht weniger wütenden Aktivisten unserer Tage nehmen in sehr europäischer Weise vielmehr die eigene Vergangenheit aufs Korn, die sie mit der Elle des Zeitgeists anhand echter oder vermeint- licher, aber jedenfalls nicht ihrer eigenen Partikularinteressen messen.
Dieser Zeitgeist konterkariert die integrative Fahnen-Besessenheit der Amerikaner und stärkt ihre zweite, ebenso allgegenwärtige, aber zentrifugale: jene für Rassenfragen – ausgerechnet im Mutterland der politischen Korrektheit. So wurde zunächst, in einem ersten Anlauf, die Konföderierten-Fahne von den Kapitolen der Südstaaten geholt; als Vorwand diente die Photographie eines späteren Amokläufers vor dem inkriminierten Banner. Landesweit überboten sich in weiterer Folge auffallend oft weibliche Politiker darin, Denkmäler für emblematische Figuren des Südens schleifen zu wollen; dann legte ein fast ausschließlich weißer Mob brevi manu selbst Hand an und stürzte, in wütender Geschäftsführung ohne Auftrag und angeblich zugunsten der meistenteils gleichgültigen schwarzen Bevölkerungsgruppe, diese vermeintlich insultierenden Statuen.
Ein weiterer weltberühmter Volksheld des ame- rikanischen Südens, der selbst nach der heutigen hypertrophen Defini- tion des Rassismus gänzlich unverdächtige Johnny Cash, sang seinerzeit »God bless Robert E. Lee«; in Charlottesville und andernorts wird dieser heute vom Sockel geholt. Daß die Gestürzten vor allem für die Erhaltung der Sklaverei gekämpft hätten, ist schon historisch gesehen grob vereinfachend und dennoch eine stets wiederkehrende Begründung; die eigentliche Stoßrichtung enthüllt jene, mit der die durch ihre ersten Erfolge angestachelten US-Taliban nun auch den Sturz der Statuen des Christoph Columbus unter anderem in Columbus/Ohio fordern: »Topple white su- premacy now!«.
Von einer Vorherrschaft der demographisch, topographisch, ideologisch und kulturell stetig auf dem Rückzug befindlichen Weißen ist im Laufe der Reise indes wenig auszumachen; eine Petition für die Schleifung eines weiteren Columbus, schließlich »ein Mann, der Schwarze ermordet, vergewaltigt und versklavt hat«, verrät dafür, wohin die Reise gehen soll: »Um Mitglieder unserer Gesellschaft zu ehren, deren Führung wir inspirierend finden«, soll an seiner Stelle dem jüngst an einer Überdosis verstorbenen schwarzen Pop-Musiker Prince ein Denkmal gesetzt werden.
Die allmähliche Zersetzung nun auch des Hegemonen, von innen heraus, betrieben durch eine schwindende Noch-Mehrheit zugunsten wachsender Noch-Minderheiten, mag angesichts dessen Sünden zunächst klammheimliche Befriedigung auslösen. Indes: Noch jede einschlägige Welle ist während der vergangenen Jahrzehnte über den Atlantik nach Europa geschwappt – und diese neue träfe hier auf einen schon davor ungleich mürberen Kontinent. Daher, und schon aus egoistischen Gründen, so schwer es über die Lippen gehen mag: God bless America. ¡