Es gäbe heute auch keine Erzähler mehr, klagte einer. Da irrte sich der Gast gewaltig. Freilich gibt es sie, die großen Erzähler deutscher Zunge! Michael Köhlmeier nimmt fraglos einen der obersten Ränge ein. Mit seinem ausuferndem, mäandernden Familienroman Bruder und Schwester Lenobel stellt er das erneut unter Beweis. Echte, gute, zeitgenössische Literatur, welthaltig und zweifelsohne kanonisierbar? Hier!
Robert Lenobel ist Psychiater in Wien. Ein »aggressiver, paranoider Charakter, der nach Macht verlangte. Aber es gab einen Zeugen, nämlich ihn selbst, und dessen aggressiven, paranoiden Spott wollte er sich nicht antun.« Robert ist verschwunden. Seine Frau Hanna, Inhaberin einer jüdischen Buchhandlung, bittet Roberts Schwester Jetti um Hilfe. Die, eine ätherische Schönheit, eine ru©hlose Circe, fliegt aus Irland ein.
Dort leitet sie ein florierendes Unternehmen: Sie führt zeitgemäße One-world-Projekte mit Geldgebern zusammen. Gerade plant sie eine Dauerausstellung im irischen Nationalmuseum über die frohe Lebensart der Zigeuner. Sie weiß, wie man dafür den europäischen Sozialfonds knackt und den Asyl- und Migrationsfonds sowie den Integrationsfonds gewinnt – private Unternehmen pflegen dann gern mit einzusteigen.
Jetti hat in ihrem Fundus viele auswendiggelernte Redewendungen, »die Kompetenz anzeigen«. Wenn dies alles nicht reicht, hilft der Hinweis auf ihr Jüdischsein: Dann fragt das Finanzamt nicht nach, »weil die Behörden nicht in der Zeitung landen wollen«, und sie wird dann wie »eine zerbrechliche Heilige« behandelt.
Hanna hingegen hat mit dem Jüdischwerden (bekanntlich ein schwieriger Akt) lange geliebäugelt. Speziell deshalb, weil sie schwer verliebt war in (den längst toten) Abba Kovner, den Kopf der jüdischen Rache-Truppe Dan Yehudi Nakam, die geplant hatte, in deutschen Großstädten Trinkwasser und Brot zu vergiften. Ihr Mann Robert, der sich nun abgesetzt hat und auf erotischen Abwegen wandelt, hatte ihr vorgeworfen, daß sie ihm »Nachhilfe in Betroffenheit« geben wollte. Als hätte man eine solche »Vorturnerin« nötig! Letztlich hatte Hanna abgelassen von Kovner: »Die Große Gerechtigkeit war zu groß für sie. Niemand nahm ihr das übel.«
Köhlmeier nun zieht diese an sich bereits vielfältig verzwickte Geschichte keineswegs an einem Strang durch. Lauter Nebenschauplätze tun sich auf. Er verpackt sie zum einen in enigmatische Kunstmärchen, die jedem Kapitel vorangestellt sind und zum anderen in Kleinst-Exkurse, die jeder für sich goldwert sind.
Da ist jener Bürgermeister eines österreichischen Dorfs, der Jetti mit seinen Plänen penetriert: Er möchte sein Kaff zu einem Kafka-Dorf werden lassen, eine Event-Maschine starten. Nicht, daß er literarisch gebildet wäre, nein, aber er kann Kafka-Erzählungen auf Punkt und Komma auswendig hersagen. Der leider verblichene Lou Reed sei begeistert gewesen; nicht ausgeschlossen, daß man nun Hollywoodstars wie Cate Blanchett hinzugewinnen könne?
Am Ende wird die umtriebige Jetti ihre mutmaßlich große Liebe finden, und wir begleiten Robert Lenobel bei seinen Versuchen, ein Jude zu werden, »wie er im Buche steht.« Der Weg dorthin, an die Klagemauer, war langwierig. Kurz vor seinem Verschwinden gen Osten hatte Lenobel die Welt der Internetforen für sich entdeckt. Er hat gepostet, was das Zeug hält – rechtsradikale Auslassungen, just for fun; rein zur Freude an der Wirkung hat er Stil, Jargon und Rechtschreibschwäche der wutbürgerlichen Internetarmee übernommen und sich nebenher kundig in Wikipedia-Einträge eingefuchst. Das ist zum Schießen!
Wenigstens ist es dies vordergründig. Performanz und Authentizität sind die Sachbestände, die hier eigentlich verhandelt werden. In diesem Sinne ergeht sich Lenobel auf Identitätssuche in Aphorismen: »Gleichheit ist der gesellschaftliche Zustand der Hölle«, schreibt er. Und:»Ist man neurotisch, weil man Jude ist? Oder ist man Jude, weil man neurotisch ist?«
»Die Juden«, soviel scheint klar, fungieren als »Figuren aus der eingespielten Bühne des deutschen Gedächtnistheaters.« Eine gewisse Eitelkeit gesteht sich Lenobel dabei durchaus zu, zumal er als Fachmann den psychologischen Vorgang durchschaut und »Maß zu halten« bereit ist. Sein Finale findet in Jerusalem statt. Er kauft sich eine Kippa, »kichert, wie ein Schtetljude wohl kichert, er macht den Rücken krumm und gestikuliert, als wäre er Veit Harlans Jud Süß entstiegen« – um letztlich diese Identität als unpassende abzulegen.
Überborden, Nebenarme bilden und dennoch ein Fluß bleiben, was für eine schriftstellerische Leistung, welch ein Genuß! Es gibt wenige, die Köhlmeier in seinen Charakterzeichnungen, in seiner Schattierungskunst, seiner Erzähllust übertreffen.
Hinzu kommt, daß dieser Autor imstande ist, selbst eine Figur abzugeben, die aus einem seiner lebensnahen Romane entsprungen sein könnte. Man kann im Netz leicht die Rede finden, die Köhlmeier im vergangenen Frühjahr vor dem österreichischen Parlament zum Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft hielt: Life is life, Leben heißt Leben (Laibach).
Michael Köhlmeiers Bruder und Schwester Lenobel kann man, nein: sollte man, wenn man wieder einmal so richtig lesen will, UNBEDINGT bestellen.
Heinrich Loewe
Mein Lieblingsformat im Rundfunk ist die Lesezeit vormittags auf mdr Kultur, da brachte man vor einiger Zeit ich glaube Geschichten aus der Bibel nacherzählt von Michael Köhlmeier - ganz ganz große Sache; man folgt wie gebannt...Keine Frage, Köhlmeier ist ein Großer.
Kositza: Oh ja, in der Lesezeit haben sie durchweg eine tolle Auswahl; da hab ich schon Großartiges entdeckt - grad hatten sie 19 Folgen "Der Stechlin", die halbe Stunde hab ich mir immer reserviert!