Allerdings ist »moralische Selbstverzauberung« noch präziser, denn der vorbewußte Zug und die mangelnde Zurechnungsfähigkeit sind damit besser gefaßt.
Symptome sind Toleranzverlust, Hysterie und ein missionarischer Drang zur totalen geistigen Reinheit.
Das wahnhafte Verhalten ist unerbittlich und setzt ein, wo die moralischen Kategorien »gut« und »böse« in Bereiche getragen werden, in denen sie nicht am Platze sind. Einer dieser Plätze ist die politische Auseinandersetzung in einer Demokratie. Weil die Demokratie in ihrer Selbstbeschreibung die auf Gespräch und kompromißbereit vorgetragenem Programm basierende Regierungsform ist, gilt der Möglichkeit der ganz anderen Meinung und der Gelegenheit zu ihrer freien Äußerung das Augenmerk jeder demokratischen Verfassung. Dem »Anderen« muß mit Verständigungswillen begegnet werden, sonst ist es kein Gespräch.
Was geschieht aber, wenn »das Andere«, wenn »die Alternative« nicht mehr als diskutable Beiträge gelten, sondern als “Propaganda”? Was, wenn »das Böse« vom »Guten« geschieden werden soll? Darf das »Böse« als Meinung und Programm neben dem »Guten« existieren und als Konkurrent um Mehrheiten den mündigen Bürger – bedrängen? Nach Auffassung der Guten darf es das nicht. Die Moral verbietet das, oder besser: der Moralismus, dieser politische Hygieneblick, der – dies vorweg – ein Totalangriff auf die Mündigkeit und vor allem auf die natürlich vorhandene politische und private Vielgestaltigkeit des Bürgers ist.
Was bedeutet das? Nichts weniger, als daß der Vielfalt an Verhaltensmustern einer »anderen Meinung« gegenüber der Garaus gemacht wird. Es soll diesem »Anderen« gegenüber nur noch eine einheitliche Art und Weise der Entgegnung geben, in Stufen: Verdächtigen, Ausgrenzen, Kriminalisieren, Tilgen.
Wenn nämlich »die andere Meinung« nicht mehr sachlich als mögliche (und statthafte) andere Sicht auf die Dinge, sondern entlang der Kategorien »gut« und »böse« eingeordnet und bewertet wird (wobei grundsätzlich »gut« der linken, »böse« der rechten Seite des Meinungsspektrums zugewiesen ist), liegt in der Konsequenz eine Verhaltenslehre vor: Wer jetzt noch ins Gespräch kommen will, spricht nicht mehr mit dem Anderen, sondern mit dem bösen Anderen.
Wer dennoch den Dialog sucht, muß sich ab sofort dafür rechtfertigen, und rechtfertigen muß sich auch, wer diese Kategorisierung (die eine Simplifizierung und zugleich eine Entmündigung ist) grundsätzlich in Frage stellt.
Aber der moralistische Hygienewahn macht dort noch nicht halt, sondern zieht weitere Kreise: Rechtfertigen soll sich auch, wer Verständnis dafür hat, daß es Leute gibt, die noch immer mit dem bösen Anderen in den Dialog treten möchten. Daß auch diejenigen Schuld an der Aufweichung der moralischen Front tragen, die den Dialogbesessenen aus den eigenen Reihen nicht denunzieren, nicht verstoßen, nicht bloßstellen und nicht ächten wollen, ist dann nur konsequent:
Denn selbst eine Nicht-Beteiligung an der wilden Jagd auf diejenigen, die eine Auseinandersetzungssperre für falsch halten, gilt mittlerweile als brennendes »Ja« zum Dialog, zum Feind selbst, und »den Feind zu lesen« ist aus der Sicht der moralisch Selbstverzauberten zweifellos eine Einstiegsdroge, die aus eigener Kraft keiner abzusetzen vermag und die also über kurz oder lang zu einer verheerenden Wahlentscheidung führen muß.
Die »Zivilgesellschaft« (neben »Toleranz«, »Pluralismus« oder »Respekt« einer dieser ruinierten Begriffe) ist moralistisch infiziert. Man kann dies an einem Beispiel von der Frankfurter Buchmesse belegen. Zu dieser Messe hatten sich offiziell fünf Verlage aus dem »rechten Spektrum« als Aussteller angemeldet. Aus Deutschland die Wochenzeitung »Junge Freiheit«, das Magazin »Cato« und der Verlag »manuscriptum«, aus Österreich die Verlage »Karolinger« und »Ares«. Die drei bundesdeutschen Aussteller wurden in einer Sackgasse vom Besucherstrom abgeschnitten, worauf »Cato« seine Teilnahme zurückzog.
Daß die beiden österreichischen Verlage nicht auch noch in dieser Hallenecke konzentriert wurden, galt in der Presse als Versäumnis oder, moralistisch präziser, als mangelnde Konsequenz und nicht ausreichende Verfahrenshygiene.
An vorderster Front der Infizierung aller gesellschaftlichen Teile mit dem moralistischen Virus steht die 1999 von einer ehemaligen Informantin der Stasi gegründete Amadeu Antonio Stiftung. Sie wurde bereits auf der Buchmesse 2017 als »Aufpasserin« mit einem kostenlosen Stand dem “Verlag Antaios” gegenübergesetzt.
Dies reichte der Stiftung für die diesjährige Buchmesse aber nicht aus. In einer Pressemitteilung vom 26. 9. 2018 faßte die Stiftung ihren selbsterteilten Auftrag zusammen:
Im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse fordert die Amadeu Antonio Stiftung die Buchbranche und Medienschaffende auf, sich klar gegen neurechte Vereinnahmungsversuche zu stellen.
Die Zielsetzung war klar: Man würde sich in diesem Jahr vor allem um diejenigen kümmern, die noch neutral ihrer Arbeit als Verlag, Zeitschrift oder Dienstleister nachgingen und bisher nicht begriffen hätten, daß Neutralität Zustimmung und Nicht-Aktivwerden fahrlässiges Gewährenlassen sei. Denn, so weiter in der Pressemitteilung:
Die Antwort auf die Rufe nach Meinungsfreiheit seitens der Neuen Rechten war ein breiter Aufruf dazu, mit extrem Rechten zu reden. Den extrem Rechten geht es nicht um Debatte und Austausch, sie suchen die Bühne, um ihre Ideologie im Mainstream zu platzieren. Die Buchmesse wurde zur Bühne dieser Normalisierungsstrategie. Was im öffentlichen Diskurs vollkommen unbeachtet blieb, ist, dass die Neue Rechte allen, die nicht in ihr Menschenbild passen, demokratische Grund- und Menschenrechte verwehren will. Wer mit Neurechten redet, kommt ihrer Ideologie entgegen und macht ihre Meinungen diskutabel. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung und die Würde aller Menschen sind nicht verhandelbar und sollten nicht zur Disposition stehen.
Diese Sätze sind ein Lehrbeispiel für moralistische Selbstoptimierung samt politischer Aufladung. In ihnen ist fast nichts bescheiden oder deskriptiv formuliert, und der Spieß wird umgedreht: Die tatsächliche Normalisierungsbemühungen neurechter, alternativer Verlage und Publikationen wird als Vortäuschung beschrieben, was im Umkehrschluß nichts anderes bedeutet, als daß Diskurswächter wie die Amadeu Antonio Stiftung an einer Normalisierung, an Dialog, am besseren Argument oder gar an einem Kompromiß tatsächlich keinerlei Interesse haben.
Dies ist konsequent, denn solche Institutionen beziehen ihre Daseinsberechtigung ausschließlich aus einer Dramatisierung der Feindlage: Nichts wäre schlimmer als ein normales Gespräch.
Daß diese Strategie des moralistischen Drucks also zugleich Denunziation und Entmündigung ist, hat der konservative Publizist Karlheinz Weißmann in der Wochenzeitung Junge Freiheit vom 19. Oktober so zusammengefaßt:
Von “Kritikfähigkeit” als Tugend war nur so lange die Rede, als man ›Kritik‹ zur Zerstörung des Bestehenden nutzen konnte. Seitdem man sich den Weg an die Spitze gebahnt hat, weiß man den Durchgriff und den widerspruchslosen Gehorsam zu schätzen und warnt die naiven Anhänger der Vernunft davor, daß es auch ein “zuviel Denken” geben kann.
Dieses »zuviel Denken« ist – wen wundert’s – die naheliegende Medizin gegen den moralistischen Befall, denn es ist ein Ausweis der Mündigkeit und ermöglicht überhaupt ein Denken in Perspektiven und Alternativen, kurz: entlang einer tatsächlich anderen Auffassung und Meinung.
In den jüngst erschienenen Notizen 2011–2013 aus der Feder Peter Sloterdijks finden sich über die moralistische Selbstverzauberung und den ihr zugrundeliegenden Impuls sehr interessante Überlegungen. Sie sind nicht durch die weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Bundesrepublik Deutschland inspiriert, sondern nähren sich (ohne dies explizit zu benennen) aus den Gedanken, die Carl Schmitt über den »diskriminierenden Kriegsbegriff« ausgeführt hat:
Wenn der niedergerungene Gegner nicht mehr schlicht der besiegter Gegner ist, sondern aufgrund eines moralistischen und damit diskriminierenden Kriegsbegriffs der militärisch zwar niedergerungene, aber noch immer böse Feind, endet der Krieg erst, wenn die Umerziehung dieses Feindes weg von seiner bösen Vergangenheit und seinem verwerflichen Lebensgesetz vollzogen ist.
Der Krieg, der mit einem diskriminierenden, moralistischen Feindbild geführt wird, ist kein hegbarer Krieg mehr, sondern die Säuberungsaktion einer moralischen Instanz, einer moralisch geimpften (oder infizierten) Weltinnenraumpolizei, und wo der Feind nicht ganz und gar ausgemerzt werden muß, muß wenigstens sein Wesenskern, sein wesentliches Anderssein dran glauben.
Sloterdijk blickt auf die erfolgreiche und gezielte Tötung Osama bin Ladens durch eine US-amerikanische Spezialeinheit sowie die Aufladung dieses Vorgangs durch die Propaganda und die mediale Verbreitung der Tötungsfeierlichkeiten in den Straßen amerikanischer Orte.
Dem Guten, das den Lauf der Geschichte ändern möchte, muß schlechthin alles erlaubt sein. Unverzeihliches kann verzeihlich werden,
notiert Sloterdijk und meint damit das Töten jenseits jeder Kriegserklärung und die Rache als Staatsakt. Und weiter:
Wer verstehen möchte, warum im 20. Jahrhundert der politische Moralismus mehr Opfer forderte als der politische Biologismus, sollte auf das gute Böse achten, das seinen Agenten die Pflicht zur Auslöschung des Feindes einflüstert.
Spätestens seit den Ausführung Alexis de Tocquevilles über die Demokratie in Amerika wissen wir, daß die Zivilgesellschaft für ihre Feinde keine Guillotine mehr, sondern zuerst einen diskriminierenden Feindbegriff und dann subtile Formen sozialer Hinrichtung bereithält.
Die moralistischen Treiber sind dabei nicht nur Jäger, sondern auch Getriebene. Das ist ein entscheidender Perspektivenwechsel, den die von ihnen Bedrängten, also wir (!) vollziehen sollten: Diese zivilgesellschaftlichen Jäger sind die eigentlich Getriebenen, weil ihnen, die doch moralisch längst und tatsächlich auch beinahe schon ganz und gar gewonnen haben, ständig neue Feinde erwachsen.
Das »Gute« muß jagen, muß ausmerzen, muß alle Neutralen zur Positionierung zwingen, muß hellwach sein. Noch einmal Sloterdijk:
Der Vormacht ist es nicht erlaubt, Provokationen von seiten schwächerer Aggressoren zu ignorieren. Um der Behauptung ihres Ranges willen ist sie dazu verurteilt, ihre rückschlagbereite Haltung in Permanenz zu demonstrieren. Für sie besteht eine ständige Pflicht zur Intervention – anders ausgedrückt: Sie lebt unter dem kategorischen Müdigkeitsverbot.
Müdigkeitsverbot! Wer sieht hier den Hebel nicht? Wir sehen ihn: Wem es nicht erlaubt ist, aufgrund eines geistfeindlichen Putzfimmels das “Andere” zu tolerieren oder wenigstens zu ignorieren, der kann sich wie eine Art Automat nicht wehren, wenn einer die passenden Münzen einwirft. Und wir müssen sie einwerfen.
John Haase
Das Seltsame und Gruselige daran ist, daß der BRD-Mainstream seine stetig steigende Hysterie nicht bemerkt und zwar völlig egal, wie weit sie ausufert. Eine Stasimitarbeiterin wird eingesetzt, um Internetkommentare zu überwachen. Was zur Hölle? So viel Selbsterkenntnis muß doch drin sein?
Dann dieses „Konzert“ in Chemnitz mit Empfehlung des Bundespräsidenten an der er auch festhielt, nachdem man ihm erzählte, wer da eigentlich so spielt. Die unsägliche Atmosphäre der Veranstaltung war ebenfalls unübersehbar, sollte man jedenfalls meinen.
Aktuell werden gerade ein paar Leute von der Jungen Union in die Medien gezerrt, weil sie -schockschwerenot- das Westerwaldlied gesungen haben (Bild: „Junge Union grölt Wehrmachtslied“). Kein Mitleid hier, die haben sich ihren Herren selber ausgesucht, aber trotzdem absurd.
So etwas muß man, bei aller politischen Färbung, doch sehen, was man da tut! Wie gesagt: gruselig.