Warum wird diese Konsensmeinung so bereitwillig und so unreflektiert angenommen, warum befällt der „moralistische Hygienewahn“ (Götz Kubitschek) mündige Bürger und vernünftige Leute, warum verfallen sie in einen Wohlfühlrausch?
Ein Grund mag die Technik sein. Ähnlich wie die Industrialisierung die Gestalt des „Arbeiters“ (Ernst Jünger) hervorgebracht hat, der den „Arbeitscharakter“ auf sein ganzes Umfeld ausdehnt („Arbeit als Lebensstil“), so hat auch unser Lebensstil des digitalen Konsums Auswirkungen auf unser Fühlen und Denken: Der „digitaler Konsum als Lebensstil“ fördert den Griff nach der Droge der einfachen, alternativlosen Wahrheit.
Vier Punkte wirken hier zusammen:
Informationskonsum. Mit dem Aufkommen des Computers in der Informationsverarbeitung war dieser zunächst ein die Kreativität förderndes Instrument. Doch mit der Verbreitung der Computer in die Massen wurden diese immer mehr zu reinen Konsumgeräten. Es ist bezeichnend, daß die derzeit am meisten verbreiteten Geräte – Smartphones und Tabletts – keine Tastatur mehr haben. Es wird kaum etwas erstellt, Informationen werden konsumiert. Ein reiner Empfänger von Informationen wird auch leicht zu einem Empfänger von einer Meinung.
Überangebot. Mit dem Internet kam auch das Überangebot an Informationen. Es werden viel mehr Informationen angeboten, als wir erfassen können. Der Durstende, der aus dem Feuerwehrschlauch nicht trinken kann, wird dankbar das portionierte Informations-Erfrischungsgetränk annehmen, dass ihm vom Staatsfunk gereicht wird.
Überlastung. In den Unternehmen wird immer mehr auf Effizienz optimiert. Der Jahresbonus für den Abteilungsleiter, der erreicht wird, wenn die Abteilung im nächsten Jahr mit einem Mitarbeiter weniger auskommt, ist leider ein Beispiel aus der Realität. Das Hamsterrad dreht immer schneller. Die Angestellten kommen wie Zombies nach Hause – und jetzt noch Informationen filtern? Der Überarbeitete wird lieber nach dem leicht verdaulichen Meinungskonfekt der Leitmedien greifen.
Binäres Denken. „Die Gefahr, daß der Computer so wird wie der Mensch, ist nicht so groß wie die Gefahr, daß der Mensch so wird wie der Computer“ sagte Konrad Zuse, der Erfinder des 1941 gebauten ersten programmierbaren und voll funktionsfähigen digitalen Computers „Z3“. Der Computer ist binär, kennt Null oder Eins, Wahr oder Falsch. Der Mensch, der den Großteil seiner Zeit mit dem Computer verbringt wird weniger musisch und mehr binär denken: Moderne Computersysteme zur ganzheitlichen Unternehmenssteuerung wie SAP liefern „best practises“ – vorkonfigurierte Szenarien, welche nichts anders sind als vorgegebene „richtige“, also „alternativlose“ Wege. Ähnlich das Problemlösungsverhalten im digitalen Zeitalter: Man sucht eine „App“ oder schaut ein „youtube“ Video, das die Lösung, den „besten Weg“ vorgibt.
Von dieser Gewohnheit, sich unreflektiert eine Lösung vorgeben zu lassen zur Übernahme einer vorkonfektionieren Meinung, die als „alternativloser bester Weg“ eingestuft wird, ist es nicht weit.
Ist es möglich, Informationshygiene zu betreiben? Es muß möglich sein, denn das gegenteil wirkt sich verheerend aus, vor allem auf junge, maßstabslose Gemüter. Der Psychiater Manfred Spitzer hat ein kompromisloses Buch zum Thema vorgelegt. Ellen Kositza hat darüber eine Video-Rezension gedreht. Ist das Technikkritik? Ist das altbacken? Wir müssen darüber diskutieren.
MartinHimstedt
Ergänzend eine (gestalterische) Diplomarbeit zu dem Thema, die mir seit 2009 immer mal wieder in Erinnerung kommt: https://www.overnewsed-but-uninformed.de