Digitaler Konsum und Konsensmeinung

von Wiggo Mann -- Die vermeintliche Wahrheit und deren Durchsetzung versetzt als legale Droge Teile der Gesellschaft in einen Rausch.

War­um wird die­se Kon­sens­mei­nung so bereit­wil­lig und so unre­flek­tiert ange­nom­men, war­um befällt der „mora­lis­ti­sche Hygie­ne­wahn“ (Götz Kubit­schek) mün­di­ge Bür­ger und ver­nünf­ti­ge Leu­te, war­um ver­fal­len sie in einen Wohlfühlrausch?

Ein Grund mag die Tech­nik sein. Ähn­lich wie die Indus­tria­li­sie­rung die Gestalt des „Arbei­ters“ (Ernst Jün­ger) her­vor­ge­bracht hat, der den „Arbeits­cha­rak­ter“ auf sein gan­zes Umfeld aus­dehnt („Arbeit als Lebens­stil“), so hat auch unser Lebens­stil des digi­ta­len Kon­sums Aus­wir­kun­gen auf unser Füh­len und Den­ken: Der „digi­ta­ler Kon­sum als Lebens­stil“ för­dert den Griff nach der Dro­ge der ein­fa­chen, alter­na­tiv­lo­sen Wahrheit.

Vier Punk­te wir­ken hier zusammen:

Infor­ma­ti­ons­kon­sum. Mit dem Auf­kom­men des Com­pu­ters in der Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung war die­ser zunächst ein die Krea­ti­vi­tät för­dern­des Instru­ment. Doch mit der Ver­brei­tung der Com­pu­ter in die Mas­sen wur­den die­se immer mehr zu rei­nen Kon­sum­ge­rä­ten. Es ist bezeich­nend, daß die der­zeit am meis­ten ver­brei­te­ten Gerä­te – Smart­phones und Tabletts – kei­ne Tas­ta­tur mehr haben. Es wird kaum etwas erstellt, Infor­ma­tio­nen wer­den kon­su­miert. Ein rei­ner Emp­fän­ger von Infor­ma­tio­nen wird auch leicht zu einem Emp­fän­ger von einer Meinung.

Über­an­ge­bot. Mit dem Inter­net kam auch das Über­an­ge­bot an Infor­ma­tio­nen. Es wer­den viel mehr Infor­ma­tio­nen ange­bo­ten, als wir erfas­sen kön­nen. Der Durs­ten­de, der aus dem Feu­er­wehr­schlauch nicht trin­ken kann, wird dank­bar das por­tio­nier­te Infor­ma­ti­ons-Erfri­schungs­ge­tränk anneh­men, dass ihm vom Staats­funk gereicht wird.

Über­las­tung. In den Unter­neh­men wird immer mehr auf Effi­zi­enz opti­miert. Der Jah­res­bo­nus für den Abtei­lungs­lei­ter, der erreicht wird, wenn die Abtei­lung im nächs­ten Jahr mit einem Mit­ar­bei­ter weni­ger aus­kommt, ist lei­der ein Bei­spiel aus der Rea­li­tät. Das Hams­ter­rad dreht immer schnel­ler. Die Ange­stell­ten kom­men wie Zom­bies nach Hau­se – und jetzt noch Infor­ma­tio­nen fil­tern? Der Über­ar­bei­te­te wird lie­ber nach dem leicht ver­dau­li­chen Mei­nungs­kon­fekt der Leit­me­di­en greifen.

Binä­res Den­ken. „Die Gefahr, daß der Com­pu­ter so wird wie der Mensch, ist nicht so groß wie die Gefahr, daß der Mensch so wird wie der Com­pu­ter“ sag­te Kon­rad Zuse, der Erfin­der des 1941 gebau­ten ers­ten pro­gram­mier­ba­ren und voll funk­ti­ons­fä­hi­gen digi­ta­len Com­pu­ters „Z3“. Der Com­pu­ter ist binär, kennt Null oder Eins, Wahr oder Falsch. Der Mensch, der den Groß­teil sei­ner Zeit mit dem Com­pu­ter ver­bringt wird weni­ger musisch und mehr binär den­ken: Moder­ne Com­pu­ter­sys­te­me zur ganz­heit­li­chen Unter­neh­mens­steue­rung wie SAP lie­fern „best prac­ti­ses“ – vor­kon­fi­gu­rier­te Sze­na­ri­en, wel­che nichts anders sind als vor­ge­ge­be­ne „rich­ti­ge“, also „alter­na­tiv­lo­se“ Wege. Ähn­lich das Pro­blem­lö­sungs­ver­hal­ten im digi­ta­len Zeit­al­ter: Man sucht eine „App“ oder schaut ein „you­tube“ Video, das die Lösung, den „bes­ten Weg“ vorgibt.

Von die­ser Gewohn­heit, sich unre­flek­tiert eine Lösung vor­ge­ben zu las­sen zur Über­nah­me einer vor­kon­fek­tio­nie­ren Mei­nung, die als „alter­na­tiv­lo­ser bes­ter Weg“ ein­ge­stuft wird, ist es nicht weit.

Ist es mög­lich, Infor­ma­ti­ons­hy­gie­ne zu betrei­ben? Es muß mög­lich sein, denn das gegen­teil wirkt sich ver­hee­rend aus, vor allem auf jun­ge, maß­stabs­lo­se Gemü­ter. Der Psych­ia­ter Man­fred Spit­zer hat ein kom­pro­mis­lo­ses Buch zum The­ma vor­ge­legt. Ellen Kositza hat dar­über eine Video-Rezen­si­on gedreht. Ist das Tech­nik­kri­tik? Ist das alt­ba­cken? Wir müs­sen dar­über diskutieren.

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Kommentare (16)

MartinHimstedt

21. November 2018 11:48

Ergänzend eine (gestalterische) Diplomarbeit zu dem Thema, die mir seit 2009 immer mal wieder in Erinnerung kommt: https://www.overnewsed-but-uninformed.de

Ein gebuertiger Hesse

21. November 2018 13:27

Exzellenter Beitrag! Was hier geleistet wird, ist vonnöten: die Dinge auf den Tisch, kurz und knapp, mit gebotener Härte und Klarheit. DIESE Tastatur, und sei es im übertragenen Sinn, muß von uns bespielt werden, und nicht nur weil sie auf den neuen Allerweltsgeräten inzwischen fehlt.

Ein gebuertiger Hesse

21. November 2018 13:35

Und noch dies, eben bei Sieferle in "Finis Germania" gelesen:

"Die Welt will geheilt und belehrt werden; sie verlangt nach Rezepten und Wegweisungen. Das Beste, was man ihr aber anbieten kann, ist eine harte und klare Beschreibung ihrer Oberfläche."

Genau so etwas liefert dieser Beitrag.

Fuechsle

21. November 2018 15:25

Auf Isländisch heißt der Computer "Zahlenhexe",( tölva, ein Kunstwort)das trifft es ziemlich gut!! Die Isländer verzichten oft auf Anglizismen, sondern schöpfen originelle eigene Wörter für die Erscheinungen der Moderne!

Der Gehenkte

21. November 2018 15:33

Und die Hälfte der 0,1 Prozent liest hier mit - oder?

Man fragt sich allerdings, was Herr Spitzer - der in der Presse meist als technophober Spinner wahrgenommen wird - kritischen und aufmerksamen Menschen mitzuteilen hat, was diese sich nicht durch gesunden Menschenverstand und Beobachtungsgabe selbst längst erschlossen haben?

Zum wachen Blick: Es ist kaum zu glauben, wie wach der Blick der meisten Kinder wird, selbst wenn sie noch zu klein zum Laufen sind, wenn plötzlich so ein Ding vor ihnen flackert. Da wird auch etwas ganz tief Inneres, Archaisches angesprochen. Als Hobbypsychologe tippe ich auf das Lagerfeuer als evolutive Langphase.

Gegenwehr scheint mir freilich zwecklos (Aufmerksamkeit nicht) - das Handy gehört für diese Generationen zur Umwelt wie der Vogel (früher) auf dem Baum, wie das Haus und das Auto. Wer technische Entwicklungen nicht miterlebt, sondern in einen Endzustand (der freilich nur ein Zwischenzustand ist - diese jetzt nachwachsende Generation wird einst wehmütig ihren Kindern von den Handys erzählen und wie unkompliziert die Welt mit diesen einfachen Geräten doch damals noch war ....) hineingeworfen wird, der hat fast schon keine Chance mehr, den Kopf daraus zu erheben, die Sache abstrakt begreifen zu können.

Was umgekehrt zu dem Schluß führt: In welchem Mus rühren wir?

Rodericus

21. November 2018 20:07

Klar, in ,,Der Arbeiter" ist es der Typus, der durch seine überlegene Technizität die öffentliche Meinung bildet - in unserer Welt sind es die Demagogen der Kartellparteiendemokratie, die sich durch diese Technizität auszeichnen und diese durch die ,,Digitalisierung" noch bis ins letzte Kinderzimmer zu tragen suchen. Früh übt sich.

Egal ob man es nun Phonophor oder Smartphone, Punktamt oder Internet nennt: Die Technik ist und bleibt auch ein Machtmittel! Und nur weil ein Smartphone ein paar hundert Gramm wiegt, verliert es nichts von seiner plutonischen Macht - früher schaffte diese verwüstete Landschaften, heute sind es halt verwüstete Köpfe.

Es wäre natürlich interessant mal zu diskutieren, wie man mit dieser Entwicklung umgehen soll...

Tony

21. November 2018 21:46

Werte Leser,

Technologie ist in Form und Funktion gegossene Rationalität. Und da verwundet es nicht, daß das Ökonomische, ein Zwilling des Rationalen, so sehr auf das Fortschreiten der Technologie angewiesen ist. Geht doch technologischer Fortschritt, mit zunehmender „Rationalisierung“, Hand in Hand mit der Ökonomisierung (ergo Monetarisierung) sämtlicher Lebensbereiche. Das Wesen der Technik, in dessen sich der Geist der Zeit spiegelt, ist auch eine politische Frage. Eine Frage auf die es „rechte“ Antworten gibt, ja geben muß.

Wenn der „moderne Mensch“ Filter braucht um dem Informationsrauschen, welches uns allgegenwärtig umgibt, verdaubare Häppchen zu entlocken, so stellt sich doch die Frage, wer darüber entscheidet, was gesehen, gelesen oder gehört werden soll oder darf. Auch wenn die Technologie dem Menschen die Arbeit zunächst erleichtert, um sie ihm im nächstem Zuge wegzunehmen, welchen Preis kostet die erkaufte Bequemlichkeit?

Ernst Jünger schrieb einst: „Der Mensch neigt dazu, auf die Apparatur auch dort zu bauen oder ihr noch dort zu weichen, wo er aus eigenen Quellen schöpfen muß… Er muß die Punkte kennen, an denen er sich seine souveräne Entscheidung nicht abkaufen lassen darf.“

Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, daß Herr Spitzer über beeindruckende Kompetenzen verfügt, so muß die korrekte Anrede Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer, sein. Herr Spitzer hat die Auswirkung von der Nutzung und das Einwirken von digitalen Medien auf das menschliche Gehirn eingehend untersucht. Die Ergebnisse sind niederschmetternd und erhellend zugleich. Um seine Technologiekritik zu verstehen muß man wissen, daß das menschliche Gehirn kein statisches Gebilde darstellt, sondern höchst aktiv ist und sich permanent neu bildet und das meine ich durchaus in einem doppeldeutigen Sinne. Dieser Prozess der neuralen Genese ist es, der uns lernen läßt, Erfahrungen und Erinnerungen speichert und letztendlich die Persönlichkeit formt. Dieser neurale Formungsprozess, von rund 100 Millarden Nervenzellen die potentiell 10.000 Verbindungen eingehen können, ist auf äußere Einflüsse, als Formgeber, angewiesen. Die Natur als Bildhauer, der Mensch als ihr Kunstwerk. Doch was passiert wenn wir den Künstler, der nichts mehr fordert, austauschen?

In seinem Buch „Digitale Demenz“ stellt Hr. Spitzer sehr gründlich dar, wie sich digitale Medien auf unser Gehirn auswirken. Er geht darin unter anderem auf den „Google-Effekt“ ein. Dieser Effekt besagt, daß wir, da wir unbewußt wissen daß wir jede Information jederzeit abrufen können, uns Lerninhalte schlechter merken und die Gedächtnisleistung im Allgemeinen abnimmt. Ebenso sorgt die Informationsflut zu einer Überreizung und einer zunehmenden Abstumpfung bei der Aufnahme von Sachverhalten, was sich wiederum auf die Lesekompetenz und dem Auffassungsvermögen bei komplexeren Texten bemerkbar macht. Wenn der Mensch durch seine Umwelt „geformt“ wird, was sagt das über uns aus, wenn wir im Durchschnitt nur noch Sätze „tippen“ die höchstens fünf Wörter umfassen und dies auch noch für normal halten, uns also dessen Problematik noch nicht einmal bewusst sind. Den Rest erledigt dann wohl die automatische Rechtschreibkorrektur.

Aus eigenen Quellen schöpfen und souveräne Entscheidungen treffen! Sollte man die Menschen nicht daran erinnern? „Denn jeder Komfort muss bezahlt werden. Die Lage des Haustiers zieht die des Schlachttiers nach.“

Nemesis

21. November 2018 22:08

Ich habe Spitzers Buch nicht gelesen und weiß also nicht, ob er das thematisiert, würde jedoch gerne folgende Gedanken stichwortartig zum Beitrag beisteuern.

1. worüber ich mich schon länger Gedanken mache, ist über den zunehmenden Wegfall der Handschrift. Der handschriftliche Schreibvorgang als individuelle Signatur persönlicher Denk- und Ausdrucksweise, als jahrtausendealte Kulturtechnik. Ich vermute, daß das weitaus tiefer in die Persönlichkeit eingreift, als man gemeinhin so annimmt.

2. ständig verfügbares abrufbares Faktenwissen führt zur falschen Selbsteinschätzung. Ich nenne das mal Kompetenzillusion.

3. User = Nutzer = Anwender: Fixierung auf den rein ausführenden Part. Viele Menschen heutzutage sind nicht mehr in der Lage, auch nur ansatzweise nachzuvollziehen, wie die sie bestimmende Technologie funktioniert. Damit sind sie auch nicht mehr in der Lage
bei Ausfall entsprechend adäquat zu reagieren. Sie können es auch nicht, da die hochintegrierten Schaltkreise nicht mehr zugänglich sind. Es ist offensichtlich, daß daraus eine völlige Hilflosigkeit (oder besser Ausgeliefertheit) entsteht.

4. Das Problem der Bilder und Videofixierung: Der Wahrheitsgehalt wird nicht mehr in Frage gestellt.

5. Taktung: Die Maschinentaktung entspricht in keiner Weise der menschlichen Taktung.

6. Das Problem der falschen Sicherheit, in der man meint, über Quantifizierung (Datenmenge) Sicherheit zu bekommen.
Das führt zur Verwechslung der Modelle mit der Realität.

The purpose of computing is insight, not numbers
Richard Hamming

7. Verwechslung von wirklich benötigten, fundamentalen Gütern ( Essen, Wasser, Dach über dem Kopf, Beziehungen)
mit virtuellen.
https://www.mirror.co.uk/tech/zuckerbergs-viral-vr-picture-just-7422942

8. Die Angst abgehängt zu werden.

9. Bequemlichkeit

10. Geldgenerierung über neue Medien.

Curt Sachs

21. November 2018 22:26

"Es ist bezeichnend, daß die derzeit am meisten verbreiteten Geräte - Smartphones und Tabletts - keine Tastatur mehr haben. Es wird kaum etwas erstellt, Informationen werden konsumiert." -- Erstens haben sowohl Smartphones als auch Tablets immer auch eine Tastatur, eine Softwaretastatur. Und die wird, zweitens, auch regelmäßig genutzt, nämlich in -- oftmals langen -- Unterhaltungen über WhatsApp und dergleichen, also in Chats und Messengerapps. Oder, wie jetzt gerade, um Kommentare unter oberflächliche Artikel zu setzen.

"Mit dem Internet kam auch das Überangebot an Informationen. Es werden viel mehr Informationen angeboten, als wir erfassen können." -- Dieses Überangebot an Informationen kann nicht erst mit dem Internet, sondern existierte durch Druckerzeugnisse schon lange vorher.

"Der Durstende, der aus dem Feuerwehrschlauch nicht trinken kann, wird dankbar das portionierte Informations-Erfrischungsgetränk annehmen, dass ihm vom Staatsfunk gereicht wird." -- Oder ebenso von Alternativmedien wie der Sezession. Den auch diese ist portioniert.

"Die Angestellten kommen wie Zombies nach Hause – und jetzt noch Informationen filtern? Der Überarbeitete wird lieber nach dem leicht verdaulichen Meinungskonfekt der Leitmedien greifen." -- Der Arbeiter, der vor hundert Jahren und mehr von seiner Achtstundenschicht ( oder länger!) nach Hause kam, war sicherlich nicht weniger ausgelaugt als der heutige Angestellte, eher mehr.

"Moderne Computersysteme zur ganzheitlichen Unternehmenssteuerung wie SAP liefern „best practises“ - vorkonfigurierte Szenarien, welche nichts anders sind als vorgegebene „richtige“, also „alternativlose“ Wege." -- Sie liefern vor allem Wege, also mehrere Wege, und damit ja gerade Alternativen. -- Die Idee, dass der Mensch irgendwann anfange, binär zu denken, weil der Computer intern binär funktioniere, ist genau solcher Humbug (oder meinetwegen "magisches Denken") wie die Idee, dass der Mensch binär denke, weil er intern binär funktioniere. (Nervenzellen feuern entweder, oder sie feuern nicht.)

P. S. ad vulpeculam: Der Computer heißt auf Isländisch selbstverständlich nicht "Zahlenhexe". So ein Unsinn!

Simplicius Teutsch

21. November 2018 23:01

@Wiggo Mann.
„Warum wird diese Konsensmeinung so bereitwillig und so unreflektiert angenommen, warum befällt der „moralistische Hygienewahn“ (Götz Kubitschek) mündige Bürger und vernünftige Leute?“

Das ist kein digitales Problem. Man könnte erklärend mit Platons Höhlengleichnis anfangen, um zu verstehen, wie Meinungsbildungsprozesse verlaufen. Günter Scholdt hat das in seinem antaios-Buch "literarische musterung" treffend beschrieben: "Die Menschen in der Höhle sehen lediglich die vom Feuerschein geworfenen Schatten solcher Bewegungen und halten dies für die Wirklichkeit."

Eine Antwort hat auch schon der Engländer John Locke (1632-1704) gegeben:
„...Niemand, der die Sitten und Auffassungen seiner Umwelt verletzt, entrinnt der Strafe ihrer Kritik und ihrer Feindseligkeit. Nicht einer unter zehntausend Menschen ist so unbeugsam und so stumpf, so unempfindlich, dass er sich aufrechthalten könnte, wenn er in seinem Kreis nur auf Ablehnung und Unbeliebtheit stößt...“

Das Locke'sche Zitat habe ich verkürzt entnommen aus „Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale. Elisabeth Noelle-Neumann“. Das Buch ist ein einzige Fundgrube über die Isolationsfurcht, über die empfindliche soziale Haut des Menschen und über den gewaltigen Einfluss der Massenmedien auf die Bildung der öffentlichen Meinung.

Für den, der sich nicht aktiv ergänzend informiert und organisiert, wie wir es aber tun, z.B. hier digital im Internet, für den können die gleichgeschalteten, gleichschaltenden, konsonanten Massenmedien eine Pseudowelt in seinem Kopf erschaffen, auf deren Realität er schwört.

Und über das, was nicht berichtet wird, das existiert nicht (im Kopf des Medienkonsumenten).

Das Buch von Noelle-Neumann ist eine Handlungsanleitung für das herrschende politisch-mediale Regime. Und ich denke, sie, die derzeitigen Machthaber, nutzen u. a. die dort präsentierten Erkenntnisse über die Wirkung der massenmedialen Propaganda. Das ist mir schon lange klar.

Stefanie

22. November 2018 07:52

Ich kenne von Manfred Spitzer zu dieser Thematik das Buch "Cyberkrank", in dem er eine sehr ähnlich Argumentation verfolgt. (Er hat übrigens auch Bücher über das Lernen und Musikwahrnehmung aus neuropsychologischer Sicht geschrieben). Die Beschreibung der negativen Auswirkungen des Smartphone-Konsums ist sehr eindringlich und einleuchtend, aber auch etwas monokausal. Viele der beschriebenen Probleme, existierten vorher schon in anderer Form: z.B. der Gruppendruck unter Jugendlichen (z.B. bei Markenklamotten) oder der ausufernde Fernsehkonsum, der Kindern die Zeit für Bewegung und zum Schlafen raubt. Was neu ist, ist die Dauer der Ausgesetztheit und die Tiefe, mit der die digitale Wirklichkeit in die wirkliche Wirklichkeit vordringt - sei es im sozialen Leben, sei es beim Einkaufen oder den Einblick, den Firmen und Behörden in immer mehr Aktivitäten der Konsumenten dadurch nehmen können.
Nehmen wir zum Beispiel den Schlafmangel: das blaue, kurzwellige Licht stimmt einen morgens bei der Dämmerung auf den Tag ein. Sitzt man Spätabends vor einem Bildschirm, der dieses Lichtspektrum ausstrahlt, hat der Körper Mühe sich auf den Schlaf einzustellen. Dadurch verschiebt sich das Einschlafen immer weiter nach hinten, Schul-, bzw. Arbeitsbeginn sind zur selben Zeit, also baut sich ein chronischer Schlafmangel auf, dessen Folgen in dem Buch "Why we sleep -unlocking the power of sleep and dreams" von Matthew Walker, beschrieben werden. Nur fängt bei ihm das Dilemma nicht erst beim Smartphone an, sondern mit der Glühbirne. Er beschreibt ähnlich eindringlich und einleuchtend wie Spitzer - und ebenso monokausal -nur eben auf das Thema Schlaf und den Mangel daran fixiert. Besonders interessant is seine Schlußfolgerung: nachdem er all die Auswirkungen des modernen Lebensstils aufgelistet und kritisiert hat, wartet er am Ende mit einer technischen Lösung auf: durch die Verbindung von Smartphones mit dem heimischen Haustechnikkomplex soll abends, nach individuellem Schlafmuster, die Raumtemperatur gesenkt und das Licht stärker ins rötliche Spektrum verschoben werden, um den Übergang zum Schlaf leichter zu machen. Morgens sollen dann die Lampen mehr blaues Licht ausstrahlen, um das Aufwachen zu erleichtern. (Nebenbei: es gibt im Zierpflanzenbau eine sogenannte Cool-Morning-Strategie, bei der in den frühen Morgenstunden, bei dem blauen Licht der Morgendämmerung die Temperatur im Gewächshaus gesenkt wird. Dadurch wachsen die Pflanzen kompakter, ohne daß chemische Stauchungsmittel eingesetzt werden müssen. Neben der oben angesprochenen "Verhausschweinung", wäre dies also ein Schritt hin zur "Pelargonisierung" des Menschen.) Nun könnte man einwenden, wenn man in Kalifornien forscht, muß man ja auf solche Gedanken kommen. Aber eigentlich zieht sich das wie ein roter Faden durch die Geschichte: wenn es ein Problem mit der Technik gibt, sucht man nach einer Lösung durch technische Verbesserung.
Welche Möglichkeiten gäbe es sonst noch, um mit Zivilisationsproblemen fertigzuwerden? Eine altbewährte Strategie sind Fastenzeiten: der bewußte Verzicht auf scheinbar Unverzichtbares über mehrere Wochen, um dem Körper eine Ruhepause zu gönnen und wieder einen anderen Bezug zur Nahrung oder ähnlichem zu bekommen.

Franz Bettinger

22. November 2018 20:56

@Gehenkter:
Es gab schon immer auch Rückbesinnungen auf das Alt- Bewährte, Echte, Wesentliche. Ich erinnere mich an einen Mitschüler um 1972, bei dem zuhause kein Fernsehgerät existierte. Viele fanden das "cool", damals sagten wir "super". (Auch nicht besser, ich weiß). Wo dieser Schüler und seine vielköpfige Familie damals schon waren, kam ich erst erst 2015 hin. Die Hippies der 70-er Jahre sind ein anderes Beispiel des in Einigem gelungenen (in anderen Dingen eher misslungenen) Rückzugs aus der Moderne. Das Ganze wird sonst als Micro-Chip in der Hand enden. Wer will schon mit dem Großen Bruder verdrahtet sein?!

@Toni:
"Welchen Preis kostet die erkaufte Bequemlichkeit?" Das ist die Kernfrage. Antwort: Dem Dummen alles (digitale Demenz), dem Gebildeten fast nichts (homo ludens). Man wird trotz oder wegen "Google-Effekt" und "Kompetenz-Illusion" (Danke @Nemesis) weder ein guter Redner, noch ein guter Unterhalter. Wer hervorragen will, braucht immer das Langzeit-Gedächtnis, aus dem er schöpft. Ich empfehle jungen Menschen, ein Tagebuch zu führen, und dieses so ästhetisch und präzise wie möglich, als wolle man es einmal als Roman veröffentlichen. Das zwingt zur geistigen Schärfe, es macht Spaß und einen zum guten, kenntnisreichen Unterhalter (Redner). Wer vom Blatt oder vom PC abliest, hat schon (zur Hälfte) verloren. "Jeder Komfort muss bezahlt werden. Die Lage des Haustiers endet in der des Schlachttiers." Schöner Satz!

@Stefanie:
Die Hauptfunktion des Schlafes oder besser gesagt des Träumens ist, Erinnerungen zu speichern und Reaktionen zu planen ("ins Manöver ziehen", Planspiele exerzieren, sehen, wie's wäre, wenn ... ). Der Felskletterer erlebt im Traum, wie es sich real (!) anfühlt, wenn er abstürzt und auf den Boden aufschlägt. Der Schlaf von Kindern enthält, da für sie Vieles neu ist, 80% Träume (REM-Phasen), der von Erwachsenen noch 60%.

Carlos Verastegui

23. November 2018 16:22

Ach, dazu hatte ich jüngst einen Artikel

https://www.blauenarzisse.de/hoch-die-geduld-nieder-mit-dem-zeitalter/

Rodericus

23. November 2018 18:24

@Nemesis: Kompetenzillusion - vielen Dank für den Begriff, danach habe ich schon lange gesucht!

Interessant ist übrigens, dass auch der Papst sich, nachdem er Frau Kositzas Video in seinem Facebook-feed gesehen hat, zum Thema äußert:

,,Bezüglich der Macht der Technologie erklärte der Heilige Vater, dass diese die Freiheit bedrohe, "wenn sie nicht mit einer angemessenen Entwicklung der Verantwortlichkeit, der Werte und des Gewissens einhergehe. So verliert man den Sinn des Limits und das hat zur Folge, dass man die epochalen Herausforderung nicht mehr sieht, die vor uns liegen. Die Verabsolutierung der Technik kann sich gegen den Menschen selbst kehren."

Maiordomus

25. November 2018 06:09

@Curt Sachs. Altisländisch "voelva" ist eine Art Seherin, sicher nicht mit Hexe gleichzusetzen, eher schon Sibylle, und tala, noch mit gotischem Lautstand, Zahl, also ist der Computer die "Zahlensibylle", ein sehr schönes Wort. Für die Brüder Grimm war Altisländisch wie Lateinisch, Griechisch, Sanskrit usw. eine Basis zum Verständnis auch des Germanischen und des Deutschen. "Zahlenhexe" wäre natürlich eine saloppe, wertende Bezeichnung, so natürlich nicht!

Mariaschaab

28. November 2018 10:29

Es gehört zu den Mysterien der menschlichen (gefallen?) Natur, die Mysterien der menschlichen Natur mit äußeren bösen Einflüssen zu erklären. Und wenn es nicht der Teufel mit seinen Legionen ist, dann der Computer!
Wobei hier nicht die Existenz des Teufel angezweifelt werden soll, sondern die Fülle und die Reichweite seiner Macht über den Willen des Menschen. Dass er an den Schräubchen der menschlichen Natur zu drehen versteht, zeigt, dass er alles Gute als Böses erscheinen lässt. Erscheinen eben, er hat nicht die Macht es vollends zu verderben. Der Glaube, der Mensch lasse sich durch richtige oder falsche Einflüsse zum perfekten Wesen erziehen oder verderben, das ist zutiefst linkes/falsches/modernistisches Denken, das in seine Tasche spielt. Nein, der Mensch ist ein gefallenes Wesen in einer gefallenen Welt und alle Dinge die er baut sind davon gezeichnet, Pyramiden wie Smartphones.