Schönes
Günter de Bruyn: Der neunzigste Geburtstag. Roman, 272 S., gebunden, 22 €
Zugegeben: Was Schriftsteller der ehemaligen DDR betrifft, war Günter de Bruyn nie meine erste Wahl. Erwin Strittmatter (Ole Bienkopp, Der Laden), Erich Loest (Durch die Erde ein Riß, Die Westmark fällt weiter) oder Werner Bräunig (Rummelplatz), der tragische Fall aus Chemnitz, sagten mir mehr zu als der spätere brandenburgische Heimatautor de Bruyn, von dem lediglich die beiden autobiographischen Schriften Zwischenbilanz und Vierzig Jahre Eindruck hinterließen. Nun, als 92jähriger, legt de Bruyn jedoch ein Werk vor, das mit dem Potential beglückt ist, zum ostdeutschen »Neigungsroman« (Ellen Kositza) schlechthin zu werden. Jenseits der literarischen Größe und der vom Autor bewiesenen Sprachvirtuosität ist das Buch nämlich ein eminent Politisches; Kultur- und Establishmentkritik finden sich ebenso eingewoben wie süffisante Dialoge über den bundesdeutschen Wahn der letzten Jahre. Der neunzigste Geburtstag ist ein Heimatroman, aber kein nostalgisch-verklärender, sondern ein hochaktueller, kluger, nachdenklicher: ein Bekenntnis zum Eigenen, das innerhalb unserer Redaktion Kositza wie Kaiser gleichermaßen überwiegend beeindruckt zurückläßt. Nicht zuletzt diese Rarität macht deutlich, daß man es bei diesem Roman wahrhaft mit einem selten so gelungenen Wurf zu tun hat. – De Bruyn hier bestellen!
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Gutes
Wolfgang Pohrt: Kapitalismus forever/Das allerletzte Gefecht/Texte und Interviews 2011–2016 (= Werke, Bd. 10), 320 S., gebunden, 22 €
Mit demonstrativ zur Schau gestellter Verblüffung reagierte ein linkssozialisierter Freund, als ich gestand, von Wolfgang Pohrt, einem Ideologiekritiker mit unerschütterlichem Hang zur Polemik, bisher nichts gelesen zu haben. Gut, daß Anfang des Jahres in der Edition Tiamat Band 10 der Werke Pohrts erschien, mit zentralen Texten des einstmals »antideutschen« Soziologen. In diesen späten Schriften findet sich vor allem publizistisches Gegengift zu optimistischen Auslegungen kapitalistischer Krisensymptome: Wenn man meine, die immanenten Widersprüche führten zu einem mittelbar erreichbaren Ende des hoch flexiblen Systems, sei man, so läßt Pohrt es den Leser jedenfalls spüren, schlechterdings dumm. Pohrt stellt seinen – vorwiegend linken – Lesern daher spöttelnd die Frage, ob es nicht so sei, daß »die Gattung Mensch im Kapitalverhältnis zu ihrer artgerechten Bestimmung gefunden« habe. Kluge Passagen über Marx und die Marxismen wechseln sich ab mit bissigen Gegenwartsanalysen. Grundlegend deutlich wird Pohrts konservativ anmutende Desillusionierung, was Fortschrittsgläubigkeit betrifft: »Für ein funktionierendes Paradies braucht man Engel. Die Menschen sind keine.« – Pohrt hier bestellen!
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Wahres
Richard Millet: Töten. Ein Bericht, 143 S., broschiert, 16 €
Seit Beginn meiner Tätigkeit für den Verlag Antaios und die Zeitschrift Sezession ist das Werk des französischen Schriftstellers und Lektors Richard Millet ein Teil der Arbeit: Ich durfte ihn 2013 interviewen und in der Zeitschrift porträtieren, dann verlegten wir seine Verlorene Posten (2018: erweiterte Neuauflage!), nun konnten wir einen weiteren kleinen Schatz heben: Töten. Ein Bericht ist die schonungslose Darstellung Millets eigener Verwicklungen in den libanesischen Bürgerkrieg (er kämpfte dort auf Seiten christlicher Phalangisten), aber das Buch umfaßt mehr: Prägnante, luzide Essays zum »Islamismus als Verbündetem des globalisierten Kapitalismus« und über die mehr als nur akut bedrohten »Christen im Orient« machen nämlich unheimlich bewußt, was manch hiesigem Leser schwer vorstellbar schien: daß nämlich »der Westen« für geostrategisches Kalkül, ökonomische Verwertungsinteressen und kurzfristige Allianzen willfährig bereit ist, den Exodus der orientalischen Christen zu beschleunigen. Wenn in den heiligen Messen zum Weihnachtsfest wieder über »christliche Werte«, »Nächstenliebe« und die »Pflicht zur Hilfe« gepredigt wird, sollte man sich auch dessen ursächlich erinnern. – Millet hier bestellen!
Maiordomus
Günter de Bruyn war für mich ohne wenn und aber der am besten schreibende und zugleich glaubwürdigste Autor Deutschlands der späten DDR-Zeit. Eines seiner Meisterwerke: Die Biographie von Jean Paul Friedrich Richter, der damals auch parteioffiziell für die DDR vereinnahmt wurde. Eine Gnade, dass der Meister noch am Leben ist. "Töten. Ein Bericht" vermag mich umso mehr zu interessieren, weil ich erst dieser Tage in "Sternstunden der abendländischen Redekunst" von Ferdinand Urbanek den "Kreuzzugsaufruf an die Deutschen" von 1148 gelesen habe ebenso wie Fichtes 14. Rede an die deutsche Nation von 1808. Da würden mich natürlich mehr die Unterschiede interessieren als die Gemeinsamkeiten, siehe nach die entsprechenden Aufzeichnungen Ernst Jüngers zum einschlägigen Thema aus seinen Tagebüchern und Aufzeichnungen zum 1. Weltkrieg und zumal das 2. Pariser Tagebuch mit der in der deutschen Literatur präzisesten Beschreibung der Hinrichtung eines Deserteurs durch Erschiessung. Eine der unheimlichsten Partien in der Geschichte von Weltliteratur deutscher Sprache, was u.a. Heinrich Böll und Jürg Federspiel in diesem Sinn wahrgenommen haben.