Er hat auch das Feuilleton (fast) unisono erfreut. »Fulminant«, »politisch höchst relevant«, der »Roman zur Stunde«, lauteten die Würdigungen. Nun denn: Wir lesen in drei chronologisch gereihten »Büchern«, beginnend 2000, endend 2015, die Geschichte des Bruderpaares Philipp und Tobias.
Ihren Oberlausitzer Heimatort Neschwitz werden sie im Berichtzeitraum kaum verlassen. Zu Beginn sind beide im Kindergarten- und Grundschulalter, die Eltern sind gerade aus der Platte ins neuerbaute Eigenheim gezogen. Die Geschichte tröpfelt dahin wie eine jener filmischen Langzeitdokus, von denen man sagt, der Regisseur nehme sich »viel Zeit für lange Schnitte«. Mama, Papa, Oma, Opa, Einschulung, Eintritt in die weiterführende Schule, Essen, Garten, Holzeisenbahn.
Im zweiten Buch (»2004 – 2006«) beginnt die Ehe der Eltern zu bröckeln, Opa wird krank, einmal regt sich der Vater über einen zu dicht auffahrenden Polen auf der Autobahn auf, es gibt Spiele mit einer Pumpgun, ein junger Mann mit dem »seltsamen Namen« Menzel gelangt ins Blickfeld. Der soll – dabei bleibt er eine unkonturierte Gestalt – eine Art Kopf einer Art Naziszene darstellen. Das heißt: mäßig verkommene Dorfjugend, die sich zum Trinken trifft, gelegentlich politisiert (»Dumme Menschen und Ausländer pflanzten sich schneller fort als normale und überhaupt Deutsche. Seit Sarrazin konnte es endlich jeder lesen«), einmal Stunk anzettelt gegen die Asylbewerber auf dem Dorffest und gegen Ende des Buches gemeinsam zu PEGIDA fährt.
Im Rahmen eines Schülerwettbewerbs wäre diese Geschichte eine lobenswerte Leistung. Als Publikumsroman mit »tagesaktueller Relevanz« und schon gar als Hochliteratur ist es höchstens mäßig. Es fehlt jeder Tiefenblick – von »Spannung« nicht zu reden –, und sprachlich hapert es arg: Was soll uns im Rahmen dieser Langatmigkeit der Sekundenstil, diese hunderte Sätze ohne Verb, sagen?
»Begannen und endeten abrupt.« »Eine Frau, so alt wie Mutter, jünger.« »In den Nachbarhäusern noch Licht.« Und: Gibt es »matschige« Kastanien? Stinkt Feuer? Stinkt Obst? Stinken Kühe? Stinkt Marco? Wenn ja: wie genau? Und wenn »in den Wochen darauf das erste Mal Schnee« fiel – dauert das erste Mal also Wochen? Hat man in den Nullerjahren wirklich schon dauernd »alles gut« gesagt, und daß sich etwas »nicht richtig anfühlte«?
Die Wette gilt: Demnächst wird es Rietzschels Roman als »Schulausgabe« geben, erhältlich samt »Lehrerhandreichung« und »Lesetagebuch«. Die Beispielaufgaben, die dann über den vorgedruckten leeren Linien stehen werden, sind leicht aus dem Ärmel zu schütteln:
»Stelle Dir vor, Du bist ein / e Freund / in von Tobi. Du merkst, daß er Probleme hat. Was würdest Du ihm raten? ›Es braucht mal wieder einen richtigen Krieg‹, sagt Tobi. Was denkst Du dazu? Denkst Du, Tobi und Philipp sollten Menzel vertrauen? Begründe!«
Lukas Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen. Roman, München: Ullstein 2018. 320 S., 20 € – hier bestellen.
Franz Bettinger
Die armen Schüler! Sie werden den langweiligen Regal-Beschwerer gähnend weglegen und sich von Schule und Literatur für immer angeekelt abwenden. Vielleicht ist das ja gar die Absicht der Lobhudeler: wirkliche Bildung zu verhindern; das Gute, das es auch gibt, in einem Meer von Schrott zu ertränken. - Danke für die Warnung, Frau Kositza!