Daß jedoch namentlich Lehrer sich hingegen häufig als links verstehen, offenbart einen kulturellen Wandel dieser Berufsgruppe oder einfach den Opportunismus satter Gehaltsempfänger. „Linke“ sind längst saturiert, verbeamtet und durchweg Entscheidungsträger, zuallererst im Kultusbereich.
Es ist mittlerweile müßig, den Schwund literarischer Kenntnissen und den Verlust eines Lektürekanons zu bedauern, das Wegbrechen elementarer Kompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen ist problematisch genug.
Daß selbst Abiturienten nicht durchweg qualifiziert zu lesen und zu schreiben vermögen und dass immer weniger mathematisch-naturwissenschaftlich einem Ingenieurstudium gewachsen sind, ist mittlerweile durchweg Konsens der Kritik, ja wird als normal empfunden oder verdrängt.
Ist dennoch mal die Rede davon, heißt das Defizit einfach Fachkräftemangel. Professoren, die sich darüber echauffieren, welch aliterarische Erstsemester die Hörsäle fluten und Hilfe im Elementarsprachlichen benötigen, gelten schnell als „Grammatikfaschisten“.
Zu bedenken ist jedoch stets: Kinder und Heranwachsenden sind nicht verantwortlich für systembedingte Defizite. Sicher, wer über die Reife verfügt, sich eigene Maßstäbe zu setzen, wird sich in jedem Bildungssystem entwickeln.
Jedoch ist die Politik verantwortlich für inhaltliche und Strukturvorgaben. Diese wären – ein anderes Thema – mit wenigen, aber prinzipiellen Veränderungen besser einzurichten – mit dem Nebeneffekt, daß Unterricht mehr erfreute, weil er von interessanten und relevanten Inhalten seinen Ausgang nähme.
Man blättere die Deutsch-Lehrwerke durch, um verblüfft darüber zu sein, was für eine schwache Auswahl an Texten sie bieten. Lesebücher, die Generationen den Eintritt in die literarische Kultur einleiteten, werden schon lange nicht mehr gedruckt, ohne daß das Feuilleton dies je bemerkte; Literatur soll nurmehr „integral“ mitbehandelt werden.
Letztlich steht hinter der kulturevolutionären Umsteuerung der Pädagogik seit den Siebzigern im Westen und seit der Wende im Osten ein fragwürdiges rousseauistisches Menschenbild, mit dem die Linke einer politischen Anthropologie zum Durchbruch verhalf, die alle gesellschaftlichen „Grundvereinbarungen“ regiert:
Der Mensch ist gut, allen soll alles möglich sein, dem benachteiligten Schüler sogar noch mehr als dem von sich aus klugen oder fleißigen. Richtet man ihm nur die richtigen Verhältnisse ein, ist jeder Schüler erfolgreich; scheitert er, sind eben mangelhafte Umstände schuld.
Der Vorwurf, allein das soziale Herkunftsmilieu bedinge Erfolg oder Mißerfolg, gleicht einer kulturellen Sippenhaft. Jeder hat gesicherten Zugang zur Bildung, jeder darf wollen; alle Bildungswege sind durchlässig. Gut so. Es kommt also auf die Entwicklung von Haltung an. Diesen Begriff kennt die Pädagogik allerdings nicht mehr.
Um vermeintlich noch gerechter zu werden und sich noch weiter allen anzudienen, wird die gegenwärtige Schule von einer durchgriffigen politische Kampagne bestimmt, von der für sakrosankt erklärten „Inklusion“. Man verfolge achtsam eine sprachliche Veränderung in der Verlautbarungsrhetorik:
Je problematischer die Veränderung, um so positiver konnotiert der dafür generierte Begriff. Das funktioniert neben der „Inklusion“ – als vermeintlicher Kompensation der gefürchteten Exklusion – in ähnlicher Weise mit Heilsbegriffen wie „Weltoffenheit“, „Toleranz“, „Gendergerechtigkeit“ und „Europa“.
Mitunter scheint zudem das Bedürfnis durch, gerade das herausstellen zu wollen, was an sich schmerzlich vermißt wird. So finden sich neuerdings immerfort Worte wie „Empathie“, „Authentizität“ und „Vielfalt“ ventiliert, obwohl Einfühlungsvermögen und Echtheit rar sind und die immerfort beschworene „Buntheit“ – häufig ja im Narrenkleid – eher eine Uniformität im Sinne der oben angedeuteten politischen Anthropologie hervorbringt.
Zur „Inklusion“: Überall „Handicaps“, überall „Förderbedarfe“, „Förderstufen“, und „Nachteilsausgleiche“, überall neuerdings amtliche Diagnostiker, Spezialisten fürs beschädigte Leben, alle Sorten Gutachter und engagierte Ganztagspädagogen, die Trost und Segen darin sehen, die Kinder gefälligst ganztägig in der Schule zu internieren, um dort hinter Glas den totalen Zugriff auf sie zu sichern.
Der Schulschluß gegen 16.00 Uhr oder gar später entspricht heutzutage in etwa dem Tageschichtende der Elternschaft in früheren Jahrzehnten. Während jedoch Berufstätigen derzeit ein freies Arbeiten mit flexiblen Gleitzeiten und „Home-Office“ ermöglicht wird, während Betriebe und Büros immer mehr Raum gewähren und für Ausgleich und „Work-Life-Balance“ sorgen, beansprucht die Schule für Kinder einen vollen Arbeitstag und möchte sie aus Welt und Natur heraushalten, so als lauere da draußen das Böse.
Das Mantra, soziale Herkunft bestimme den Schulerfolg, verdächtigt die Reste bildungsbürgerlichen Milieus eines falschen Elitedenkens und unterstellt ihnen quasi unlautere Vorteile, setzt andererseits aber ärmere Familien in Richtung kultureller Asozialität herab, verbunden mit der Forderung, doch gerade deren unterprivilegierte Kinder besser der staatlichen Erziehung zu überlassen. Ganztags, klar.
Innerhalb der Dauervereinnahmung von Heranwachsenden arbeitet sich die Pädagogik als wohl zweifelhafteste aller Wissenschaften an der „Inklusion“ ab: Jedem verhaltensauffälligen oder limitierten Kind sein „Ticket“, dazu Konferenzen und Arbeitskreise, ein umfängliches Glossar an Zuschreibungsbegriffen und Kürzeln.
Dabei soll alles Schwierige und Defizitäre betont positiv klingen, und Sachverstand ist weniger gefragt als selbsterfüllende Prophezeiungen. Die Inklusionskampagne rekrutiert innerhalb einer eigens geschaffenen Inklusionsbürokratie allerlei halbwissenschaftliches Personal – vorzugsweise schulflüchtige Lehrer – für all die neuen „Institute“, die vermeintlich wissenschaftliche Grundlagen für letztgültige, im Wesen klar sozialistische Gerechtigkeits- und Menschenverbesserungsvorstellungen nachzureichen haben.
Dies dient einer moralisch auftrumpfenden Politik, die den flotter und hipper gewordenen Kapitalismus nun endgültig mit der Würde jedes Menschen versöhnen will. Offenbar geht es überhaupt wieder mal um den „neuen Menschen“. Er soll pädagogisch geschaffen werden, nicht durch Veränderung der sozialökonomischen Verhältnisse, sondern diesmal kraft Bildung.
Offenbar als finaler Akt der Aufklärung, der ermöglichen wird, dass der verbesserte Mensch dann selbstverständlich endlich und endgültig die Welt verbessert. Das Gute entwickelte geistesgeschichtlich stets seine eigene Monstrosität.
Man soll, so will es die Politik, all die „Handicaps“ gut finden, vor allem die gute Absicht erkennen, die in den Etikettierungen für LRS (Lese- und Rechtschreibschwäche), LimB („Lernen“ im mathematischen Bereich, also Rechenschwäche), ESE („emotionale und soziale Entwicklung“, also Entwicklungsstörung), und L (Schwerpunkt Lernen, also Lernschwierigkeiten) liegt.
Diesen Schwächen widmete sich früher die verdienstvolle, neuerdings politisch verpönte und über Dekret abzuschaffende Hilfs- oder Förderschule. Lern- und Entwicklungsstörungen, diagnostiziert in einer so hohen Zahl wie nie, sollen kein Malus mehr sein, sondern, im Gegenteil, eine tolle Chance. Kinder, „die anders sind“, bereichern Schule ganz im Sinne der ebenfalls als „bunt“ bejubelten „Heterogenität“.
Wer noch größere Mühen mit der Bewältigung des Schulalltags hat, der bekommt einen erwachsenen Schulbegleiter an die Seite, der sich ganztags um alle Belange kümmert. Diese Förderung „von unten auf“ wird aber nicht um eine gleichwertige Forderung der Leistungsstarken und echten Talente ergänzt; die Pädagogik wendet sich prioritär den schwächeren Schülern zu, denen sie alle nur möglichen Erleichterungen verschafft. Sehr komfortabel für diese Klientel. Wer hingegen klug und leistungsfähig ist, kann sich nur selbst fördern.
So, wie nach der jahrzehntelange Absenkung der Anforderungen und der inflationierten Bewertung seit den Nullerjahren immer mehr „Hochbegabte“ auffielen, die früher einfach als gute Schüler gut gefordert das Gymnasium absolvierten, führten betont antiautoritäre Aufweichungen innerhalb einer andererseits stark vereinnahmenden elterlichen und schulischen Fürsorglichkeit zu einer Verarmung der Sinnes- und Erlebniswelt.
Dies jedoch verursachte bislang ungewohnte „Auffälligkeiten“. Denn ADHS etwa, die „Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung“, war den Nachkriegsjahrzehnten als Diagnosebegriff noch unbekannt, weil sich der überdrehte Zappel-Philipp draußen frei austoben konnte. Gerade jenen quirligen Kindern hätte die Nachricht, Schule würde jetzt ganztägig „angeboten“, nicht als frohe Botschaft, sondern als Horrorvorstellung gegolten, denn aus der Schule wollte man – natürlicherweise – nach aller Pflicht vor allem raus.
Um im echten Leben seinen Spielplatz zu finden. Heute will sich die Schule – literarisch vielfach als Ort zwangsläufiger Frustration und Kränkung dargestellt – per se als glückliches Kinderland verstehen, in dem die Infantilisierung jedoch häufig bis ins Jungendalter betrieben wird. Schule verspricht derzeit einfach alles, ein soziales Paradiesgärtlein zuerst.
Die versteht dabei aber immer weniger für echte Befähigungen zu sorgen und streßt mit Quantifizierungen, sieht sich zum einen als Anstalt umfassender Beglückung, indem sie wohl freundlich umarmt, hält aber vor allem fest und ist sehr betroffen davon, wie viele Kinder psychiatrische Hilfe benötigen, weil sie an Depression und Ängsten leiden.
Allzu viele Versprechen führen nun mal zu allzu vielen Enttäuschungen. Angesagt wäre einfach Redlichkeit in dem, was man versprechen und was man halten kann. Damit wären nicht zuletzt die hohen Ziffern von Abbrüchen der Facharbeiterausbildung – in Mecklenburg über ein Drittel – und die Zahlen der Studienabbrecher – ungefähr durchweg ein Fünftel – zu reduzieren.
In Berlin-Neukölln bestehen unter sozialdemokratischer Kultushoheit derzeit nur 58 Prozent den Mittleren Schulabschluss, dessen Anforderungen immer weiter reduziert wurden. In Mecklenburg-Vorpommern verlassen knapp zehn Prozent die Schule gänzlich ohne Abschluß, in Sachsen-Anhalt 11,4 Prozent. Faustregel: Je grüner und sozialdemokratischer die Schulpolitik, um so geringer die Befähigungen der Absolventen.
Wenn man zudem nicht sogleich, wie in allerlei „Screenings“ und Vergleichsarbeiten üblich, Kognition und Sprache zu vermessen beginnt, fallen die Defizite eher außerhalb der rein behavioristischen Betrachtungen auf. Sie sind alltagskulturell verursacht. So fehlt es Kindern vor allem an Ruhe, an Muße und an Besonnenheit.
Das phänomenale Smartphone etwa ist nicht allein Werkzeug, sondern ein fetischisierter Stressor, indem es eine nulligen Dauerkommunikation zu erzwingen scheint oder in permanenter Selbstbespiegelung zum Narzißmus-Medium schlechthin avancierte.
Interessante Gegenläufigkeiten: Während mit dem Smartphone jederzeit das Weltwissen zur Hand wäre, wird die Allgemeinbildung geringer; und obwohl das Gerät über all die einzutippenden Botschaften intensiv in die Schriftsprache hineinzwingt, so daß wohl nie so viel geschrieben wurde wir derzeit, retardieren Schreib- und Sprachvermögen.
Wer vermag sich gründlich auf ein Bild, auf ein Musikstück oder auch nur ein zurückgelehntes, aber geistreiches Gespräch einzulassen? Wer pflegt seine Handschrift? Wer trainiert noch stundenlang in einem Sportklub? Wem gelingt wirklich aufmerksame Zugewandtheit, die sich dem anderen widmet, mehr als dem permanenten Tuning des eigenen Outfits und „Performens“?
Wer noch widmet sich geduldig einem Text, gar einer Aufgabe oder einem Problem, in das er sich verliert, schöpferisch oder zweckfrei, je nach dem. Man stelle sich die Jugend heute beim Lesen von Karl May oder einfach nur beim Skatspielen vor. Beinahe undenkbar.
Nein, Themen und Aufgabenstellungen sollen hip und cool sein, so kurzweilig wie kurzläufig, das Layout der Bücher und Arbeitsblätter kunterbunt aufgescheucht, um sich so einem für jugendlich gehaltenen Geschmack der nervösen Flash-und-Action-Kids anzudienen. Man vergleiche Lehrbücher der Fünfziger und Sechziger mit den gegenwärtigen. Welch ein Vermögen zur Kontemplation wurde da früher vorausgesetzt!
Langseitige Texte, nur ab und an eine gut ausgewählte Illustration, Ausdauer erfordernde Lektüre, während der Lehrer heute gehalten ist, sehr schnell neue Reize zu setzen, weil er nicht mehr nur mit dem Fernsehen konkurriert, das mittlerweile beinahe als Hochkultur gelten könnte, sondern mit Extremreize produzierenden Maschinen wie Spiele-Konsolen und allerlei stressigen Apps. – Früher war einfach nichts wegzuklicken; heute hingegen müssen gerade Lehrer es hinbekommen, nicht als erstes weggezappt zu werden.
Welcher Abiturient, welcher Student vermag noch die gedankliche Geduld aufzubringen, etwa einen ausführlichen Beitrag des F.A.Z.-Feuilletons durchzulesen? Wer überhaupt versteht solche anspruchsvollen und Überblick voraussetzenden Beiträge, nachdem er eine Schule- oder Bachelor-Ausbildung durchlief, in der das „exemplarische Prinzip“ galt?
Was immer man von der politischen Ausrichtung der deutschen Qualitätspresse halten mag, darf man von ihrem Format, Umfang und Anspruch doch erstaunt sein, insofern sich die deutsche Schule kaum mehr in der Lage zeigt, die Leser für diese Zeitungswelt auszubilden.
Richtet man jedoch die Aufmerksamkeit nicht sogleich auf den Intellekt, sondern auf die Entwicklung der Sensualität, wird man fragen, was von einem Kind zu erwarten ist, das in der sterilen Umgebung einer Baukasten-Eigenheimsiedlung und verschnallt auf dem Rücksitz eines SUV aufwächst.
Es entbehrt der wichtigen Reize, derer Seele und Hirn bedürfen, um entwicklungspsychologisch zur rechten Zeit ausgeformt zu werden. Was bekommt ein Kind in den Blick, was hört, riecht und schmeckt, was erlebt es? Abenteuer, Herausforderungen, Bewährungen? Wohl kaum. Wann kann es stolz auf sich sein?
Wenn es mal wieder den Geschirrspüler ausgeräumt oder beflissen den Hausmüll getrennt hat? Gut, nach wie vor werden viele zum Instrumentalunterricht oder zum Pferdehof gekutscht. Aber wird noch vorgelesen, wird durch den Wald gestreift? Kochen Mädchen noch mit ihren Müttern? In welcher Werkstatt kann man noch mitschrauben? Wo übt man sich mit Maschinen? (Um von Waffen mal lieber gar nicht zu reden.)
Gibt es die Bolzplätze noch, wo sich Jungen selbst überlassen waren? Wo denn probieren sich Heranwachsende jenseits der durchinszenierten und gefahrlosen Projekte aus? Wo ist überhaupt noch Freiheit außerhalb der Dauererziehung und Big-Brother-Beobachtung durch Eltern und Pädagogen in einer Zeit, in der schon jüngste Kinder „Termine“ haben.
Offenbar gilt zudem gerade das Elementare und Ursprüngliche – durchaus im Sinne der Urelemente Erde, Luft, Feuer und Wasser – als zu gefährlich, während doch urige Erlebnisse mit dem Elementaren der weiteren „Verhausschweinung“ (Konrad Lorenz) entgegenwirkte.
Der_Juergen
Wunderbar; alles ist richtig. Ist der Autor der Ansicht, im Rahmen des heutigen Systems lasse sich diese Misere beheben? Seine Meinung dazu würde mich interessieren.