An diesem Haupt-Satz des Grundgesetzes mißt sich die Republik. Ihr Selbstverständnis, ihr ganzer Glaube hängt daran. Jeder meint diese Maßgabe – irgendwie – zu verstehen, in der Weise, daß nicht an etwas gerührt werden dürfe, was besser unverletzt und unangetastet bliebe – die Würde.
Was immer das sei. Man weiß, der Sozialkundelehrer redete stets so ergriffen und eindringlich davon, leitete jedoch nichts her, insofern es ihm eher um ein Bekenntnis ging, wie überhaupt ja meist. Bekenntnisse aber wollen gerade nicht hergeleitet sein, man soll sie glauben, zu ihnen stehen, sie wiederholen, sie bejahen, mehr besser nicht. -
Während das Adjektiv unantastbar sogleich eingängig erscheint, läßt sich das Nomen Würde ungleich schwieriger bestimmen. Die Bürger jedenfalls, die bewußteren, empfinden und bejahen, daß auf einen Kern ihrer Persönlichkeit jeglicher Machtzugriff und gar jede Willkür verwehrt bleiben sollten, weil das – als Akt der Entwürdigung – verwerflich wäre.
Was aber ist dieser nucleus, also das, was unverletzt bleiben soll, aber eben doch andauernd verletzt wird? Christliches bzw. mittelalterliches Denken würde hier wohl vom göttlichen Funken, von Gottes Schöpfungskern in uns sprechen, der den Einzelnen mit dem Höchsten verbindet und daher aus jedem von uns ein Geschöpf der besonderen, ja der geheiligten Art kreiert, ausgezeichnet mit der dignitas, gar der vermeintlichen Ebenbildlichkeit mit Gott. Per se? Ja, offenbar per se! So wie heute jedem per se Würde zukommen sollte. Heißt es.
Die Aufklärung nimmt diese dignitas hominisin moderner Weise auf, indem sie sie ins Abstrakte konvertiert, und zwar als einen sittlichen bzw. moralischen Wert an sich, der uns zukäme, weil wir befähigt scheinen, unsere rohe Triebnatur kraft unseres Geistes zu beherrschen und – nach Schiller – bis zur Anmut, dem höchsten Grad der Würde, zu verfeinern.
Immanuel Kant sieht bekanntlich in der Vernunft des Menschen die Grundlage dafür, sich selbst, also „autonom“, ein eigenes Gesetz im „Reich der Zwecke“ zu geben, das sich den sonstigen Kausalzusammenhängen entzieht. In diesem „Reich der Zwecke“ habe alles entweder einen Preis oder eben Würde.
Als „Zweck an sich“, so Kant, darf der Mensch aber keinesfalls nur relativen Wert haben, der durch andere Zwecke aufgehoben würde. Insofern ihm also die Fähigkeit zukommt, autonom in Leitung der ihm innewohnender Vernunft moralisch gut zu handeln, wird ihm Würde zugeschrieben, der wiederum von außen obligatorisch die Freiheit gewährt sein muß, willkürfrei vernünftig und gut zu handeln, wenn der Mensch das freiwillentlich als vom Kategorischen Imperativ gedeckten Vorsatz – als Maxime – so gefaßt hat.
Das moralisch Lautere qua Vernunft zu tun, gut handeln zu wollen, daran aber durch äußere Willkür gehindert zu werden, obwohl der Kategorische Imperativ die Maxime zur guten Handlung als guten Willen bejahte, das wäre entwürdigend.
Dies alles ist nicht nur schwierig, weil es u. a. neben der fraglichen Existenz der Vernunft gesichert auch einen bedingt freien Willen voraussetzt (“unabhängig von [den] Naturursachen […] etwas hervorzubringen […], mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen”), sondern – in diesem fragilen Konstrukt – nicht allen klar, die allzu pauschal den ersten Satz des Grundgesetzes fortlaufend wie einen Werbeslogan aufrufen.
Und letztendlich mag die Würde eine Art Statthalterschaft der Vernunft für eine sehr wichtige Herrschaft sein, die früher Gott zukam. Daß die vermeintliche Vernunft, daß der Mensch aus sich heraus zur Moral befähigt wäre, wird von Philosophen theologischer Prägung arg bezweifelt, etwa von Emil Brunner, der auf eine theonome Ethik setzt, insofern das Moralische selbst nicht in der menschlichen Natur läge, sondern stets des Höheren bedürfe.
Er ruft Nietzsche, Hitler und Mussolini als Beispiele dafür auf, wohin der Mensch käme, wende er sich von Gott ab. Mit Dostojewski geraunt: „Wenn Gott tot ist, dann ist alles erlaubt.“ Sehen wir uns um und prüfen, wie weit menschliche Vernunft denn reicht.
Etwas simpel ausgedrückt: Dort, wo das göttliche Fünkchen weste, waltet, so die Aufklärung, die Vernunft. In jedem? In jedem, mindestens potentiell, so die Aufklärer. Tatsächlich steht und fällt mit der vermeintlichen Vernunft und der daraus resultierenden Zuschreibung von Würde viel, anthropologisch und politisch, so daß die Bestimmung des Menschen des Begriffes der Würde wohl mindestens im Sinne eines Als-ob bedarf.
Nicht nur jeder Übergriff auf die vermeintliche Würde des Menschen gilt als tabu, sondern ebenso die Infragestellung der Existenz der Würde selbst.
Der mittelalterliche und vormoderne Mensch kennt religiös die Gnade und die Verworfenheit, er weiß sich bei Gott, erschrickt aber vor der Gottlosigkeit, mindestens die Lasten von Schuld und Sünde sind ihm stets gegenwärtig.
Er weiß, daß er fehlgehen kann, während der moderne Mensch oft kurzschlüssig meint, er könne prinzipiell sein Heil, die Würde, nie verlieren, da sie ihm im Sinne eines unverlierbaren, nie und nimmer abzusprechenden, abzuerkennenden und beinahe neurologisch aufzufassenden „Bios“ eigne, ebenso wie die Tatsache, daß er nun mal zur Gattung Mensch gehört. Der Mensch ist in der Lesart der Aufklärung ohne das Attribut der Würde schlechterdings nicht zu denken.
Arthur Schopenhauer hielt nicht nur die um den Kategorischen Imperativ herum entworfene Ethik Immanuel Kants für eine „verlarvte theologische Moral“ und somit den Imperativ selbst für einfach nur ein Gesetz mehr, an das der Mensch sich nun halten könne oder eben nicht. Einen unbedingten Wert im Reich der Zwecke konnte Schopenhauer nicht erkennen:
„Nicht besser steht es mit dem ‚absoluten Wert‘, der solchem angeblichen, aber undenkbaren Zweck an sich zukommen soll. Denn auch diesen muß ich, ohne Gnade, als contradictio in adjecto stempeln. Jeder Wert ist eine Vergleichsgröße und er steht sogar in doppelter Relation: denn erstens ist er relativ, indem er für jemanden ist, und zweitens ist er komparativ, indem er im Vergleich mit etwas anderem, wonach er geschätzt wird, ist. Aus diesen zwei Relationen hinausgesetzt, verliert der Begriff Wert allen Sinn und Bedeutung. Dies ist zu klar, als daß es noch einer weiteren Auseinandersetzung bedürfte.“
Er unterzog folglich den Schlüsselbegriff der Würde einer Revision:
Allein dieser Ausdruck Würde des Menschen, einmal von Kant ausgesprochen, wurde nachher das Schiboleth aller rat- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel an einer wirklichen oder wenigstens doch irgendetwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenen imponierenden Ausdruck Würde des Menschen versteckten, klug darauf rechnend, daß auch ihr Leser sich gern mit einer solchen Würde angetan sehen und demnach damit zufrieden gestellt sein würde.
Schopenhauer, der im übrigen die Willensfreiheit völlig verwirft und den Menschen nur nach seinem jeweils stärksten Motiv und aus seinem charakterlichen Wesen heraus zwangsläufig handeln läßt „Operari sequitur esse!“) , unterstellt Kant, der hätte aus anthropologischem Wunschdenken heraus etwas Gefälliges konstruiert und das Moralische sowie die Würde eher in den Menschen hineinprojiziert.
„Doch hat alles dieses weder ihn noch das Publikum über den wahren Zusammenhang der Sache enttäuscht: vielmehr freuten beide sich, alle diese Glaubensartikel jetzt durch die Ethik (wenngleich nur idealiter und für einen praktischen Zweck) begründet zu sehen.
Denn sie nahmen treuherzig die Folge für den Grund und den Grund für die Folge, indem sie nicht sahen, daß jener Ethik alle diese angeblichen Folgerungen aus ihr schon als stillschweigende und versteckte, aber unumgänglich nötige Voraussetzungen zugrunde lagen.
Wenn mir jetzt, am Schluß dieser scharfen und selbst den Leser anstrengenden Untersuchung, zur Aufheiterung, ein scherzhaftes, ja, frivoles Gleichnis gestattet sein sollte; so würde ich KANTEN, in jener Selbstmystifikation, mit einem Mann vergleichen, der, auf einem Maskenball, den ganzen Abend mit einer maskierten Schönheit buhlt, im Wahn, eine Eroberung zu machen; bis sie sich am Ende entlarvt und zu erkennen gibt – als seine Frau.“
Nur im Ausblick: Schopenhauer setzt Kants deontologischer Ethik seine Mitleidsethik entgegen und regt darin u. a. an, den Menschen eben gerade nicht nach dessen Wert und Würde anzuschauen, sondern einfach in seinem allgegenwärtigen Leid.
Nur dort würde man sich ihm verwandt fühlen und dann nicht aus Bosheit und nicht egoistisch handeln, insofern man ausnahmsweise nicht den eigenen Motiven folgt, sondern jenen des leidenden anderen, dessen Wesen man quasi in einem mystischen Akt aber gleichsam als das eigene erkennt. Das ist nachvollziehbar, läßt sich freilich nicht staatstragend einbringen, weil Mitleid nun mal nicht verordnet werden kann, sondern sich je nach Individuum eben zeigt oder nicht. -
Was fangen wir nun damit an?
Folgen wir einfach der kantischen Forderung der Aufklärung, den Mut zu haben, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen. So wäre zu bedenken, daß es zwar sehr gut sein kann, daß es sich ethisch, juristisch und politisch angenehm umgänglich mit dem Begriff, mit der Zuschreibung, der Projektion von Würde leben läßt, daß aber kühlen Blicks bedacht sein möge:
Dabei handelt es sich zunächst um ein Als-ob. Wir können vereinbaren, daß der erste Artikel des Grundgesetzes gelte, wir dürfe es hoffen, wir können diese Annahme exekutiv und judikativ aufrüsten und den Sozialkundelehrer verkünden lassen, daß dem Menschen Würde eigne, die nicht angetastet werden darf, aber wir sollten sehen, daß die Würde, wenn es sie gibt, leider eben nicht unantastbar ist, weil sie auf der Welt und hierzulande in vielfältiger Weise und durchweg aufs unwürdigste angetastet wird, es sei denn, man schaffte einen bewehrten Schutzraum, in dem möglichst nach diesen anzuerziehenden, zu prägenden und zu sanktionierenden Vereinbarungen gehandelt würde.
Wo aber handelt der Menschen über einen vereinbarten Raum und abseits wirksamer Institutionen würde- oder respektvoll? Wo ist geschützt, was wir uns als Würde wünschen? Wo in Zaire, wo in den Elendsquartieren, wo in Clan-Regionen Neuköllns oder Dortmunds?
Lediglich dort, wo ganz im Sinne von Thomas Hobbes’ Leviathan eine Macht waltet, die Sicherheit garantiert, die die Menschen miteinander leben läßt, ob ihnen selbst nur Würde zukommt oder nicht. Die Gefahr liegt in der Annahme, der Mensch handele aus sich heraus moralisch und würdevoll.
Das mag er tun. Wenn er das Zeug dazu hat, wenn er, aus welchen Gründen auch immer, zu einer halbwegs ethisch intakten Persönlichkeit herangewachsen, herangebildet ist. Vielfach und vielerorts geschieht das in der „bunten“ Welt aber nicht. Gerade Rousseaus Auffassung vom „guten Wilden“ führt auf unsicheres Terrain.
Seiner Natur nach ist der Mensch nicht sicher, im Ethischen schon gar nicht; er bedarf, siehe Arnold Gehlen, der Kultur und damit der stabilen Institutionen, um überhaupt zum Guten befähigt zu werden. Dort erst besteht bedingt die Chance für „Menschlichkeit“.
Tobinambur
Der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ rief schon immer Kopfschütteln bei mir hervor. Es ist ein deskriptiver Ist-Aussagesatz, kein deontischer Sollen-Satz. Folglich beginnt das Grundgesetz mit einer Lüge. Man hätte das GG auch mit dem Satz beginnen können: „Der Mond ist aus grünem Käse“, denn der hat den gleichen Wahrheitswert. Was soll also diese Fake-Verfassung? Sie sollte wohl – das unterstelle ich ihren Gründervätern – etwas gutes und sinnvolles bewirken, aber wie so oft ist das Gegenteil auf kürzerem Weg erreicht: Wer auf Realitätsverweigerung baut, indem er einen unwahren Satz zum Prinzip macht, kann nicht erwarten, dass daraus praktische Handlungen für den Umgang mit der Realität folgen. Die heutige Hypermoralrepublik ist aus dieser Perspektive unausweichlich gewesen. Denn was nicht sein kann, das nicht sein darf!!! Da kommt die Moral in großen Schritten. Was wäre die Alternative? Eine Verfassung, die das Zusammenleben mit minimalistischen Regeln (und so lokal wie möglich: Subsidiarität, Familie, Volk/Nation) vor den Extremen der inneren und äußeren Gewalt schützt und dazu Institutionen bereitstellt, deren Funktion es ist, dies zu garantieren (siehe Hobbes, siehe Gehlen). Ansonsten sollte man die Menschen in Ruhe lassen. Aber das erfordert das Funktionieren von (rückwärts buchstabiert) Volk/Nation… Familie … Individuum. Wenn wundert’s, dass die Dekonstruktion mit dem Volk beginnt, die Familie in ihrem Malstrom erfasst und das Individuum als geschlecht-, familien- und volklose Stoffwechselmaschine zurücklässt, oder wahlweise: Produktions- und Konsumtionsmaschine. PS: Gut geschützt vor Feinstaub u.ä.