Wir waren im Südharz unterwegs bei bestem Wanderwetter, und es kamen uns eine Menge Leute entgegen, Familien mit Kindern, Wandergruppen, ältere Ehepaare – der gute Durchschnitt, der sich nicht in Museen mit moderner Kunst herumtreibt oder mit Sonnenbrille über dem Haaransatz auf der Sonnenterrasse eines In-Cafés abhängt und ein bißchen am Laptop arbeitet.
Um es kurz zu machen: Wir waren dort, wo der Norden Thüringens in den Südwesten Sachsen-Anhalts übergeht, und jeder erkannte Höcke. Wirklich jeder. Jeder erkannte ihn, jeder vierte hatte ihn auf einer der über 300 Thüringer Bürgerdialoge schon einmal persönlich erlebt, jeder dritte wollte ein Autogramm, jeder zweite ein Selfie.
Einen Satz habe ich mir gemerkt, ein Familienvater sagte zu Höcke, während er und seine Frau ihn einrahmten und der Sohn das Bild knipste: “Ich hoffe mal, Herr Höcke, Sie holen noch was für uns raus! Sonst geht alles den Bach runter.”
So etwas nennt man Popularität, und Höcke ist ein Populist in dem Sinn, wie es Alexander Gauland in seinem Artikel über den Populismus in der jüngsten Sezession beschrieben hat.
Populismus kann einem unheimlich sein, wenn man nicht anders kann als daran zu denken, daß Leute, die auf einen Politiker setzen, weil sie große Sorgen haben, “verführbar” sind. Sind sie, keine Frage, aber diese Verführung ist nur dann eine, wenn jemand die Macht, die er in die Hand bekommt, mißbraucht.
Macht kann man aber schlicht auch dafür einsetzen, etwas für diejenigen “rauszuholen”, die sich nicht so flott übers Lebensparkett bewegen können wie die grüne Community in Berlin, München, Freiburg, Hamburg und Tübingen oder die flexiblen, smarten, immer leicht zynischen Cuckservatives in Tübingen, Hamburg, Freiburg, München und Berlin.
Das ist, simpel ausgedrückt, das Programm “America first” von Trump: denjenigen Alltags‑, Berufs‑, Lebens- und Bildungssicherheit zurückzugeben, die nichts anderes können (und vor allem wollen), als dort zu leben und zu arbeiten und vor allem zu Hause zu sein, wo sie sind.
Diese Leute sind im Schnitt weder so geschmeidig und gebildet, noch so vorzeigbar und fassadig wie die Gewinner unserer Gesellschaftsentwicklung, aber sie sind sehr zahlreich und “der Liebe wert”, wie Georg Trakl das ausdrücken würde. In Frankreich trägt ein Teil von ihnen gelbe Westen, in Rußland stecken sie den Veteranen Blumen an den Kragen und zwischen die Orden, in Deutschland stellen sie die komplette Freiwillige Feuerwehr.
Sie können mit fast allem Bierflaschen öffnen, waren noch nie vegan und noch nie bei den Donaueschinger Musiktagen. Sie können ruppig sein, aber sie sind keine Nazis, und wer das trotzdem behauptet, ist ein Depp oder ein politischer Lückenpresser. Sie haben keinen Plan B und können sich nicht mal eben flott verpissen, wenn die Konsequenzen verfehlter Politik anrollen wie eine Tsunamiwelle. Sie wohnen dort, wo diejenigen ankommen, die von denen ins Land gejubelt werden, die woanders wohnen.
Die Masse, die kleinen Leute, die AfD-Wähler: Sie wollen ihre Ruhe und ihre Arbeit und ihren Ausdruck – keine reglementierte, keine wechselnde, keinen vorgeschriebenen.
Warum ich so weit aushole?
Weil mein alter Freund und Weggefährte Dieter Stein in seiner Zeitung gegen Björn Höcke einen Text abgefeuert hat, der unter aller Kanone ist.
Es geht darin um Höckes Buch Nie zweimal in denselben Fluß, das der JF-Stammautor Sebastian Hennig zusammen mit Höcke erarbeitet und zu dem der Tumult-Herausgeber Frank Böckelmann ein schönes und überraschendes Vorwort beigesteuert hat. Erschienen ist dieser sehr interessante Gesprächsband bei Manuscriptum (Klammer auf: Ich empfahl Höcke vor zwei Jahren, nicht in meinem Verlag zu publizieren, sondern das Feuilleton zu überraschen, Klammer zu).
Was macht Sebastian Hennig nun? Ist Böckelmann ein Tölpel? Ging es dem Verleger nur um die Kohle? Ist dieses Buch der Keil, der die AfD spalten oder in die Marginalisierung treiben wird?
Klingt schwer danach, der Stein. Er liest dieses Buch so, wie ein antifaschistischer Stellen-Markierer es nicht besser lesen könnte. Das ist ein starkes Stück! Er lastet Höcke den Unfrieden in der AfD an. Wie oft denn noch? Er macht sich über ihn lustig. Das ist schäbig.
Was bezweckt er damit? Ist ihm Höcke nicht fein genug? Ist ihm sein manchmal “dissonantes Pathos” (Kubitschek) peinlich? Ist es ihm peinlich, daß er sich auf dem Weg in die Bundespressekonferenz rechtfertigen muß, weil er mit Höcke in einen Topf gerührt wird? Sind ihm die kleinen Leute peinlich, die Grobiane, die Biertrinker, die Pegidagänger, die lauten Menschen, die Menschen ohne Bücherschrank? Ist Berlin, ist die “Nähe zur Macht” so anders?
Stein (und damit: seine Zeitung) setzte auf Lucke – und verlor, weil Lucke unfähig war, das grundsätzlich alternative Bedürfnis seiner Parteibasis zu erkennen; Stein setzte auf Petry und Pretzell – und verlor, weil er unfähig war, das gesunde Mißtrauen der AfD-Basis gegen Allüren richtig einzuschätzen.
Und nun? Auf wen setzt er jetzt? Wem will er voranhelfen, indem er Höcke zu demontieren versucht? Gibt es da einen Namen, wird da einer in Stellung gebracht gegen jemanden, der bewußt nicht in den Bundestag ging, sondern nun in Thüringen etwas “rausholen” will und wird?
Kennt Stein den Begriff “Glashaus”? Er klaubt Steine zusammen:
Höcke nimmt in Kauf, in Ton und Wortwahl abgründige und abstoßende Assoziationen zu wecken – weil er sich absichtlich unklar ausdrückt. So formuliert er, daß mit der bald ins Haus stehenden „Wendephase … harte Zeiten“ bevorstünden, denn: „Um so länger ein Patient die drängende Operation verweigert, desto härter werden zwangsläufig die erforderlichen Schnitte werden, wenn sonst nichts mehr hilft.“
Die politische Führung habe dann „schwere moralische Spannungen auszuhalten“: „Sie ist den Interessen der autochthonen Bevölkerung verpflichtet und muß aller Voraussicht nach Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigenen moralischen Empfinden zuwiderlaufen.“ Bei einem notwendigen „großangelegten Remigrationsprojekt“ ließen sich „menschliche Härten und unschöne Szenen nicht vermeiden, für die „wohltemperierte Grausamkeit“ notwendig sei, ein Begriff den Höcke sicherheitshalber bei Peter Sloterdijk ausgeliehen hat.
Na, immerhin Sloterdijk, und auch das hat Stein nicht selbst aufgegabelt, sondern bei Jasper v. Altenbockum abgepinselt, dessen Beitrag “Höckes Spiel mit der Grausamkeit” vor vier Tagen erschien. Will da vielleicht jemand zeigen, daß die Blattlinien aus Frankfurt und vom Hohenzollerndamm keine Parallelen sind, die sich erst in der Unendlichkeit kreuzen, sondern Linien, die bei Erfurt ein Fadenkreuz bilden?
Stein: Er hätte seine Steine auch in Richtung Karlheinz Weißmann werfen können, der soeben sechzig Jahre alt geworden ist und den Ruf genießt, ein an Schmitt geschulter Dezisionist zu sein, also (um es auf der Ebene der Freiwilligen Feuerwehr auszudrücken) einer, der nicht viel quatscht wo entschieden und gehandelt werden muß.
Das Machen-Müssen, Durchgreifen-Müssen, die Schnauze Hinhalten-Müssen hat Weißmann stets in einer Mischung aus Fasziniertheit, Einsicht in die Notwendigkeit und einer Ahnung von geschaufeltem Dreck betrachtet – etwa in einem leider nicht mehr online verfügbaren Gespräch, das der JF-Vordenker mit Petrys “Blauem Kanal” führte und in dem er unter anderem erklärte, man müsse alle nicht-integrierbaren wieder außer Landes schaffen.
Gehen die dann alle brav mit dem Köfferchen in der Hand, freiwillig – oder vielleicht erst dann, wenn ihnen diejenigen mit den dünnen Armen, linken Daumen und Kantinebäuchlein streng eine Bordkarte in die Hand gedrückt haben? Oder wie sieht so etwas aus, frag’ ich Weißmann und Stein, letzteren vor allem. Man wird da “menschliche Härten und unschöne Szenen nicht vermeiden können”, sollte Weißmann je ein Repatriierungsprogramm ausarbeiten dürfen, das ist meine Prognose. Rechte Politik ist doch eben nicht die Privatisierung der Besserwisserei und die Sozialisierung der Konsequenzen, oder?
Und selbst dann, wenn Stein Höcke einfach nicht versteht und sein Buch richtig daneben findet: Warum zerrt man so etwas ans Licht der Öffentlichkeit? Warum jetzt? Wegen Jasper von Altenbockum? Ist die Not so groß, ist es ein inkontinenter Drang zur Reinheit in der Politik? Haben wir nicht alle gelernt, daß immer mehr Säue immer rascher durchs Dorf getrieben werden?
Wovor hat Stein Angst, das will ich mal wissen! Vor dem Populismus? Vor einer Alternative, die diesen Namen verdient? Oder ist es eher so, daß er sich schämt, wenn er an Bier und Mett und diejenigen Wähler denkt, die so etwas verzehren? Will er Applaus von denen, die noch immer meinen, daß zwischen sein Blatt und (beispielsweise) unseres kein Blatt Papier passe?
Ich bin überfragt, aber so einen Text schreibt Stein nicht aus Langeweile. Vielleicht sollte es ihm wurscht sein, was die zivilgesellschaftlich angekränkelte Filterblase in Berlin denkt. Vielleicht sollte er mal Urlaub in Sachsen machen, oder dort, wo Thüringen und Sachsen-Anhalt einander berühren.
Vor allem sollte er bei seinen Leisten bleiben und es halten wie ich (und dies umso mehr, als er kein glückliches Händchen hat, wenn er auf Pferdchen setzt): keine Parteitage besuchen, diesen Laden machen lassen und allenfalls antworten, wenn man gefragt wird. “Interventionsverbot parteifremder Mächte” (Vorsicht Schmitt!).
So, kurzum, drei Thesen, über die ich eine Diskussion wünsche (und nicht den Auftritt von Claqueuren):
- Es gibt keinen Zustand der AfD, der für das Establishment akzeptabel wäre.
- Der Feind steht immer außerhalb des eigenen weltanschaulichen Lagers.
- Der Bedarf an Nazis ist ungebrochen, selbst unter uns.
Zuletzt aber eine Empfehlung: Höcke lesen! Ohne die Brille Steins! Hier bestellen.
Fredy
Stein schreibt eigentlich meist Schrott, und politstrategisch ist er eine Null. Aber mit dem Höcke-Text trifft er ins Schwarze. Einzig hätte er ihn nur denken sollen, wie wir anderen auch. Die Veröffentlichung ist tatsächlich ein NoGo.