Politisch – das ist der Schotte im strengen Sinne freilich immer gewesen. In seinem 2012 auf deutsch veröffentlichten Werk Der Westen und der Rest der Welt kommt ebenso wie in seinem hierzulande 2014 publizierten Der Niedergang des Westens deutlich zum Vorschein, daß hier ein – umfassend gebildeter wie eloquent formulierender – Autor am sukzessiven Verschwinden »westlicher«, liberal-universalistischer Größe leidet.
Mit Eliten, das sollte man wissen, war Ferguson stets bemüht, enge Verbindung zu halten; 2016 war der in Stanford, Cambridge, Oxford, New York und heute in Harvard Lehrende gar Sprecher beim Weltwirtschaftsforum in Davos.
Doch einmal mehr gilt, daß Unmutsäußerungen und Absetzbewegungen seitens eines abgespaltenen Teils des bisherigen Establishments ein Indiz für eine Krise des gesamten Establishments darstellen können.
In Fergusons Fall kündigte sich das 2018 an, als er der Welt mit Hinblick auf die Migrationspolitik der bundesdeutschen Kanzlerin Merkel sagte, daß »die Regierungschefin in die Geschichte eingehen (würde), die Europa auf dem Gewissen hat«.
Nun schert Ferguson endgültig aus dem mainstreamliberalen (und das heißt jedenfalls kulturpolitisch: linksliberalen) Fahrwasser aus; in der Neuen Zürcher Zeitung, Internationale Ausgabe, setzte er gestern zum fundierten Rundumschlag an, der auch für Sezession-Leser von Interesse sein dürfte (und online leicht modifiziert hier abrufbar ist).
Ferguson nimmt dabei langsam an Fahrt auf, von René Scheu, dem Feuilletonredakteur der NZZ, immer wieder mit kritischen Rückfragen dazu angespornt. Es gehe, so Ferguson, um die »Hypersensibilität von Studenten«.
Aus Angst, Ideen könnten schmerzen, wollen sich die jungen Leute mit ihren unangenehmen Ideen gar nicht mehr beschäftigen. Studenten sind zu Schneeflocken geworden, die man vor gefährlichen Gedanken beschützen muss – und das an Universitäten, die es letztlich nur zu dem einzigen Zweck gibt, dass ein freier Ideenaustausch stattfinden kann.
Besonders bei letzterem Postulat scheitert man – ob in England oder Deutschland – bereits an einem rudimentären Realitätscheck. Denn mag es auch eine kleine Minderheit sein, die lautstark das Meinungsspektrum verengt und Dissidenten angreift, so ist es eben eine entschlossene und erfolgreiche Minderheit, die es noch nie erleben mußte, daß ihrem Treiben Grenzen gesetzt würden (auch von liberalen und gemäßigt konservativen Protagonisten wie Ferguson nicht).
Ferguson redet sich – wenn man das bei einem smarten Vertreter moderner Publizistik überhaupt so sagen kann – in Rage; er macht einen tiefgreifenden Stimmungswandel aus, der in den letzten 30 Jahren stattgefunden habe. Das Ergebnis beschreibt er klipp und klar:
Die Linken haben die Macht übernommen. Und sie, die sich in der Theorie für die Inklusion starkmachen, haben in der Praxis alle Andersdenkenden konsequent exkludiert.
Es ist wohlfeil, darauf hinzuweisen, daß ebendieses Schema bereits vor 30 Jahren von rechten Autoren prophezeit wurde. Aber es ist eben ein nachhaltiger Unterschied, ob ein Armin Mohler einst Entsprechendes in einem – relativen – Nischenorgan wie Criticón oder ein Niall Ferguson selbiges in einer heute weltweit wahrgenommenen Qualitätszeitung kundtut.
Die Vehemenz der Abneigung und die Folgen des Ausschlusses Andersdenkender durch linke Meinungssetzer hatte bereits in den 1920er Jahren Kurt Hiller als ein Grundproblem der Mehrheitslinken erkannt. Der revolutionäre Pazifist rief, lange vor Ferguson, dazu auf, die engstirnige Praxis zu überwinden und das Gespräch mit dem Anderen zu suchen. Sein Ziel war es, eine offene Debattenkultur quer zu den Lagern zu schaffen, die sich nach Anstand und Haltung richtet, nicht nach doktrinär beibehaltenen Ideologieloyalitäten, denn, so Hiller zeitlos:
Es gibt Kanaillen unter sogenannten Gesinnungsfreunden und hochachtbare Charaktere unter diametralen Gegnern.
Und weiter schreibt er 1927 in der Weltbühne, daß er sich bisweilen frage,
ob man auf der Welt sei, um mit Kanaillen zu arbeiten, bloß weil man anscheinend gewisse Meinungen mit ihnen teilt, und um Charaktere zu befeinden, bloß weil man mit ihnen in einigem dissentiert.
Aber diese Ansicht ist den tonangebenden Linken heute ebenso fremd wie Hillers folgende Einsicht, die in Kategorien beheimatet ist, denen zeitgenössische Antifaschisten mit reinem Unverständnis gegenüber treten müssen:
Diese Leute sind unsere Gegner; aber man kann sich mit ihnen unterhalten, weil sie Ehrenmänner sind.
Ehrenmänner – etwas derart antiquiert Anmutendes zählt heute nicht; was entscheidet, sind Zugänge zur Macht und zum Machthaber, Zugänge zu Medien und Bildungsanstalten, konkret auch: zu Universitäten.
Ferguson wiederum berührt hier einen weiteren wichtigen Punkt, wenn er die dort wirkenden Karrierenetzwerke linker Strukturen andeutet:
Die konservativen und liberalen Akademiker sind chaotische Zeitgenossen und ziemlich mies in der akademischen Folgeplanung. Sie sind mit ihren Studien beschäftigt, schreiben Bücher und kümmern sich kaum um Machtpolitik. Anders die sogenannt Progressiven – sie sind oftmals die eigentlichen Karrieristen, und ihre Schriften dienen ihnen bloss als Mittel zum Zweck. Darum legen sie oftmals auch wirklich lausige Aufsätze und Bücher vor.
Dieses Verdikt läßt sich, in Deutschland zumal, nur unterstreichen. Während linksstehende Professoren »ihren« Studenten Anstellung um Anstellung verschaffen, Promotion um Promotion, Dozentur um Dozentur, und dabei das Niveau der wissenschaftlichen Arbeit offensichtlich nachrangig ist, weil die Ideologiereproduktion und das entsprechende Ergebnis des Networking zählen, haben sich die verbliebenen konservativen Akademiker in der Nische, die man ihnen noch duldsam einräumt, bei unkündbarer C4-Professur und Satin-Seide-Halstüchern eingerichtet.
Sie publizieren, um nachdrücklich zu vergewissern, wie harmlos man sei, über Random-Themen des 18. oder 19. Jahrhunderts, veröffentlichen akribische Fleißarbeiten, die in den Handel für 99 Euro kommen und von einem marginalen Fachpublikum gewürdigt werden, um dann, gewiß zu später Stunde und hinter vorgehaltener Hand, über linke Machenschaften zu klagen und zum Widerstand aufzurufen, den sie selbst gewiß nicht leisten oder berühren könnten, schließlich hätten sie ja alles zu verlieren und wären ohnehin als geduldete Rest-Konservative per se »angezählt«.
Aber was all diese konservativen Geistesgrößen an den Bildungseinrichtungen dieses Landes unterlassen, ist das, was Linke jeder Couleur seit Jahrzehnten mit Brillanz (und trotz der hartnäckigen Sparkurse der ökonomisierten Universitätslandschaft) vollziehen: sie übernehmen die »akademische Folgeplanung«, wie Ferguson das profitable Geflecht links-akademischer Seilschaften nennt.
Man muß diesen Umstand nicht bedauern und sollte ihn nicht bejammern, aber Fergusons Hinweis bietet zweifellos einen angemessenen Anlaß, sich in Erinnerung zu rufen, daß die »Mosaik-Linke« – bei allen erklecklichen Mängeln, die ihr innewohnen – doch so etwas wie idealistischen Korpsgeist entwickelt hat, deren materialisierten Vorteile jeden Tag augenscheinlich sind, und die, wie der Metapolitiker weiß, unverzichtbar für jede grundsätzlich operierende weltanschauliche Strömung sind, weil jede Entwicklung der Praxis sich vorher schon in den Geistern vollzogen haben muß – nicht zuletzt nunmal an Universitäten.
Dieser naheliegenden Einsicht, der Alain de Benoist vor Jahrzehnten ein Buch mit dem Titel Kulturrevolution von rechts widmete, um unser Milieu auf den gramscianischen »Stellungskampf« vorzubereiten, ungeachtet, präferieren es begüterte konservativ orientierte Dozenten überwiegend (nicht ausschließlich), das individuelle, persönliche Wohlergehen über alles Politische – man ist ja lediglich Wissenschaftler – zu stellen. Und zwar wird das selbst dort vollzogen, wo es sogar aus dem sonst so betonten Eigeninteresse hilfreich wäre, Schutzräume zu gestalten, was aber – horribile dictu – schiefe Blicke der Nachbarn oder Kollegen ernten könnte.
Noch ein weiterer Aspekt des zwei NZZ-Seiten langen Ferguson-Gesprächs ist dabei betrachtenswert.
Scheu: Die Liberalen und Konservativen gewannen also den Kalten Krieg und bestimmten die Wirtschaftsordnung, die Sozialisten gewannen aber die kulturelle Hegemonie an den Universitäten und in den Medien. Ist das, maximal zugespitzt, Ihre These?
Ferguson: Das ist sie, kurz und knapp zusammengefasst. Ich stelle sie hiermit zur Debatte (…).
Nun ist das freilich nicht Fergusons ureigene These, sondern ein Allgemeinplatz, der in der Neuen Rechten bereits seit mindestens einem Jahrzehnt zirkuliert und sowohl vom Mainstream auch als von Linken als Verschwörungsdenken beiseitegeschoben wird.
In meinem kommende Woche erscheinenden kaplaken-Band Blick nach links habe ich just diese These, die Ferguson in die NZZ einspeist, in einem neuen Aufsatz (»Die ‘Kapital-Linke’ und die konformistische Rebellion«) ausführlich abgehandelt.
Darin entwickle ich unter anderem auch Norbert Borrmanns These aus dem Jahr 2011 weiter, der seinem Leser einführend vermittelte, daß weite Teile der (deutschsprachigen) Linken längst ihren Frieden mit dem Kapitalismus und den von ihm erzeugten sozioökonomischen Verhältnissen gemacht hätten, um ihre Hegemonie im gesellschaftspolitischen Bereich auszuüben.
Der 2017 verstorbene rechtsintellektuelle Publizist bemerkte, was sich heute längst potenziert feststellen läßt, wonach »der neue linke, politisch korrekte Überbau wie angegossen auf unsere kapitalistische Gesellschaft paßt«. Dies lege nahe, »daß sich mit Kapital und Linksideologie zwei Teile gefunden haben, die überaus kompatibel sind«.
Während der »Überbau« links erscheint, wird die »Produktionsweise des materiellen Lebens« durch die »Basis«, also durch die kapitalistischen Strukturen als den verdinglichten Gesellschaftsverhältnissen, vorgegeben. Dieser »Linkskapitalismus«, so Borrmann, harmoniere, weil beide Seiten in ihrem hauptsächlichen Metier von diesem Pakt profitieren. Man könnte dies fortschreibend formulieren: Jeder habe sein einträgliches Geschäft gefunden, die Claims sind – für beide Seiten gewinnbringend – abgesteckt.
Auch Ferguson hat recht: Die Mehrheitslinke hat (explizit im metapolitischen Sinne) die Macht übernommen, übt sie ununterbrochen als Diskurspolizei aus und vermittelt entsprechende Weltbilder auch massenmedial; das gute Gefühl, moralisch »besser« zu sein als die hors la loi gestellten Unmenschen der Gegenseite, treibt sie alle an – von Greta Thunberg bis zum Wir-sind-mehr-Festival-Wahn in Chemnitz.
Aber diese Feststellung darf weder unzufriedene Hauptstrom-Edelfedern wie Ferguson noch uns als nonkonforme Rechte verunsichern: Es bleibt nicht, wie der britische Gigant im NZZ-Gespräch meint, »nur Galgenhumor«.
Diese fatalistische Grundhaltung ist einem klugen Anywhere der akademischen Sphäre möglich, nicht aber politischen Akteuren, die ganz konkret in der Praxis wirken wollen und die Hoffnung auf eine »Zeitenwende« schon aus Solidarität mit dem und den Eigenen nicht aufgeben können.
Statt Galgenhumor empfiehlt sich dabei zuallererst der Blick nach links – auf jene heterogene Landschaft politischer Akteure also, die unaufhörlich Macht ausüben unter der bigotten Vorgabe, danach zu trachten, Machtverhältnisse zu schleifen.
Aber um so näher man an den Beobachtungsgegenstand rückt, desto brüchiger scheint auch die metapolitische, vorpolitische Macht des linken Milieus. Dann nämlich erscheinen vorgebliche Riesen als taumelnde Zwerge. Und dann sollte auf die temporäre Lust an der Empörung (über linke Machenschaften usf.) die Lust am Widerstand folgen.
Wir sind wieder im Spiel.
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Blick nach links von Benedikt Kaiser kann man hier bestellen; Niall Fergusons jüngsten Titel Türme und Plätze hier.
Immer noch S.J.
Glücklicherweise erscheinen bei guter Gelegenheit Artikel wie dieser, die einem – zumindest für eine gewisse Weile - etwas Anschub geben. Die These Fergusons, die Sozialisten hätten die Medien sowie die Bildungseinrichtungen im Griff, muss jedenfalls nicht großartig diskutiert werden, weil sie stimmt und das auch noch ganz offensichtlich. Ob es besser wäre, wenn er anstatt des Begriffes „Sozialisten“ (dieser wird häufig eng ausgelegt) einen anderen Begriff oder gar weitere gewählt hätte, um zu verdeutlichen, wie sich in den Medien und den Universitäten Sozialisten, Linksliberale und Grüne gegenseitig die Türklinken in die Hände drücken, ist auch nicht diskussionswürdig. Man weiß ja, was gemeint ist. Es ist daher erwähnenswert, dass diese Leute zum Teil unbeabsichtigt eine Mentalität geschaffen haben, die sich aus Egalitarismus, dem Abbau von Schwierigkeiten oder Herausforderungen sowie dem Abfeiern des Fragwürdigen zusammensetzt. Etwas konkreter: Der Abbau von Qualifikationshürden, weichgespülte Noten, das in Teilen aggressive Diskutieren um bessere Noten, das andauernde Gerede vom Fördern und von Ungerechtigkeiten, die Dominanz von weichen Themen in den Gesamtlehrerkonferenzen, die Tatsache, dass schulschwänzende Schüler irgendwie doch alles richtig machen und hörenswerte Experten sind, denen hochrangige Regierungspolitiker um die Wette gratulieren – all das ist sozusagen eine Liebesversicherung für diese linken Funktionsträger. Sie werden geliebt, weil man es bei ihnen (also diesen Lehrenden) eben leichter hat, erfolgreich zu sein, und weil sie (also diese Medienvertreter) dazu beitragen, anstrengende Schwellen abzutragen. Umgekehrt haben es konservativere Gemüter mit ihren Ansprüchen sehr schwer. Es ist ein Imageproblem. Konservative reden nämlich von Anstrengung sowie dem Einhalten und Durchsetzen von Regeln. Leider ist das wenig verführerisch, zumal zu sehen ist, dass man ohne letzteres Karriere machen kann.