Es ist interessant, wie die Sichten auf die Nachkriegsjahre (bis 1955) divergieren. Traditionelle Katholiken schwärmen von der Adenauerära als quasi-paradiesischer Zeit.
“Progressive” Kräfte sehen den »Muff unter Talaren« und beklagen die allgemeine Spießigkeit. Und die sogenannte Neue Rechte? Grosso modo sieht sie hier wohl die Keimzeit der großen Umerziehung, die Genese des Deutschen als artiges Mitglied der »westlichen Wertgemeinschaft«. Wer von Harald Jähner (*1953), Honorarprofessor für Kulturjournalismus, der sich nun dem Jahrzehnt 1945–1955 gewidmet hat, eine profilierte Einordung erwartete, würde enttäuscht. Es ist eine Mentalitätsgeschichte ohne Ecken und Kanten, moralgewiß und willfährig.
Harald Jähners Buch Wolfszeit erhielt in der vergangenen Woche den Leipziger Buchpreis. Es wird auf Bestenlisten gehievt und breit gelobt. In der Tat ist dieses Werk lesenswert – allerdings mit erheblichen Abstrichen.
Zunächst aber: Über weite Strecken ist das Buch ein wahrer Schmöker. Von dem weißen Ochsen zu lesen, den vier Intellektuelle im April 1945 mitten in der umkämpften Hauptstadt auffinden, und dann: »Wie schlachten vier urbane Bildungsbürger ein Rind?« Ein Sowjetsoldat hilft. Jähner läßt die Journalistin Ruth-Andreas-Friedrich berichten: »Aus hundert Kellerlöchern krochen sie hervor. Weiber, Männer, Kinder. Hat sie der Blutgeruch hergelockt? […] Blutbeschmierte Fäuste zerren dem Ochsen die Zunge aus dem Mund. So also sieht die Stunde der Befreiung aus.«
Jähner berichtet auch, wie unterschiedlich die »Enttrümmerung« in Dresden, Berlin und Frankfurt verlief. In Hamburg hatte die Stadtverwaltung zum Großeinsatz gerufen: »Zum ersten Termin erschienen 4500 Männer, an den folgenden Sonntagen kamen doppelt so viele. […] Am Ende waren auf diese Weise allein in Hamburg allein 182 Millionen Ziegelsteine gesammelt, geputzt und gestapelt worden.« In Frankfurt ließ man sich Zeit. Die Bürger begannen zu murren. Dann fanden Frankfurter Chemiker heraus, wie man aus Schutt Gips, Sinterbims und schließlich Zement gewinnen konnte.
Lesenswert ist auch das Kapitel über die »Displaced Persons« (DP), die knapp neun Millionen Zwangsarbeiter, die nun in ihre Heimat überführt werden sollten – wogegen sie sich recht bald sperrten. Lieber in Ex-Nazideutschland in Baracken hausen, als ab in den Ostblock! Hinzu kam der unerwartete Zuzug von mindestens 100 000 osteuropäischen Juden, wer hätte das gedacht? »Hardcore DPs« wurden jene Verschleppten genannt, die auch 1950 nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren wollten. Gerade Bayern wurde von den Neudeutschen als eine Art amerikanische Exklave betrachtet.
1947 übrigens beherbergten von den 10 000 Ferienquartieren auf Sylt 6000 Flüchtlinge – im Rest wurde bereits ganz normal geurlaubt.
Oder dies: Wie in den Karnevalshochburgen die »Kapitulationsgesellschaft in die Spaßgesellschaft« überging. In Südwestdeutschland beförderten die Franzosen die Fasnacht als Mittel zur »Déprussianisation«, zur »Entpreußung«, um den preußisch-militaristischen Einfluß zurückzudrängen.
Oder dies: Wie an öffentlichen Orten Elektrobirnen geklaut wurden. Wie Straßen- und Parkbäume illegal gefällt wurden und das Holz im Hungerwinter dennoch nicht taugte, weil es viel zu feucht war.
Der Autor verdeutlicht einmal mehr, wie sehr die deutschen Ostvertriebenen unter der Besitzstandwahrung der Eingesessenen litten. Keine Rede von »Willkommenskultur!« Zuzugskommissionen der Alliierten rissen zwecks besserer Integrationsaussichten Familien bewußt auseinander. Württembergischer Pietismus traf unter Umständen auf lebensfrohen Ost-Katholizismus. Ein Kreisdirektor des bayrischen Bauernverbandes nannte es eine »Blutschande«, wenn »ein bayrischer Bauernsohn eine norddeutsche Blondine« heiratete!
In seinen zehn Kapiteln (beispielsweise: In Trümmern; Tanzwut; Die Umerzieher) läßt Jähner zahlreiche Zeitzeugen zu Wort kommen. Nach »rechts« tut er dies äußerst kritisch, »links« präsentiert sich in seinen Augen eher die Wahrheit.
So gelten ihm die kessen »Fräuleins«, die mit den alliierten Besatzern poussierten, als »Wegbereiterinnen der deutsch-amerikanischen Freundschaft«. Die Russen sind für ihn – Jähner erwähnt die Vergewaltigungsorgien, allerdings auch, wie man »klug« damit umgehen konnte als abgebrühte Frau – Menschen von »unbändiger Herzlichkeit«. Die Westkräfte machten vor, wie man sich lässig und cool hinfläzt: Jähner, und das ist beispielhaft, unkt (ohne Quellenverweis): »Die jungen Deutschen ahmten deren Gesten nach, was zu den peinlichsten Verrenkungen führte.«
Dieser Ton der Herablassung gegenüber den Besiegten ist vorherrschend. Wo es Kräfte gab, die sich einer »Verwahrlosung der Jugend« entgegenstellten, kommentiert Jähner in blasiertem Antifa-Ton: »So konnte man Nazi bleiben, ohne offen als solcher auftreten zu müssen.« Der Freßlust und dem Konsumrausch der Nachkriegsdeutschen, von dem Bildbände und andere Arbeiten zeugen, geht Jähner leider kaum nach.
In krasser Naivität nimmt er Titelgeschichten und offensichtliche Kampagnen der neuen, von den Alliierten eingesetzten Druckerzeugnisse als Ausweis einer neuen deutschen Mentalität: Wenn in Frauenzeitschriften der späten vierziger Jahre der Heimkehrer als »ausgebrannte Lusche« problematisiert wird und es Scheidungstips nur so hagelt, tut Jähner so, als habe man damit nur Problemlagen aufgegriffen – daß man sie überhaupt erst evoziert haben könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. So wie wir uns heute mit dem Autor milde lächelnd oder kopfschüttelnd über die Bilder von kittelschürzentragenden Hausfrauen und Kriegskrüppeln beugen, wird sich vielleicht die übernächste Generation über Jähners schuldstolzen Nachgeborenenblick beugen.
– – –
Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955, Berlin: Rowohlt Berlin 2019. 477 S., 26 €, hier bestellen.
Der_Juergen
Ich habe in letzter Zeit bei Antaios recht viele Bücher bestellt, aber vor der Versuchung, auch dieses zu kaufen, bewahrt mich Ellen Kositzas Rezension, auch wenn das Buch durchaus seine Stärken zu haben scheint. Wenn es schon um Wölfe geht, dann viel lieber Hans Bergels "Die Wiederkehr der Wölfe". Das war wirklich eine Bestellung, die sich gelohnt hat, ebenso wie Bergels "Wenn die Adler kommen".