Hier war es anders: Titel und Titelgestaltung (ein mechanisches Uhrenwerk, Gerald Murphy, 1925) sowie die ersten Sätze zogen mich an: »Der Laut von Wasser, das steil in die Regentonne stürzt, die am Haus steht. Die umgekehrte Fontäne schlägt auf den Boden der Tonne. Am Vortag geangelte Karauschen, winzig wie eine Kinderfaust, schwimmen besinnungslos hin und her. Gelber Schaum von Blütenpollen kreist im Wasser, rosa Apfelblüten, schwarzbraunes Laub vom Vorjahr und verschrumpelte Äpfel mit Fäulnisflecken – der Sturzregen hat sie aus der Regenrinne gepresst.«
Der Autor Sergej Lebedew, geboren 1981 in Moskau, heute in Berlin lebend, entstammt einer Geologenfamilie. Schichten abzutragen, Sedimente zu untersuchen war Familienhandwerk, auch für den kleinen Sergej, der als Kind nach Mineralien suchte, dabei Überreste eines GULAG fand und später Journalist und Schriftsteller wurde. Novalis alias Friedrich von Hardenberg hatte eine ähnliche Vita aufzuweisen, eine so hochgegriffene wie erstaunliche Parallele. Lebedew, der hier zu gewissen Teilen seine eigene Familiengeschichte erzählt, ist ein echter Poet!
Und Franziska Zwerg eine kongeniale Übersetzerin – Übertragungen aus dem Russischen (so, daß sie der deutsche Leser goutieren kann!) sind eine hohe Kunst. Der Protagonist dieser Geschichte hier ist Kirill, ein Historiker. Kurz vor dem Tod seiner Großmutter Lina Wesnanskaja erfährt er, daß sie eigentlich anders hieß: Karoline Schwerdt. Eine Deutsche! In einem Interview erzählte Lebedew, daß er oft »Krieg« spielte in seinen Kinderjahren. Niemand wollte zu denen gezählt werden, die »die Deutschen« verkörperten.
Im Roman ist es ein betrunkener Nachbar, der einen aggressiven Gänserich tötet, weil er ihn im Suff für einen Deutschen hält. Der Ganter war »schlau und wendig«, »voll reiner, triumphierender Wut«, des Russen Bosheit hingegen »matt, verfault, wie eine Salzgurke vom Vorjahr«. Doch im Körper des Alten wohnte eine »zähe, klammernde Kraft«: »Deine Zeit ist um, Fritz!«, rief der trunkene Russe. Kirill, bis zu einem gewissen Zeitpunkt deutlich Lebedews Alter Ego, begibt sich auf Ahnenforschung. Seine »Halblutnatur«, so ahnt er, gibt ihm einige Freiheiten bei dieser Suche. »Kirill dachte, er müsse sich zunächst um sein eigenes Leben kümmern, unabhängig werden.«
Er schrieb eine Dissertation über Wlassows Russische Befreiungsarmee, erwarb sich einen Namen, einen Ruf. Er wurde nach Amerika eingeladen zu einem Projekt über die Deportation von Juden im Russischen Imperium während des Ersten Weltkriegs. »Das war nicht sein Thema. Kirill hatte das Projekt am Rand seiner anderen Studien entworfen und abgeschickt, ohne besondere Hoffnungen, aber in vollem Bewusstsein über die konjunkturelle Überlegenheit seines Antrags.«
Er darf nach Harvard übersiedeln. Eine Menge Geld winkt. Kurz vor Abreise sagt er ab, er will sich nicht mit Themen beschäftigen, die ihm »fremd, für ihn unnütz« sind. Kirill beschließt, einen Baum zu besteigen, seinen eigenen Stammbaum – »mit brüchigem Stamm, abgefallenen Ästen, fortgewehten Blättern.« Wir steigen ein mit dem Urururgroßvater Thomas Schwerdt, der Arzt wird, ohne über das Talent seiner berühmten Lehrer zu verfügen. Dessen Sohn Balthasar heißt im echten Leben Julius Schweikert.
Er wirkt als erklärter Gegner der neu aufgekommenen Homöopathie in Wittenberg, wird dann jäh zum Apostel der homöopathischen Lehre und tritt in die Dienste eines (wie sich herausstellt: despotischen) russischen Fürsten. Wir folgen nun den Spuren von Balthasar, von Arsenij, seinem Sohn, und dessen Kindern durch die Wirren des 20. Jahrhunderts. Wir erleben die stalinistischen Säuberungsaktionen (Deutscher zu sein gleicht einem Todesurteil), wir erleben die grausame Dezimierung der Baumäste während der Leningrader Blockade, wir leiden mit Kirill, dem von der Geschichte Heimgeholten, und seinen Ahnen in Zaryzin / Stalingrad / Wolgograd.
Was war es, was die Schwerdts bewog, nach Rußland zu gehen und dort ihr Heil zu suchen? Inwiefern konnten sie ihrer blutsmäßigen Herkunft nicht entrinnen? Lebedew spricht von einer »besonderen Leidenschaft, die aus Illusionen erwächst.« Identitäten erscheinen hier nicht als konstruierte – sie haben ein strenges Eigenleben. Üblicherweise pflegt man angesichts eines derartig talentierten Geschichtenerzählers wie Lebedew nach »mehr!« zu lechzen. Hier verhält es sich so: Den nächsten »Lebedew« wird man sich unbedingt zulegen wollen – dennoch hätte eine Straffung Kronos’ Kindern sehr wohlgetan. Vielleicht muß man Deutsche / r sein, um so zu empfinden. Trotzdem: eine große Entdeckung!
Sergej Lebedew: Kronos’ Kinder. Roman. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg, Frankfurt a. M.: Fischer 2018. 380 S, 24 €