Natascha Wodin: Irgendwo in diesem Dunkel

Dieser Tage gilt es mitunter als Schamstück, wenn Leute sich »als Opfer inszenieren« – eine Redewendung, die dringend der je konkreten Überprüfung bedarf.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Wann han­delt es sich um ech­ten Jam­mer, wann um Gejam­mer? Wann müs­sen wir kon­sta­tie­ren, daß einer über erlit­te­nes Unrecht zu spre­chen wagt, wann hin­ge­gen rei­tet einer auf modi­schen Mit­leid­wo­gen? Gibt es objek­ti­ve Demü­ti­gung? Nata­scha Wodins (zurecht) preis­ge­krön­ter Best­sel­ler Sie kam aus Mariu­pol (2016) dürf­te gewiß zum Gen­re der Kla­ge­li­te­ra­tur zählen.

Dar­in deck­te Wodin die Lebens­spu­ren ihrer ukrai­ni­schen Mut­ter auf, die als Kriegs­ge­fan­ge­ne nach Deutsch­land gekom­men war und sich in den fünf­zi­ger Jah­ren das Leben nahm. Wodin schrieb damals: »Die längs­te Zeit mei­nes Lebens hat­te ich gar nicht gewusst, dass ich ein Kind von Zwangs­ar­bei­tern bin. Nie­mand hat­te es mir gesagt, nicht mei­ne Eltern, nicht die deut­sche Umwelt, in deren Erin­ne­rungs­kul­tur das Mas­sen­phä­no­men der Zwangs­ar­beit nicht vor­kam. Ich wuss­te nur, dass ich zu einer Art Men­schen­un­rat gehör­te, zu irgend­ei­nem Keh­richt, der vom Krieg übrig geblie­ben war.«

Es stimmt: Daß Mil­lio­nen sowje­ti­scher Zwangs­ar­bei­ter in deut­schen Lagern umge­kom­men sind, davon ist sel­ten die Rede. Wodin ver­mu­tet bit­ter, daß es von der Geschichts­schrei­bung als unschick­lich emp­fun­den wor­den war, ange­sichts des Holo­causts von ein paar Mil­lio­nen Rus­sen län­ger zu reden. Die Autorin, gebo­ren im Dezem­ber 1945, wuchs zunächst in einem Lager für Dis­pla­ced Per­sons auf. Dann zog die Fami­lie in »die Häu­ser«, eine Neu­bau­sied­lung nahe Nürn­berg, die »den Rus­sen« vor­be­hal­ten war.

In ihrem neu­en auto­bio­gra­phi­schen Roman geht sie den Spu­ren ihres Vaters nach. Wodins Spra­che (sie war lan­ge mit dem DDR-Schrift­stel­ler Wolf­gang Hil­big ver­hei­ra­tet) ist unge­küns­telt und direkt, die Tri­as Bauch, Herz, Kopf ist ganz eins. Nach dem Frei­tod der Mut­ter muß der Vater, Jahr­gang 1900, Ver­ant­wor­tung über­neh­men für die bei­den klei­nen Mäd­chen. Bis­lang war er mit dem Don-Kosa­ken Chor auf Tour­neen gewe­sen. Der Vater ist eine Qual, nie wirk­lich anwe­send, und wenn, dann zudring­lich. »Es war ein stän­di­ges Fern­weh, an dem ich litt, ähn­lich dem Heim­weh mei­ner Mut­ter, nur dass ich mich nicht nach der Ukrai­ne sehn­te, son­dern nach dem Deutsch­land vor unse­rer Tür.«

Das Mäd­chen gilt als »Rus­sen­lusch«, fin­det kei­nen Anschluß und reißt aus von zu Hau­se, wird Land­strei­che­rin, hun­gert. Kein Aben­teu­er treibt sie, son­dern die Sehn­sucht nach Hei­mat. Ein­mal ereig­net sich für die in jeder Hin­sicht abge­ris­se­ne Jung­fer »ein Wun­der, ein Mär­chen aus tau­send­und­ei­ner Nacht«. Ein per­si­scher »Prinz«, Sproß des reichs­ten Tep­pich­händ­lers Tehe­rans (die jun­ge Frau glaubt es), freit am Bahn­steig um sie, ver­spricht ihr den Him­mel auf Erden. Vor­läu­fig kön­ne sie es sich in sei­ner geräu­mi­gen Woh­nung bequem machen … Die erweist sich als Kaschem­me, der Per­ser ver­ge­wal­tigt sie. Kurz dar­auf erhält das Mäd­chen von einem gut­her­zi­gen Unter­neh­mer eine ein­ma­li­ge Chan­ce, einen ech­ten Arbeits­platz, auf dem es sich sogleich bewährt. Nur – als ledi­ge Mut­ter? Die Schil­de­rung der Abtrei­bung ist ergrei­fend. Das gan­ze Buch ist es.

Nata­scha Wodin: Irgend­wo in die­sem Dun­kel, Rein­bek bei Ham­burg: Rowohlt Ver­lag 2018. 240 S., 20 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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