Zuboff: Überwachungskapitalismus, Strittmatter: Neuerfindung der Diktatur

Nicht erst mit der Ankündigung der sukzessiven Einführung des Social Credit System (vgl. Sezession 78) in der Volksrepublik China ist die Gefahr des digitalen Totalitarismus ein Thema.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Frank Schirr­ma­cher wid­me­te die­sem Kom­plex bereits 2015 einen Sam­mel­band; Tech­no­lo­gi­scher Tota­li­ta­ris­mus führt ver­schie­de­ne Dis­kus­si­ons­strän­ge samt ihrer Ver­tre­ter zusam­men, dar­un­ter auch Shosha­na Zuboff. Die US-ame­ri­ka­ni­sche Har­vard-Öko­no­min legt nun ihr neu­es Werk Das Zeit­al­ter des Über­wa­chungs­ka­pi­ta­lis­mus vor, das im Janu­ar 2019 im US-Ori­gi­nal, eini­ge Wochen zuvor aber bereits in deut­scher Über­set­zung erschien.

Es ist ein wuch­ti­ges Buch, das den »Über­wa­chungs­ka­pi­ta­lis­mus« als höchs­te Stu­fe der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se und Gesell­schafts­form seziert. Das gelingt, indem sie den Leit­be­griff ihrer jah­re­lan­gen For­schungs­ar­beit anschau­lich definiert.

Über­wa­chungs­ka­pi­ta­lis­mus ist dem­nach eine von kon­kre­ten Akteu­ren an einem kon­kre­ten Ort geschaf­fe­ne neue Markt­form (mensch­li­che Erfah­rung als Roh­stoff anstel­le von Arbeit), eine neue öko­no­mi­sche Logik (para­si­tär, selbst­re­fe­ren­ti­ell), eine neue Art Kapi­ta­lis­mus (mit bei­spiel­lo­ser Reich­tums­kon­zen­tra­ti­on), das Fun­da­ment neu­er Über­wa­chungs­me­tho­den und neu­er instru­men­tä­rer Macht (Anspruch: Herr­schaft über die Gesell­schaft) sowie der »Sturz der Volks­sou­ve­rä­ni­tät« in Form eines Put­sches von oben (Aus­füh­ren­de sind Kon­zer­ne um Goog­le und ihre Satrapen).

Die­se Mar­ken­zei­chen des Über­wa­chungs­ka­pi­ta­lis­mus macht Zuboff ver­ant­wort­lich für die »Ver­fins­te­rung des digi­ta­len Traums«. Bedeu­tung und Trag­wei­te die­ser Ent­wick­lung sei­en den Men­schen noch nicht bewußt, wes­halb die Autorin eine erschöp­fen­de Dar­stel­lung aller Merk­ma­le die­ses tau­fri­schen Kapi­ta­lis­mus­ty­pus vor­nimmt, die als vor­bild­li­che Pio­nier­ar­beit zu wür­di­gen ist.

Gleich­wohl wird auch ein Lieb­ha­ber umfas­sen­der Abhand­lun­gen nicht umhin­kom­men zu monie­ren, daß es der – gewünsch­ten – Ver­brei­tung der The­sen scha­det, daß Zuboffs Text­kor­pus nicht gestrafft wur­de; 200 Sei­ten weni­ger wären pro­blem­los mög­lich, ohne die Quint­essenz der For­schungs­strän­ge in ihrer Dich­te und Wir­kung zu beschneiden.

Neben die­ser Stil­kri­tik muß Zuboffs Unter­schät­zung des Staa­tes als zwei­ter Kri­tik­punkt ange­führt wer­den, denn obschon sie die ursäch­li­che Kol­la­bo­ra­ti­on US-ame­ri­ka­ni­scher staat­li­cher Stel­len (Behör­den, Geheim­diens­te, Mili­tär) bei der Gene­se des glo­ba­len Über­wa­chungs­ka­pi­ta­lis­mus ver­an­schau­licht, unter­schätzt sie als Anhän­ge­rin eines libe­ra­len Gesell­schafts­ent­wurfs die Macht­op­tio­nen des Staa­tes auch im 21. Jahr­hun­dert, etwa wenn sie davon aus­geht, daß der Staat ledig­lich Befehls­emp­fän­ger über­wa­chungs­ka­pi­ta­lis­ti­scher Insti­tu­tio­nen sei, dem daher nur die Zusam­men­ar­beit mit Goog­le und Co. bleibe.

Daß auch umge­kehr­te Macht­sym­me­trien denk­bar und prak­ti­ka­bel sind – und dabei nicht zwin­gend »bes­se­re« Ergeb­nis­se für die Gemein­schaft zei­ti­gen –, legt der von ihr eben­falls ange­führ­te chi­ne­si­sche Son­der­weg mit dem bereits genann­ten Sozi­al­kre­dit­sys­tem nahe, in dem der chi­ne­si­sche Staat (respek­ti­ve die die­sen füh­ren­de Par­tei) jeden Bür­ger in einem tota­len und trotz der nomi­nell kom­mu­nis­ti­schen Atti­tü­de genu­in über­wa­chungs­ka­pi­ta­lis­ti­schen Boni­täts­sys­tem erfaßt.

Kai Stritt­mat­ters Die Neu­erfin­dung der Dik­ta­tur kann pha­sen­wei­se das sinn­vol­le ana­ly­ti­sche Adden­dum zu Zuboffs Grund­la­gen­werk dar­stel­len, da es expli­zit unter­sucht, wie Chi­na den digi­ta­len Über­wa­chungs­staat aus der Tau­fe hebt. Hoch­zu­hal­ten ist die kun­di­ge Ein­füh­rung in das Den­ken der chi­ne­si­schen KP, in die Hand­lungs­wei­se der Par­tei­obe­ren und ihrer Schlüs­sel­cli­quen in den Apparaten.

Auch die für den euro­päi­schen Leser eher frem­den Online­wel­ten Chi­nas wer­den anschau­lich beschrie­ben; von WeChat (Dave Eggers’ Der Cir­cle läßt grü­ßen) über Wei­bo (Chi­nas Ant­wort auf Twit­ter) bis Tou­tiao (die erfolg­reichs­te staats­na­he Nach­rich­ten­app der Welt) sowie auf dem Feld chi­ne­si­scher Sicher­heits­ge­set­ze kann Stritt­mat­ter pro­fun­des Wis­sen darbieten.

Und als drit­tes Plus kann die Ein­glie­de­rung des digi­ta­len chi­ne­si­schen Auto­ri­ta­ris­mus (oder Tota­li­ta­ris­mus in sta­tus nas­cen­di?) in die chi­ne­si­sche Natio­nal­ge­schich­te ver­bucht wer­den; der Autor hat Argu­men­te dafür, daß der Par­tei- und damit Staats­chef Xi Jin­ping sich trotz sei­ner mar­xis­ti­schen Grun­die­rung als Fort­füh­rer der chi­ne­si­schen Feu­dal­dy­nas­tien wähnt.

Unge­ach­tet die­ser drei skiz­zier­ten Vor­zü­ge sind es eben­so drei Aspek­te, die das Lese­ver­gnü­gen und den Erkennt­nis­ge­winn schmälern:

Ers­tens nutzt Stritt­mat­ter über­wie­gend Online­quel­len, ver­zich­tet dabei auf grund­le­gen­des, ver­füg­ba­res Gedrucktes.

Zwei­tens stößt einem der Plau­der­ton (»Chi­na hat mitt­ler­wei­le tol­le Geset­ze, es schert sich bloß kei­ner um sie.«) auf, der – drit­tens – um die ideo­lo­gi­sche Ebe­ne ergänzt wer­den muß. Stritt­mat­ter ist nicht nur Sino­lo­ge, son­dern auch Kor­re­spon­dent der Süddeutschen:

Der links­li­be­ra­le, west­le­ri­sche, mora­li­sie­ren­de Zei­ge­fin­der ist also stets präsent.

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Shosha­na Zuboff: Das Zeit­al­ter des Über­wa­chungs­ka­pi­ta­lis­mus, Frank­furt a. M.: Cam­pus 2018. 727 S., 29.95 € – hier bestel­len

Kai Stritt­mat­ter: Die Neu­erfin­dung der Dik­ta­tur. Wie Chi­na den digi­ta­len Über­wa­chungs­staat auf­baut und uns damit her­aus­for­dert, Mün­chen: Piper 2018. 288 S., 22 € – hier bestel­len

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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