In ihrem neuen Buch dreht und wendet sie die Frage, weshalb unsere Spezies nicht davon lassen kann, die Natur als Quelle der Normen menschlichen Verhaltens zu betrachten.
Widernatürliches menschliches Verhalten ist so alt wie die Menschheit. Genauso alt ist die Einschätzung solchen Verhaltens, beispielsweise von Sodomie oder Inzest, als widernatürlich. Doch auch bei viel geringeren Normabweichungen wird die Natur bemüht: Bei nicht standesgemäßer Heirat, Frauenwahlrecht, Umweltschutzgesetzen oder homosexuellen Neigungen. Bereits Aristoteles argumentierte gegen das Zinsgeldsystem, indem er sagte, Geld pflanze sich im Gegensatz zu den natürlichen Arten nun einmal nicht von allein fort.
Da können sich die Philosophen seit David Hume noch so anstrengen, »naturalistische Fehlschlüsse« aufzuspüren – doch aus dem schieren So-Sein ein So-sein-Sollen oder So-nicht-sein-Sollen abzuleiten ist einfach nicht totzukriegen.
Woran liegt das? Daston macht sich auf die Suche, und da ihr kulturhistorisches Lieblingsjahrhundert das 17. ist, wird sie ebendort fündig: Es sind die Leidenschaften. Menschen sind leidenschaftliche Tiere, wußten schon Descartes, Spinoza, alle übrigen Moralisten und Kant: Sie regen sich auf. Und über Unnatürliches regen sie sich tierisch auf!
Daston bohrt weiter. Warum diese Aufregung? Da stößt sie auf einen für Konservative wohlvertrauten Gedanken: Natur kommt niemals ohne Ordnung aus, in ihr ist das Ordnungsdenken angelegt. Sehr behutsam entfaltet sie diese Überlegung, indem sie dem progressiven Naturalismuskritiker vor Augen führt, was es bedeuten würde, wenn statt der Ordnung das Chaos in der Welt herrschte, er keinen Moment mehr sicher sein könnte, daß sich die Dinge so verhielten, wie er es erwartet. Die »Leidenschaften des Unnatürlichen« rechnen mit Ordnung, die im selben Moment zerstört wird (daher die Aufregung) und gutgeheißen wird (daher die moralische Norm).
Wenn wir etwas für »gegen die Natur« oder »naturgemäß« halten, bemühen wir normalerweise Analogien. So wie es sich in der natürlichen Ordnung verhält, so soll es sich auch in der Gesellschaft verhalten. Ob es nun Mandevilles Bienenfabel oder Frans de Waals Wilde Diplomaten sind: Die Natürlichkeit des Matricharchats können wir uns von den Bienen abschauen, die Natürlichkeit des Patriarchats von den Herrenaffen, den Primaten. Und die Donovan-Leser lernen auf dem Weg der Männer, das promiskuitive Herumgebumse der Bonobos leidenschaftlich zu verachten.
Gegen diese Modellübertragung aus der Natur geradewegs auf unsere Normen bringt Lorraine Daston ein bedenkenswertes Argument vor. Man kann in der Natur vorfinden, daß es Ordnung gibt, und diese auch übertragen ins menschliche Sozialleben. Bloß gibt die Natur nicht her, welche Ordnungen dies sind. Ihr Fazit lautet: Naturalisierung ist eigentlich weniger dramatisch, als die Kritiker befürchten, da man schließlich nur Ordnung (im Sinne von Normativität per se) und nicht irgendwelche konkreten Normen aus der Natur beziehen könnte.
So beruhigend dieses Fazit vielleicht auf liberale Gemüter (und von denen ist Daston als Leiterin des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin zuhauf umgeben) wirken mag, so läßt es doch eine entscheidende Frage offen. Denn wie verhält es sich in den Fällen, in denen wir nicht per analogiam aus der Natur auf die menschlichen Normen schließen (zum Beispiel von schwulen Flamingos auf schwule Menschen), sondern in denen der Mensch selbst Teil der Natur ist?
Homosexualität wäre in Dastons Begrifflichkeit ein Verstoß gegen die »spezifische Natur« des Menschen, das darin besteht, seinesgleichen fortzupflanzen: »die für die Ordnung spezifischer Naturen typische Störung ist die missglückte Fortpflanzung«. Daston bezieht sich dabei auf Kants grundsätzlichen Gedanken, daß ohne spezifische Naturen als Ordnungsprinzipien Erfahrung schlechterdings unmöglich wäre: Denn, so Kant in der Kritik der reinen Vernunft, würde der Zinnober bald leicht, bald schwer, bald rot und bald schwarz, so wäre es mir unmöglich, beim Gedanken an Röte oder Schwere den Zinnober in meine Gedanken hinein zu bekommen.
Wäre der Mensch seiner Natur nach mal homo‑, mal heterosexuell und mal irgendwas dazwischen, man hätte einige Schwierigkeiten, ihn einzuordnen in die erfahrbare Ordnung der Welt. Es könnte sein, daß Daston an dieser Stelle die Konsequenz aus ihrem bravourös verfochtenen Naturalismus nicht ziehen will, weil sie manchem Zinnober der konstruktivistischen Wissenschaftsgeschichte doch mehr glaubt als den Intuitionen, die »die treibende Kraft bei der Suche nach Werten in der Natur« sind. Wissenschaftshistorie ist indes nicht für den politischen Gebrauch bestimmt. Von Lorraine Daston können wir das sorgfältige Umkreisen einer leidenschaftenerregenden Frage lernen, unsere Intuitionen mal eine zeitlang hintanstellen und zuschauen, was nicht nur die Natur- sondern auch die Kulturgeschichte an üppigen Effloreszenzen hervorgebracht hat.
Lorraine Daston: Gegen die Natur. (= Reihe De Natura Band V), Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2018. 108 S., 14 € – hier bestellen.
zeitschnur
Der Mensch hat mit dem Tier gemeinsam die Eingebundenheit in natürliche (kreatürliche) Ordnungen. Zum Beispiel die Sexualität als Grundlage zur Fortpflanzung. Soweit so gut. Doch anders als das Tier ist dem Menschen nur eine schwache oder gar keine Instinktorientierung hinzugegeben.
Das Tier pflanzt sich fort entsprechend seinen Instinkten. Einmal im Jahr oder so... zur Paarungszeit... Beim Menschen gibt es das so nicht. Es ist durchaus umstritten, ob es "schwule Flamingos" gibt oder ob nicht einfach nur eine Umleitung der zartrosa Sexualität immer dann geschieht, wenn der Instinkt sie in Gang setzt, aber aus irgendwelchen Gründen, die erforscht werden müssten, nicht zu dem erfolgreichen Ziel führt, das die natürliche Ordnung vorsieht. Dass ein dekonstruktivistischer Lobbyismus nun in der Natur nach "ordnungsgemäßen" Vorgängen für eigene "abweichende" ("queere") Meinungen und Wünsche sucht, ist nicht überzeugend. Wie Sie es referieren, beißt sich hier die Katz in den Schwanz - es ist ein tautologisches Argumentieren, aber das Argumentationsniveau ist in diesen Kreisen so weit herabgesetzt, dass man dort die Basisgesetze der Logik meist nicht mehr kennt. Man hat Recht, weil man Recht hat. Zurück zum Flamingo: Bloße empirische Phänomene müssen nicht auf demselben Grund stehen. Darüber hinaus ist ein ETHISCHES Argument mit der Struktur: "Seht ihr, es gibt auch schwule Flamingos, also ist es ethisch gerechtfertigt, dass Homosexualität genauso gut ist wie Heterosexualität" mehr als dürftig - von der mangelnden Logik mal abgesehen. Die Empirie gibt eben so oder so kein ethisches Argument her! Mit dem Argument müsste man Mord und Totschlag rechtfertigen - das alles gibt es schließlich auch.
Da der Mensch - anders als das Tier - sich eben nicht auf Instinkte stützen kann und ohne eine gewissermaßen "kreative" Ethik auf seine Kreatürlichkeit nicht menschenwürdig überleben wird, sind all diese Parallelen mit dem Tierreich oder irgendwelchen angenommenen oder wirklichen Naturordnungen obsolet. Ein triebgesteuerter Mensch gerät IMMER aus der Bahn. Das Tier dagegen nicht!
Man kommt ins Teufels Küche, wenn man über solche Zeitfragen auf einer solchen Grundlage diskutieren will - jede Seite wird für alles ihre "natürlichen" Beispiele und Gründe finden. Das deuten Sie ja selbst an in Ihrem Text. Weiland begründete man auch Rassetheorien mit solchen Verweisen auf angebliche natürliche Empirie und deren "Ordnungen". Und postmoderne Eugeniker tun es nach wie vor.
Mich befällt angesichts dieser desolaten Argumentationsgrundlage ein abgründiges Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Es bleibt ja nur, dass jeder in seiner Vorstellung von "Ordnung" sein Süppchen kocht oder aber eine Art "Gesetz" anerkannt wird, das sich nicht aus der Natur ableiten lässt, ihr aber auch nicht entgegenstehen darf (!), sondern ... offenbart ist. Die Offenbarung eines Sittengesetzes im Herzen? Tragen wir unser Maß nicht vielleicht wirklich im Herzen? Und wie findet man dieses Gesetz dann heraus? Was ist das "Herz"? Der Apostel Paulus schreibt, Gott habe auch den Heiden genau dies "ins Herz" gegeben. Ethiker suchten daher gelegentlich nach interkulturellen "Fixpunkten" ethischer Normen - und in denen kommt Homosexualität sehr oft schlecht weg. Alle Hochkulturen, die heute noch existieren, sahen diese Lebensform als unethisch an. Aber wirklich nur deswegen, weil dabei Unfruchtbarkeit vorgezeichnet ist? Oder nicht eher deswegen, weil der Mensch damit seine Göttlichkeit ins totale Aus schießt? Wenn das aber der Grund ist, wie könnte man das erklären oder begründen?
Ich stelle Fragen, behaupte nichts, aber ich wünschte, man würde all das endlich wieder auf einem vernünftigen und schlicht "hohen" Niveau diskutieren, was definitiv nicht geschieht.