Rainer Mausfeld: Warum schweigen die Lämmer?

Der Trend geht zum überbordenden Untertitel. Was ästhetisch umstritten ist, mag für den Leser zunächst hilfreich sein: Man weiß ganz genau, mit was man es zu tun hat.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Vor­lie­gen­des Buch ist also eine Streit­schrift des Wahr­neh­mungs- und Kogni­ti­ons­for­schers Rai­ner Maus­feld, die sich, der Unter­ti­tel ver­rät es, gegen die falsch ver­stan­de­ne Frei­heit der gegen­wär­ti­gen west­li­chen Gesell­schaf­ten rich­tet. In Auf­sät­zen, Vor­trä­gen und Inter­views bear­bei­tet der Radi­kal­de­mo­krat Maus­feld zen­tra­le Fra­gen der Neo­li­be­ra­lis­mus­kri­tik. Demo­kra­tie erscheint ihm heu­te als »Wahl­olig­ar­chie öko­no­mi­scher und poli­ti­scher Eli­ten«, wäh­rend Frei­heit vor allem »Frei­heit der öko­no­misch Mäch­ti­gen« bedeute.

Die­ser neo­li­be­ra­le Zwit­ter imple­men­tier­te eine Art »inver­tier­ten Tota­li­ta­ris­mus« (Shel­don Wolin), also einen Tota­li­ta­ris­mus, der von den Men­schen nicht als ein sol­cher emp­fun­den wird. Der US-ame­ri­ka­ni­sche Öko­nom und His­to­ri­ker Phil­ip Mirow­ski hat­te ent­spre­chend den Neo­li­be­ra­lis­mus als ideo­lo­gie­freie Ideo­lo­gie unter­sucht (vgl. Sezes­si­on 82) – man betrach­tet alles durch ihren Schlei­er, meint aber selbst­be­wußt, kei­ner Ideo­lo­gie zu fol­gen. Maus­feld weist auf ver­schie­de­nen Ebe­nen die Mirow­ski-The­se nach; er greift hier­bei kennt­nis­reich und elo­quent auf sei­nen psy­cho­lo­gi­schen Erfah­rungs­schatz zurück.

Her­vor­he­bens­wert ist u. a. Maus­felds The­se, wonach der Neo­li­be­ra­lis­mus – ent­ge­gen gewis­ser Annah­men – nicht auf »freie Märk­te« aus­ge­rich­tet sei. Er zie­le viel­mehr auf radi­ka­le Umver­tei­lung von unten nach oben ab, von der öffent­li­chen in die pri­va­te Sphä­re; dabei ste­he nicht die Abschaf­fung des Staa­tes (wie bei Anar­cho­ka­pi­ta­lis­ten) im Fokus, son­dern ein Umbau gege­be­ner Struk­tu­ren, der dafür sor­gen sol­le, daß den wirt­schaft­lich Mäch­ti­gen jene staat­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen gewährt wer­den, die für Kapi­tal­ver­meh­rung und (durch­aus auch auto­ri­tä­re) Herr­schafts­si­che­rung von­nö­ten sind.

Die andau­ern­de mas­sen­wei­se Umver­tei­lung von der Bevöl­ke­rungs­mehr­heit zu einer ver­schwin­dend gerin­gen Min­der­heit wer­de durch kon­stan­te Indok­tri­na­ti­on ver­deckt und unsicht­bar gemacht – die Läm­mer schwei­gen, wäh­rend Macht im 21. Jahr­hun­dert sich der Hül­le reprä­sen­ta­ti­ver Demo­kra­tie bedient, um die eigent­li­chen Schwer­punk­te reel­ler poli­ti­scher Macht für die­se schwei­gen­de, geblen­de­te und eben indok­tri­nier­te Mehr­heit nicht greif­bar erschei­nen zu lassen.

Arti­ku­lier­te Wut und Unzu­frie­den­heit zie­len dann nicht auf die Zen­tren der Macht, son­dern auf Ablenk­zie­le. Die »kapi­ta­lis­ti­sche Demo­kra­tie« erwei­se sich somit als Wider­spruch in sich. Wäh­rend Demo­kra­tie Volks­sou­ve­rä­ni­tät und Hand­lungs­fä­hig­keit für die Bevöl­ke­rung meint, bedeu­te Kapi­ta­lis­mus »Unter­wer­fung unter die Macht­ver­hält­nis­se, die eine Min­der­heit von Besit­zen­den über eine Mehr­heit von Nicht­be­sit­zen­den ausübt«.

So rich­tig die­se und vie­le wei­te­re Ana­ly­sen des Buches erschei­nen, ver­de­cken sie doch nicht den Umstand, daß Maus­feld selbst ideo­lo­gi­schen Fehl­an­nah­men auf­sitzt und die Welt durch einen ent­spre­chen­den Schlei­er betrach­tet. Es bleibt – wie so oft bei alten und neu­en Lin­ken – unklar, wer sich zum poten­ti­el­len Sou­ve­rän wider tech­no­kra­ti­sche Kapi­tal­herr­schaft erhe­ben könnte.

Völ­ker und natio­na­le Kul­tu­ren sind es für Maus­feld nicht, er bezeich­net sie als »Fik­tio­nen«. Rech­te Popu­lis­ten sind Fleisch vom Flei­sche, und »rechts« sei ohne­hin jener, der die Zen­tren der Macht (etwa die unde­mo­kra­ti­sche Wirt­schafts­eli­te) und ihre Pri­vi­le­gi­en stüt­ze und zu erhal­ten trachte.

Die­ser unre­flek­tier­te und dicho­to­mi­sche Rechts-Links-Blick­win­kel führt zur größ­ten Fehl­an­nah­me des Buches, die der Autor aus­ge­rech­net anhand einer rich­ti­gen Aus­gangs­ba­sis ent­wi­ckelt. Die öffent­li­che Mei­nungs­bil­dung las­se sich effek­tiv steu­ern, indem man die Rän­der des­sen deter­mi­niert, was sag­bar ist. »Wer es ver­mag, die Rän­der des in der Öffent­lich­keit sicht­ba­ren Mei­nungs­spek­trums zu mar­kie­ren, der hat schon einen gro­ßen Teil des Mei­nungs­ma­nage­ments« erreicht.

So weit, so durch die bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche Rea­li­tät bestä­tigt. Allein, Maus­feld bin­det dem Leser einen gewal­ti­gen Bären auf: Die­se theo­re­ti­sche Prä­mis­se wer­de in der Rea­li­tät aus­ge­rech­net dadurch bestä­tigt, den »lin­ken Rand« zu mar­kie­ren. Links des Phi­lo­so­phen Jür­gen Haber­mas herr­sche dem­nach die Stig­ma­ti­sie­rung von Ideen und Lösungs­an­sät­zen, links der Mit­te wer­de der poli­ti­sche Rand des­sen ver­merkt, »was man noch ver­ant­wort­lich ver­tre­ten kann«.

Maus­feld, Wahr­neh­mungs­for­scher und Ana­lyst der Mani­pu­la­ti­on, tut damit so, als gebe es kei­ne Son­der­ge­set­ze gegen »rechts«, kei­ne Stig­ma­ti­sie­rung jed­we­der »rech­ter« Ansich­ten, kei­ne »zivil­ge­sell­schaft­li­che« Äch­tung »rech­ter« Per­so­nen unter staat­li­cher und para­staat­li­cher Kuratel.

In Maus­felds Wahr­neh­mung exis­tiert der mas­sen­psy­cho­lo­gisch höchst wirk­sa­me »Kampf gegen rechts« durch bun­des­deut­sche Eli­ten und ihre anti­fa­schis­ti­schen Exe­ku­to­ren schlicht­weg nicht (und daher kann er ihn auch nicht als Ablen­kungs­ziel interpretieren).

Dabei böte die­se seit Jahr­zehn­ten andau­ern­de und zuletzt ver­schärf­te Denun­zia­ti­on oppo­si­tio­nel­ler Akteu­re und Ideen doch her­vor­ra­gen­des For­schungs­ma­te­ri­al für die Ana­ly­se von Mei­nungs- und Empö­rungs­ma­nage­ment durch die poli­tisch, medi­al und öko­no­misch herr­schen­de Klas­se in einer ent­kern­ten Demo­kra­tie volks­fer­ner Eliten.

Rai­ner Maus­feld: War­um schwei­gen die Läm­mer? Wie Eli­ten­de­mo­kra­tie und Neo­li­be­ra­lis­mus unse­re Gesell­schaft und unse­re Grund­la­gen zer­stö­ren, Frank­furt a. M.: West­end 2018. 304 S., 24 € – hier bestel­len

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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Kommentare (1)

Caroline Sommerfeld

10. April 2019 10:02

Und noch einen blinden Fleck des ansonsten diagnostisch richtig guten Buches gibt es: Mausfeld und die ungebrochene Aufklärung! Nur so ist sein radikaldemokratisches Vertrauen in die Massen erklärlich, die ja eigentlich keine blinden Massen sind, sondern lauter rationale und demokratiefähige Subjekte, denen bloß etwas Falsches eingeredet worden ist (da geht Lippmanns "Öffentliche Meinung" weiter). Vielleicht hängt damit auch das Skotom am rechten Auge zusammen: es kann keine "volksfernen Eliten" geben, denen ein Volk im eigentlichen Wortsinne gegenübersteht, sondern immer nur wieder: unterdrückte Klassen.