Christopher Clark: Von Zeit und Macht.

Nach seinem Bestseller zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs (Die Schlafwandler, 2013) kommt der in Cambridge lehrenden Historiker Christopher Clark zu seinem Lieblingsthema,...

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

der bran­den­bur­gisch-preu­ßi­schen Geschich­te, zurück und unter­sucht die Geschichts­bil­der von vier ihrer Prot­ago­nis­ten. Neben dem Gro­ßen Kur­fürs­ten und Fried­rich dem Gro­ßen, die als sou­ve­rä­ne Fürs­ten die Geschi­cke lenk­ten, ste­hen Bis­marck und die Natio­nal­so­zia­lis­ten. Letz­te­re fal­len dabei schon des­halb aus dem Rah­men, weil es sich nicht um eine Per­son, son­dern um eine ziem­lich hete­ro­ge­ne Bewe­gung han­delt. Auch wenn die Fak­ten und Bele­ge, die Clark im Lau­fe sei­ner Abhand­lung anführt, kein neu­es Mate­ri­al bie­ten, liegt sei­ne Leis­tung gera­de dar­in, sie in ein neu­es Licht zu stel­len: »Die­ses Buch zeigt, was geschieht, wenn zeit­li­ches Bewußt­sein durch die Lin­se der Macht betrach­tet wird.«

Clark nennt die­sen Vor­gang »Ver­zeit­li­chung der Poli­tik«. Die Fra­ge lau­tet, wie der Herr­scher, der Poli­ti­ker sich selbst und sei­ne Hand­lun­gen in der Zeit ver­or­tet. Das dar­aus fol­gen­de Ver­ständ­nis von Zeit ist kon­sti­tu­tiv für das jewei­li­ge Geschichts­bild, das natür­lich auch immer von poli­ti­schen Oppor­tu­ni­tä­ten ins Lot gebracht wird.

Der Gro­ße Kur­fürst steht im Bann der Erfah­rung des Drei­ßig­jäh­ri­gen Krie­ges. Dar­aus lei­tet er laut Clark ab, daß Ähn­li­ches in Zukunft ver­hin­dert wer­den müs­se. In die­sem Rah­men nahm er den Kon­flikt mit den Land­stän­den als einen Kampf gegen das Cha­os und die Tra­di­ti­on auf. Sein Geschichts­bild war dem­zu­fol­ge ein dyna­mi­sches, mit der eige­nen Per­son als wesent­li­chem Bewe­ger und Neue­rer. Fried­rich der Gro­ße dage­gen sah, nach­dem der Bestand Preu­ßens gesi­chert war, einen Moment der Voll­endung gekom­men, ins­be­son­de­re des Staa­tes, den es zu bewah­ren und aus­zu­bau­en gelte.
Clark nennt das ein sta­ti­sches Geschichts­bild, was er vor allem mit den his­to­ri­schen Schrif­ten Fried­richs belegt. Auch Bis­marck hat viel geschrie­ben, war aber als Staats­mann in einer ganz ande­ren Posi­ti­on. Poli­tik hat Bis­marck als Schach­spiel beschrie­ben, in dem es vie­le Mög­lich­kei­ten gibt, zum Erfolg zu kom­men. Er muß­te zwi­schen den moder­nen Strö­mun­gen und den kon­ser­va­ti­ven Fun­da­men­ten ver­mit­teln und auf Ereig­nis­se, die plötz­lich aus dem Strom der Zeit auf­tauch­ten, reagie­ren. Ein End­ziel kann­te er nicht.

Das »Geschicht­lich­keits­re­gime« der Natio­nal­so­zia­lis­ten fällt auch aus dem Rah­men, weil es mit den vor­ge­nann­ten Bei­spie­len im Grun­de nichts zu tun hat­te. Es ist inso­fern sinn­voll, daß Clark die Beson­der­hei­ten des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Geschichts­bil­des im Ver­gleich mit dem ita­lie­ni­schen Faschis­mus her­aus­ar­bei­tet. Bei­de woll­ten das Ver­hält­nis von Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart neu deu­ten, indem, so Clark, ein tota­ler Bruch mit der unmit­tel­ba­ren Ver­gan­gen­heit behaup­tet wur­de. Der Faschis­mus in einem linea­ren, der moder­nen Geschichts­lo­gik fol­gen­den Modell, der Natio­nal­so­zia­lis­mus im Sin­ne einer ahis­to­ri­schen Uto­pie, die ein tau­send­jäh­ri­ges Reich der Gegen­wart und Zukunft einem eben­sol­chen in der Ver­gan­gen­heit an die Sei­te stell­te. Clark begrün­det die Ein­rei­hung des NS in die Ahnen­fol­ge Preu­ßens mit der über­mäch­ti­gen Stel­lung des Bis­marck­rei­ches, des­sen Zusam­men­brauch zu einem solch ahis­to­ri­schen Zeit­ver­ständ­nis geführt habe. Die­ses Argu­ment ist nicht beson­ders über­zeu­gend, weil es die wesent­li­che Quel­le des NS, den Sozia­lis­mus, nicht genü­gend wür­digt und damit über­sieht, wel­cher Tra­di­ti­on der NS entstammt.

Lei­der muß man ange­sichts des Epi­logs im Buch den Ein­druck gewin­nen, daß Clark mit sol­chen Ver­glei­chen Aus­sa­gen über unse­re Zeit tref­fen will. Er zitiert dort zustim­mend Macron und sieht in ihm einen neu­en Gro­ßen Kur­fürs­ten am Werk, der gegen die Tra­di­ti­on kämp­fe um Euro­pa zu ret­ten, und kri­ti­siert die Rena­tio­na­li­sie­rung, die sich welt­weit regt. Was ihm dabei etwas aus den Augen gerät, ist, daß die gegen­wär­ti­ge west­li­che Demo­kra­tie gera­de in ihrem Gere­de von Alter­na­tiv­lo­sig­keit eine Tra­di­ti­on behaup­tet, die ganz offen­bar nicht in der Lage ist, uns für die Zukunft zu rüs­ten. Macron erin­nert daher weni­ger an den Gro­ßen Kur­fürs­ten als an die Ver­tre­ter der ahis­to­ri­schen Utopie.

Chris­to­pher Clark: Von Zeit und Macht. Herr­schaft und Geschichts­bild vom Gro­ßen Kur­fürs­ten bis zu den Natio­nal­so­zia­lis­ten, Mün­chen: DVA 2018. 313 S., 26 €

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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