Insofern führt der Titel in die Irre. Hier wird weder geätzt, noch geht es kernhaft um Religionskritik. Hofmann (*1954) arbeitet seit Jahrzehnten in Hamburg als Psychotherapeut. Durch private Kontakte kam er beizeiten in Kontakt mit der arabischen Welt, was zu einer größeren Anzahl muslimischer Patienten in seiner Klientel führte. Einer dieser Kontakte führte zu einer Einladung an den persischen Golf. Seit über zehn Jahren behandelt Hofmann Patienten aus den Golfstaaten: Mehrmals im Jahr reist er für etwa zehn Tage dorthin; dazwischen therapiert er per Telephon oder Skype – oft kommunizieren seine Klienten dann nächtens von leeren Supermarktplätzen aus.
Für Golfaraber der Mittelschicht (Hofmann schreibt, gemessen an ihrem materiellen Wohlstand würde man sie hier zur Oberschicht zählen) ist es keinesfalls unüblich, sich den Heilkünsten westlicher Mediziner anzuvertrauen. Die Seelenheilkunde allerdings ist hier Neuland. Was erscheint typisch an der arabischen Klientel, was unterscheidet sie von Hofmanns Hamburger Fällen? Der Autor behandelt sowohl stark säkularisierte Menschen als auch solche, die tief religiös sozialisiert sind.
Der entsprechende Riß, der durch die arabische Gesellschaft gehe, sei schwerwiegend. Anhand von Fallgeschichten nimmt er in zehn Kapiteln Symptome auf, die symptomatisch seien für diese Gesellschaft, die (Öl!) seit den sechziger Jahren zu großem Reichtum gekommen ist, ohne daß damit ein Anstieg an wissenschaftlichen Leistungen oder Intellektualität verbunden war. Gängig ist die absolute Idealisierung der Mutter, sie darf als Paradigma der gesamten Golfkultur gelten. Vor dem Eintritt in den Himmel hat die Mutter – gemäß einiger Hadithe, die am Golf hohe Geltung beanspruchen – noch post mortem ein Vetorecht.
Problematisch ist das vor allem für die Männer, zumal eigene Mutterschaft den Frauen einen Weg zur Machtausübung eröffne. Die Väter hingegen sind faktisch weitgehend abwesend (emotional, sagt Hofmann, trifft dies spätestens ab dem zweiten Kind auch auf die Mütter zu); allein in der Vorschulzeit widme sich der Vater dem Sohn, nämlich, was den Zugang zur Religion betrifft. Dies, der gemeinsame Gang zur Moschee, sei normalerweise kein aufeinander bezogener Kontakt, sondern eine »gemeinsame Blickrichtung nach außen«: Die Väter delegieren ihren Part unmittelbar an die göttliche Dimension. Das mag kulturell geboten sein. In Zeiten der Globalisierung und der modernen Kommunikation (in den Golfstaaten läuft selbst bei »feinen Einladungen« das Fernsehen; Smartphoneklingeln darf jede therapeutische Sitzung unterbrechen) ist eine solche Eltern-Kind-Beziehung schlicht insuffizient. Hinzu tritt das Nanny-Syndrom: Seit langem herrschen in reichen Golfstaaten wie Bahrain erzieherische Zustände wie in der europäischen Oberschicht des 19. Jahrhunderts: Bereits die Kleinkinderziehung wird südostasiatischen Kindermädchen überantwortet.
Die wiederum leiden oft an der Entfremdung von ihren eigenen, zurückgelassenen Kindern und sind kaum in der Lage, die kleinen Araber in emotionaler Hinsicht zu versorgen. Psychopharmaka werden von arabischen Ärzten reichlich verschrieben, ein Großteil von Hofmanns Klientel ist regelrecht zugedröhnt. Schwierig findet Hofmann auch vollverschleierte Mütter: Sie können mangels erkennbarer Mimik ihren Kindern keinen Resonanzboden bieten. Zahlreiche seiner Klienten tragen einen auffälligen Ring: Es ist ein Gebetszähler. Ab tausend (sehr kurzen) Gebeten pro Tag wird Allah wohlgefällig! Hofmann lernt, jeglichen Einwand an der Religionsausübung zurückzustellen. Er ist ein skrupulöser, warmherziger Autor, die Rücksicht auf kulturelle Gepflogenheiten spricht aus jeder Zeile.
Er ahnt, daß er sich als Arzt dadurch gelegentlich »depotenzieren« läßt. Toleranz sei ein schwieriges Gebot, wo sie auf religiöse Überlegenheitsgefühle trifft. »Religion ist für traumatisierte Flüchtlinge das Letzte, woran sie sich festhalten können. (…) Das ist das Dilemma des Gastlandes. Wir wollen ihnen diese letzte Quelle des Stolzes nicht nehmen.« Aber, so Hofmanns letzter Satz: »Manchmal ist das Getrenntleben nicht nur für Paare die bessere Lösung.« Über die sprachliche Verständigung (offenkundig finden die Sitzungen auf englisch statt) und den speziell sozioökonomischen Stand schweigt sich Hofmann weitgehend aus, ansonsten ist dies ein offenherziges, unideologisches und darum vielsagendes Buch, das zugleich in Standards der modernen Psychotherapie einführt. Eine wertvolle, aufschlußreiche Lektüre!
Burkhard Hofmann: Und Gott schuf die Angst. Ein Psychogramm der arabischen Seele, München: Droemer 2018. 288 S., 19.99 € – hier bestellen