Horand hat gute Erinnerungen an Georg – ein Abenteurer mit äußerst bewegtem Leben, der stets die Extreme suchte. Er hatte gelegentlich gerätselt, warum es damals zum Bruch zwischen seiner Mutter – Georgs älterer Schwester – und dem Onkel gekommen war. Horands Eltern sind tot, er kann sie nicht fragen. Georg will nun promovieren, an der Universität Bonn, wo auch Horand lehrt. Nur heißt er mittlerweile Bruder Athanasius – er ist seit längerem Priestermönch bei einem mit der Priesterbruderschaft Pius X. verbundenen Orden.
Ausgerechnet! Der coole Georg! Der Jazz-Liebhaber, der Freigeist, der unter anderem Schafhirte in Irland und als Jurist für eine Sextoys-Firma tätig war! Horand, kinderlos getrenntlebend, glaubensfern und progressiv, wundert sich. Was könnte den weltoffenen Onkel ausgerechnet in diese »reaktionäre« Piusbruderschaft getrieben haben? Als Athanasius eintrifft, erweist er sich als derselbe Jeans- und Sandalen-Typ, als den ihn Horand in Erinnerung hatte, liebenswürdig und charismatisch zugleich.
Bald erfährt Horand, der sich gerade schwer in eine Kollegin verliebt hat, daß des Onkels Kongregation – die französische Abtei Notre-Dame de Bellaigue – das Eifelkloster Reichenstein erworben hat – was übrigens exakt den historischen Tatsachen entspricht. Ansonsten hüllt sich Athanasius in Schweigen. Oder genauer: Eigentlich hat Horand – bei aller Wißbegier – eine Nachfragescheu. Er versucht, es mit sich selbst zu klären: Wie kann ein so großartiger Mensch in die Fänge einer antiliberalen Glaubensgemeinschaft, der »schlimmsten Truppe überhaupt«, gelangt sein? Horand hält Glauben für ein individuelles Gefühl, eine mögliche Antwort für Sinnsuchende. Und wer sollte schon wissen, und woher, was nun die »richtige Konfession« sei?
Inwiefern könnten Ordnungen, Traditionen und Hierarchien Halt bieten, und wäre das legitim? Mit der Zeit gibt es Antworten, die weitere Fragen aufwerfen. Nun hat diese Autorin (*1969) mit dem abenteuerlichen Vornamen »Husch« keineswegs einen theoretischen Katecheseroman verfaßt. Gleichwohl legt sie ihrem Romanpersonal interessante Fragen in den Mund, und daneben gibt es mancherlei Spannungsbögen und Überraschungsmomente – bereits die konkrete Verortung läßt einen neugierig weiterlesen.
Das Hauptproblem an diesem Buch ist: Wenn es ein spezifisch »weibliches Schreiben« gibt, dann wäre dies hier ein Musterfall. Nun fungiert Horand als Ich-Erzähler, aber weil der eben realiter eine Erzählerin ist, die ihre weibliche Sichtweise und Denkungsart nicht zu transzendieren in der Lage ist (wobei es Beispiele gibt, daß dergleichen möglich ist), dominiert diese Glaubwürdigkeitslücke die Lektüre. Unauthentisch und mangelhaft ausgedacht wirken zudem die Hin- als auch die Fortwendung Gregors zu und von der Kongregation FSSPX, die dem vorkonziliaren Glauben und der entsprechenden Liturgie verpflichtet ist.
Nur ein Beispiel: Bekanntlich ist es eines der wesentlichen Merkmale der Heiligen Messe, wie sie über Jahrhunderte gefeiert wurde, daß der Priester sich dem Allerheiligsten zuwendet und somit der hinter ihm stehenden Gemeinde voransteht. Daß hier ein Opfer zelebriert und keineswegs nur eine menschenfreundliche »Tischgemeinschaft« gehalten wird, gehört zu den Kernelementen der tridentinischen Messe. Für Gregor braucht es einen gewöhnlichen Dorfpfarrer, der ihm die Augen öffnet: »Es sei wichtig, die Menschen während des Gottesdienstes anzusehen«, denn das »bedeute, ins Ebenbild Gottes zu schauen.« Ferner könne man niemandem helfen, indem man ihn »maßregle, diskriminiere, auf eigenen Wahrheiten und Traditionen beharre, statt sie leben zu lassen, wie sie leben wollten.« Seither betreibt der flotte Priestermönch anonym einen »kritischen« Blog gegen die Traditionalisten. – Naja.
Husch Josten: Land sehen. Roman, Berlin: Berlin Verlag 2018. 236 S., 20 € – hier bestellen