Die Deutschen sind Reiseweltmeister. 2016 lagen ihre Ausgaben für Reisen nur hinter denen Chinas und der USA, zwei Staaten mit weitaus größerer Bevölkerungszahl. Die Gesamtzahl der Touristen hat sich seit 1950 verfünfzigfacht. Der Historiker Valentin Groebner versucht diesem Phänomen sozialkritisch auf den Zahn zu fühlen.
Dabei begeht er den Fehler, Tourismus auf eine spezifische Sparte von Kulturreisenden zu verengen. Urlaub sei demnach auch ein Versprechen auf »wiedergegebene Zeit«: »Urlaub verspricht die Reise in ein Früher, das auf magische Weise konserviert wurde und wieder zugänglich ist.« Diese Darstellung ist in ihrer verallgemeinernden Weise falsch. Den Wintersport-Touristen geht es nicht um eine Reise zurück in der Zeit, sondern allenfalls den Skihang hinunter. Wellness-Touristen wollen, daß die Finger des Ayurveda-Masseurs ihren Nacken auf- und abreisen. Immerhin wird diese Reisevariante von Groebner noch erwähnt. »Eine Unterhaltungsreise in die entgegengesetzte Richtung, in die Zukunft nämlich, will kaum jemand antreten«, behauptet er. Und wie ist es mit Touristen, die nach Dubai, Hongkong oder New York fliegen, um sich an der modernistischen Hochhauskulisse zu berauschen? Oder die ins Euro Disneyland Paris fahren, um im Orbitron ihr eigenes Raumschiff zu steuern?
Wenn Groebner also mit innerer Distanz auf diejenigen blickt, die den Verlockungen der Reisekataloge nach unberührter Natur oder erhaltenen Altstädten folgen, übersieht er die Lebenswirklichkeit der modernen Arbeitsbienen. Schließlich versteht es unsere moderne, materialistische Lebenswelt offenbar kaum, die emotionalen Bedürfnisse der Menschen ausreichend zu befriedigen. Die Sehnsucht nach Natur und Altstädten wächst vor allem dort, wo sie im eigenen Alltag nicht zu finden ist. Wer täglich acht Stunden im Großraumbüro sitzt, danach im Stau oder in der miefigen U‑Bahn auf der Fahrt ins nächste Funktionsareal steckt, möchte sein erspartes Urlaubsgeld eben gerne für ein Kontrastprogramm ausgeben, um eine andere sinnliche Erfahrung zu machen. Anders ausgedrückt: Wer täglich in Gelsenkirchen malocht, fährt nicht nach Bottrop in Urlaub. Zu dieser Erkenntnis bedürfte es keines Buches.
Überhaupt, daß das Leben von Wiederholungen und »Selbstinszenierungen« geprägt ist, ist keine neue Erkenntnis. Ebenso, daß vermittelte Geschichte stets gefiltert wird. Groebner ärgert sich über dumme Touristen und eine Unterhaltungsindustrie, die das historische Material plündere und verkitsche. Als Urheber solcher Entwicklung werden unter anderem Richard Wagner und der Historismus ausgemacht. Paradox findet Groebner, daß Touristen mittelalterliche Stadtmauern besichtigen. Schließlich hätten die Mauern einst die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, während sie heute Anziehung auf Besucher haben, die ihre uneingeschränkte Bewegungsfreiheit hochschätzen. Was will einem solcher Gedankenquark sagen? Daß Besucher auch keine Königsschlösser besichtigen sollten, da sie doch eigentlich gerne alle vier Jahre an die Wahlurnen pilgern? Daß das Betrachten von Kirchen für diejenigen Tabu sein sollte, die keine Taufe erfahren haben? Die unbefleckte Aneignung von Geschichte erfolgt ja gerade dadurch, daß sie Geschichte ist und keine unmittelbare Wirkmacht auf die Gegenwart hat.
Daß Groebner sich vor dem Zeitgeist verbeugt und Spitzen gegen »Identitäre« absondern muß, setzt dem Ganzen nur das I‑Tüpfelchen auf. Identität werde zum »Trick«, andere sprechen vom »Konstrukt«. Und selbstverständlich gehören auch Seitenhiebe gegen die »völkische« Kulturkritik zum Inventar von Retroland. Überraschend ist dabei einzig eine kurze Passage, in der Groebner die Ausstellungen in dem US Holocaust Memorial Museum mit nachgespielten Ritterturnieren vergleicht. Groebner faßt am Ende seines Groß-Essays seine Intention in zwei Sätzen zusammen: »Offenbar halten wir es schlecht aus, dass die Vergangenheit ein für immer unbetretbares Land ist, unwiderruflich verschwunden, futsch. Souveräner wäre es, das Vergangen-Sein der Vergangenheit zu akzeptieren, die Verluste inbegriffen, und nach den Freiräumen zu fragen, die sich daraus ergeben – nach dem Platz für das Neue.«
Der Linke hat nie viel mit der Geschichte am Hut. Es sei denn, sie läßt sich für seine Zwecke instrumentalisieren. Ihm fehlt der tiefere Zugang zu der Erkenntnis, daß alles zusammenhängt, daß wir Akteure in einem ewigen Drama sind. Stattdessen ist für den Linken immer nur die Zukunft von Interesse, das utopische Nirvana, dem der von allen Bindungen an die Vergangenheit befreite, emanzipierte Mensch entgegenfliegen soll.
Doch viele Menschen fliegen nicht gerne in die emanzipierte Zukunft. Sie fliegen in ihrer zweiwöchigen Auszeit lieber entlang den Pfaden der Massengesellschaft. Sie verfügen oft nicht über das Fachwissen des Geschichtsprofessors und damit nicht über die gebotene zerknitterte Distanz, die einem hiesigen Akademiker eigen zu sein hat. Sie eignen sich Geschichte ganz spielerisch an, oberflächlich, naiv, wie Kinder. Und dies führt bei Groebner zu spürbarem Ekel, der letztlich der Auslöser für dieses unsystematische Buch gewesen sein dürfte.
Valentin Groebner: Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2018. 224 S., 20 € – hier bestellen