Angela Wierig: Nazis Inside: 401 Tage NSU-Prozess

Eine Rezension von Matthias Müller-Brinkmann

Poli­ti­sche Jus­tiz gibt es in der Bun­des­re­pu­blik nicht, schon gar kein poli­ti­sches Straf­recht. Es gibt aber ein­schlä­gi­ge Para­gra­phen, deren Tat­be­stän­de nur von Anders­den­ken­den erfüll­bar sind. Die infla­tio­nä­re Anwen­dung der §§ 129a und 130 StGB bei­spiels­wei­se hat seit Mer­kels Son­der­weg 2015 und der Ein­füh­rung des Netz­werk­durch­set­zungs­ge­set­zes von 2017 einen beacht­li­chen Keil in die Rechts­staat­lich­keit der Bun­des­re­pu­blik getrieben.

Wer sich gegen die Mas­sen­mi­gra­ti­on orga­ni­siert, muß gewär­tig sein, daß der Gene­ral­bun­des­an­walt schon die Mails mit­liest und einen Pro­zeß wegen Bil­dung einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung (§ 129a StGB) vor­be­rei­tet. Wer sei­ner Wut oder berech­tig­ten Kri­tik am aktu­el­len Son­der­weg öffent­lich Luft macht, kann mit einer Stan­dard­an­zei­ge der Inter­net­po­li­zei wegen Volks­ver­het­zung (§ 130 StGB) rech­nen und damit, daß Ankla­ge­schrift und Urteil (böse Zun­gen behaup­ten, bereits vor Beginn der Haupt­ver­hand­lung) eben­so stan­dard­mä­ßig wort­gleich sind.

Selbst­re­dend sind aber Struk­tu­ren hin­ter offen­kun­dig links­ra­di­ka­len Anschlä­gen auf Poli­zis­ten, Behör­den und Ämter oder gar die Leip­zi­ger Außen­stel­le des BGH am 31. Dezem­ber 2018 nicht unter § 129a StGB sub­su­mier­bar, denn dort han­delt es sich, falls über­haupt Täter gefaßt wer­den, höchs­tens um Ein­zel­straf­ta­ten, ein biß­chen § 306a hier und eine Pri­se § 308 StGB da. Alles Ein­zel­fäl­le ohne kon­spi­ra­ti­ven Zusam­men­hang. Und daß Blogs ohne Impres­sum, die im Wahl­kampf­jahr 2019 zu Mor­den an Poli­ti­kern auf­ru­fen, den § 130 StGB nicht erfül­len kön­nen, ver­steht sich eben­falls von selbst. Soviel zur Gegenwart.

Vom 6. Mai 2013 bis 11. Juli 2018 fand vor dem Ober­lan­des­ge­richt Mün­chen der unpo­li­tischs­te Straf­pro­zeß min­des­tens seit dem RAF-Pro­zeß von 1975 statt. Der NSU-Pro­zeß kos­te­te nach neus­ten Schät­zun­gen 30 Mio. Euro und umfaß­te stol­ze 438 Haupt­ver­hand­lungs­ta­ge. Die Ham­bur­ger Rechts­an­wäl­tin Ange­la Wie­rig nahm bis zu ihrer Ent­pflich­tung sat­te 401 Tage an die­sem Spek­ta­kel teil und ver­trat als Neben­klä­ger­ver­tre­te­rin die Schwes­ter eines Opfers. Soweit die Aus­gangs­la­ge. Wie­rig ist nun, und dar­auf kommt es hier an, kei­ne »Gerichts­nut­te«.

So wer­den unter auf­rech­ten Straf­ver­tei­di­gern die »Kol­le­gen« bezeich­net, wel­che auf zau­ber­haf­te Wei­se eine Flat­rate auf Pflicht­ver­tei­di­gun­gen gebucht haben und bei denen die Man­da­tie­run­gen schon vor­lie­gen, ehe die Straf­tat über­haupt began­gen wur­de, bezie­hungs­wei­se eine Zehn­tel­se­kun­de danach. Daß die­se Gerichts­nut­ten im Pro­zeß kaum wahr­nehm­bar und nicht sehr wider­spruchs­freu­dig sind, ist rei­ner Zufall und hat selbst­ver­ständ­lich nichts mit ihrer Gerichts­nut­tig­keit zu tun. Wie­rig nun hat wäh­rend des NSU-Pro­zes­ses (und sicher auch sonst) über­durch­schnitt­lich oft den Mut gehabt, sich ihres eige­nen Ver­stan­des zu bedie­nen. Was dazu führ­te, daß die­se poli­tisch nun wirk­lich über­haupt nicht ver­däch­ti­ge oder vor­be­las­te­te Straf­ver­tei­di­ge­rin nach ihrem Plä­doy­er am 12. Dezem­ber 2017 ihr Man­dat ver­lor und zum Opfer einer der­ben Medi­en­kam­pa­gne wur­de, die ihr nicht nur Man­dan­ten­ver­rat unter­stell­te, son­dern auch, selbst Nazi zu sein, min­des­tens jedoch, AfD-Bot­schaf­ten durch die hei­li­gen Hal­len des OLG Mün­chen zu posau­nen – nur, und dar­auf kommt es hier wei­ter­hin an, weil sie im Gerichts­saal den Mut hat­te, den Kai­ser als nackt anzusehen.

Über die­sen Eier­tanz, der in ihrer Schil­de­rung von einer Komö­die zur Gro­tes­ke abglei­tet, hat Wie­rig ein unge­heu­er unter­halt­sa­mes Buch geschrie­ben und damit ein wei­te­res Sakri­leg began­gen: Man darf mit ihr über den NSU-Pro­zeß lachen. In schnodd­ri­gem Ton, der vor nichts und nie­man­dem Halt macht und an Vir­gi­nie Despen­tes erin­nert, läßt Wie­rig in ihrem Pro­zeß­be­richt kei­nen Stein auf dem ande­ren, ohne, und daß ist eine wei­te­re Leis­tung die­ses Buches, sich den weit­ver­brei­te­ten Ver­schwö­rungs­theo­rien zum NSU anzu­schlie­ßen. Sie ist Juris­tin durch und durch und in ihrer unkon­ven­tio­nel­len Art so sach­lich, daß es ihren strom­li­ni­en­för­mi­gen »Kol­le­gen« der Neben­kla­ge von Anfang an sehr sau­er auf­stieß. Das Plä­doy­er und das letz­te, unver­öf­fent­lich­te Kapi­tel fin­det man in einem von Wie­rigs Blogs unter nazisinside.com

Ange­la Wie­rig: Nazis Insi­de: 401 Tage NSU-Pro­zess, Ham­burg: Osburg 2018. 230 S., 20 € – hier bestel­len

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