Journalisten sind auf diese »verkürzten Wege« geradezu angewiesen – kein Mensch kann sämtliche Originaltexte in extenso kennen. Als Dauernachschlagwerke über bestimmte Fragestellungen dienen mir unter anderem die von Gerd Klaus Kaltenbrunner herausgegebene Herderbücherei Initiative (1974 – 1988), Die engagierte Nation. Deutsche Debatten 1945 – 2005, zusammengestellt von Eberhard Rathgeb sowie in jüngerer Zeit Die Sprache der BRD von Manfred Kleine-Hartlage. Bücher zum Staunen, Schwelgen, Dazulernen!
Der Zeitraum, den der Schweizer Journalist und Afrikakorrespondent (mit Philosophie‑, Psychologie- und Soziologiestudium) Georg Brunold (*1953) hier bespielt, ist weit ausgedehnter: Um »Mutmaßungen« zur Menschenkenntnis »aus 2500 Jahren« dreht sich die Frage, die genaugenommen mit Homer (um 700 v. Chr.) erste Antworten erhielt. Es ist dies ein hervorragendes, äußerst nützliches Buch, dies voraus. Allein, bereits die von Brunold gewählte Überschrift zu Homer zeigt, wohin der Hase läuft: »Odysseus oder I Did it My Way«. Hier wird fast durchgehend kokettiert, angebiedert und eine moderne Lesart als Schablone angelegt. Macht ja nichts – zumal Brunolds einführende, oft durch enervierende Zeugmata und Ellipsen geschwollen wirkende Worte (»Soziologen haben es immer gewusst, aber wie die Psychologen noch viel zu lernen.«) zu Autor, Inhalt und Relevanz zum Glück deutlich kürzer ausfallen als das jeweilige Textdokument.
Was hätten wir da an beredten Texten zur Menschenkenntnis? Sehr schön: einen Ausschnitt »über die Kriegskunst« von Sun Tsu (500 v. Chr.); eine Charakterkunde aus Aristoteles’ Feder über »Altersstufen und Lebenseinstellungen«; Galens (um 170 n. Chr.) Kundschaft von den vier grundlegenden Lebenssäften kalt-warm-trocken-feucht; Machiavelli (1513) zu der Frage, ob ein Herrscher besser damit fahre, geliebt oder gefürchtet zu sein; Balthasar Graciáns Handorakel (1647) und Wilhelm Wundts Lehre von den vier Temperamenten (1903). Auch unter den neuzeitlichen Beiträgern (29 von 115 Autoren, ein peinliches Übergewicht angesichts der betrachteten Jahrtausende, haben ausschließlich im 21. Jahrhundert publiziert) finden sich Perlen wie Hans Jürgen Eysenck (1964) oder Simon Baron-Cohen (2003) – und sogar Eckart von Hirschhausens Auslassungen über die Wirksamkeit von Placebos mag man nicht schmähen.
Eine Deutschlandfunkmoderatorin rühmte artig, daß in diesem Handbuch so unerwartet »viele Frauenstimmen« vertreten seien. Vielleicht, weil Frauen vor allem eine höhere »interpersonelle Intelligenz« – auch um diese sieben Formen der Intelligenz dreht sich ein Dokument – zugesprochen wird? Nun ja, die beitragenden Damen machen ungefähr 15 Prozent aus. Bis auf Christine de Pizan (1405) und Margareta Porete (um 1300) sind es allesamt Autorinnen der Moderne.
Liest man sie, ahnt man, warum Quote und Qual alliterierend reimen: Wie eine Katherine Mansfield (1910) den stillos fressenden »typischen Deutschen« beschreibt (klar, es geht um Sauerkraut), ist allenfalls leidlich witzig; Margarete Meads Gender-Feldforschung (1949) hat sich längst als Mädchenblütenträume entpuppt, und was soll man zu dem »1. Jahrhundert der Klitoris« sagen, daß drei Damen aus den Regionen Wissenschaft und Journalistik vereint anno 1998 ausriefen? Von einer Carolin Emcke, die sich hier über »Haß« (und das als Hasserin!) ausbreiten darf, ganz zu schweigen. Und doch, nach dieser teils aufreibenden, immer aber anregenden Lektüre ist man definitiv ein besserer Menschenkundler.
Georg Brunold (Hrsg.): Handbuch der Menschenkenntnis. Mutmaßungen aus 2500 Jahren, Berlin: Galiani. 416 S., 39 € – hier bestellen