3. Mai – Eine der Kleinen seufzt: „Beim nächsten Vorsingen dürfen wir wählen zwischen Shotgun und An der Saale. Das ist doch beknackt!“
Einhelliges Gelächter und Zustimmung am Abendbrottisch. [Mich erstaunt erneut, daß es das gibt – in hessischen Schulen der achtziger Jahre wurde sowas nicht gefordert; uns Schülern wäre „Vorsingen“ auch extrem altbacken vorgekommen.]
Es stellt sich heraus, daß die Tochter sich vor allem über die abverlangten Leistungsunterschiede wundert: „An der Saale kann ich glatt singen bei Kopfstand und mit irgendeiner anderen Tonspur im Ohr, aber Shotgun ist doch wohl ein anderes Kaliber [sic]!“ –
„Ach so“, grinst eine Schwester, „aber um was für eine Schrotflinte geht es da eigentlich?“
Die Kleine: „Ja, das ist außerdem die Frage! Ich hatte die Frau V. [die ich, das will ich betonen, für eine hochsympathische & grundgescheite Lehrerin halte, E.K] ja schon zweimal bei anderen Liedern nach einer Übersetzung gefragt. Sie hat auch diesmal geantwortet, mit Englisch könne man sie jagen.“
Nach kurzem Blick in die familiäre Runde bekennt die Kleine: „Kein Streß – ich singe eh An der Saale!“
Die Älteste erinnert daran, wie sie mal Strafarbeiten ausführen mußte, als sie sich geweigert hatte, einen Text zu singen, der ihr nicht übersetzt wurde (bei einer anderen Lehrerin.). Ich weiß das noch. Es gab mehrere ähnlich gelagerte Fälle. Ich grübele länger: Warum sind manche meiner Kinder grundschüchtern, aber im Ernstfall dissident – und andere eher keck, aber ohne echten Widerstandsgeist? Ich hab doch immer nach gleichen Maßgaben erzogen?
Nach dem Abendbrot hilft die jüngere Tochter dem Vater im Garten beim Kartoffelhäufeln. Knopf im Ohr ist innerhalb des Haushalts unerwünscht, und doch singt sie beschwingt: „Deep-sea diving ‘round the clock, bikini bottoms, lager tops, I could get used to this“. Entschuldigender Blick zum Papa: „Ich komm nicht los davon, tut mir echt leid, es ist in meinem Kopf!“ Schulstoff, oh heaven.
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4. Mai – Mit solchen Kinkerlitzchen aus dem Schulalltag jammere ich freilich auf hohem Niveau. Besuchten meine Kinder die „Gesamtschule Schinkel“, hätte ich ein anderes Problem.
Die Osnabrücker Institution, die stolz das Logo „Umweltschule in Europa“ trägt, hat unter Obhut von Theaterlehrerin Leonie Kerksiek ihr Stück „Danke dafür, AfD“ verarbeitet, wie die Neue Osnabrücker Zeitung mit stockendem Atem und unter der Überschrift „Bitterer Theaterabend in der Gesamtschule Schinkel“ berichtet.
„Die Schüler wollten das Thema ‚Rechtsruck der Gesellschaft’ verarbeiten“, rechtfertigt sich Theaterlehrerin Leonie Kerksiek, und man fragt sich so spontan wie besorgt: Die SchülerInnen waren doch wohl nicht zum Mittun gezwungen?
„Beklemmung“, so unser halb verdrossener, halb begeisterter Berichterstatter der NOZ, werde hier zuvörderst durch „das Randgeschehen“ erzeugt. Es wird Gas gegeben. Klar – drunter geht es nicht.
Etwa wenn das Publikum von Ordnern mit den Worten „schneller“ oder „Gehen Sie weiter“ zum nächsten Spielort geschubst wird oder wenn hinter Glasfenstern offensichtlich gerade jemand zusammengeschlagen wird, während davor ein “guter Deutscher” über nationale Identität spricht. Oder wenn das Publikum in einem lichtlosen Kellerraum eingesperrt wird und eigentlich nur noch darauf wartet, das Geräusch von aus Duschdüsen strömendem Gas zu hören.
Die jungen Akteure spielten laut Reporter unter seelischen Qualen, zumal sie „denen“ mit ihren Theater ja wieder “ein Podium” gaben:
So nutzen die Schüler ungewohnte theatralische Mittel, um klar zu machen, dass sie der AfD die Schuld an der Verrohung der Gesellschaft geben. Die Schauspieler hinterfragen aber auch, ob sie dieser Partei mit ihrer Aufführung nicht selbst wieder Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit geben.
Letzlich:
So vergeht die dreiviertel Stunde der Aufführung wie im Flug, und am Ende tun sich die Zuschauer schwer mit der Aussage „das war schön“. Zu viele Eindrücke bleiben in Erinnerung, die Dank des intensiven Spiels erst einmal verarbeitet werden müssen. Szenenapplaus gibt es während der Aufführung nicht, denn dafür ist viel des Gezeigten zu krass.
Ja, gab es nun überhaupt Applaus? Muß eine verdammte Zwickmühle gewesen sein.
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5. Mai – Seit etwa sieben Monaten wohnt ein liebenswürdiger junger Mann bei uns im Haushalt. Wir betrachten ihn als unseren zweiten Sohn. Über seine persönliche Geschichte und die Gründe, die ihn ins sachsen-anhaltische Exil trieben, wäre Interessantes zu berichten. Tu ich nicht, aus Gründen. Er heute, höflich wie immer: „Ich wundere mich echt, daß ich nie in Ihren Kolumnen auftauche.“
Hiermit: Premiere!
Ich könnte erzählen, daß ihn unser Ganter auf dem Kieker hat. Es kam bereits zur gefährlichen Körperverletzung im Knöchelbereich. Der Ganter ist eine echte Schmerzmaschine, ultraaggressiv, trotz Handaufzucht.
Heute kam Kubitschek mit eben diesem wilden Ganter in die Küche. Er, der Ganter, blutete stark, seine Gurgel lag frei, eine große Wunde. Urheber war unser grenzenüberschreitender Hahn, auch er ein Alphatier. Nachdem unser Haus-Sohn den Ganter fachkundig verarztet und die große Wunde mit einem (meinem) Kopftuch verbunden hatte, trug er das Opfer zurück in den Stall.
Undank ist der Welten Lohn: Danach mußten wir den Arzt verarzten. Der Ganter heißt jetzt Zecke.
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6. Mai – Als Literaturredakteurin interessieren mich Bestenlisten natürlich brennend. Gerade preist der Perlentaucher den Roman Virginia der in Brandenburg lebenden Kalifornierin Schriftstellerin Nell Zink an – allseits gelobt!
Erzählt wird die Geschichte der weißen, lesbischen Peggy, die mit ihrem schwulen Lyrikdozenten zwei Kinder bekommt, bald mit dem jüngeren der beiden in den Wald flieht, die Identität einer Schwarzen annimmt und unter prekärsten Bedingungen lebt.
Das klingst dermaßen genial, daß ich fast hecheln muß.
Ist mein Instinkt richtig? In einer Leitfeuilleton ‑Rezension lese ich:
Der schwule Professor ist ein arroganter Frauenhasser und der schwarze Junge ein nerviger Streber. (…) Nell Zink führt eine spießige Gesellschaft vor, in der Doppelmoral und Rassismus bis heute an der Tagesordnung sind. Nur wie die Charaktere am Ende sich selbst und zueinander finden, gerät leider ziemlich kitschig und bemüht. Wobei: Vielleicht ist auch das nur wieder ironisch gemeint.
Vielleicht! Haha! Ich bin begeistert avant la lecture! Das muß ein echtes Kunststück sein – schon allein wegen „Wahlbrandenburgerin aus Kalifornien“.
RMH
Riding Shotgun - ja, die gute, alte Zeit, wo man noch nen bewaffneten Beifahrer brauchte, um sicher durchs Land zu kommen. Wer hätte gedacht, dass wir das eigentlich auch heute nötig hätten, noch dazu im "eigenen" Land?
Für den wehrhaften Hahn kann man es ja einmal damit probieren, solange man daraus keine Wettveranstaltungen macht:
https://de.wikipedia.org/wiki/Steinbacher_Kampfgans