Ist das durchzuhalten als Leser, wenn man nicht speziell an analytischer Philosophie interessiert ist?
Der Dresdener Professor für Politikwissenschaft und Philosoph Lothar Fritze, der an der TU lehrt und am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung arbeitet, hat sich in mehreren Schriften bereits dieses Themas angenommen. Warum nun diese Abhandlung?
Hannah Arendt hatte gemutmaßt, Hitler sei ein »Mörder mit mörderischen Instinkten« gewesen. Joachim Fest nannte den NS eine »rechenschaftslose Barbarei«, Ruth Klüger sprach von der »völligen Sinnlosigkeit dieser Morde und Verschleppungen«. Das heutige historische Narrativ über die Verbrechen der Nationalsozialisten geht von ebensolchen Grundannahmen aus: Sie hätten entweder keine Moral oder eine »andere Moral« als wir gehabt, ihr Handeln sei demzufolge zumindest nicht rational nachvollziehbar, wenn nicht absurd oder böse gewesen.
Fritze tritt mit dem Werkzeugkoffer des analytischen Philosophen an diesen gefährlichen Forschungsgegenstand heran. Seine Kernthese: daß die Nationalsozialisten, folgt man Dokumenten ihrer führenden Vertreter, moralische Grundnormen (z. B. das Tötungsverbot, das Verbot zu lügen etc.) akzeptiert haben. Aus der bewußt vollzogenen Verletzung einer Grundnorm folgt nämlich nicht, daß man diese nicht akzeptiert. Auch ein in Kampfeinsätze verwickelter Soldat würde sich gegen den Vorwurf verwehren, er lehne das moralische Tötungsverbot ab. In diesem Sinne hatten die Nationalsozialisten weder eine »andere Moral« noch überhaupt keine. Auch die Tötung von Juden mußte gerechtfertigt werden.
Indem der Autor vom Konzept des »Täters mit gutem Gewissen« ausgeht, kann er unterscheiden zwischen den moralischen Überzeugungen des Beobachters (unseren eigenen oder denen der oben zitierten Historiker) und denen der NS-Akteure, ohne die Überzeugungen des Beobachters mit definitorischer Macht auszustatten, so daß gilt: »Aus nationalsozialistischer Binnenperspektive wurden gerade keine Verbrechen begangen.«
Der wesentliche Unterschied, den Fritze herausarbeitet und wofür er wegen seiner sorgfältigen Argumentation einen solchen Umfang an Seiten benötigt, liegt in der Begründung des Handelns der NS-Täter durch deren außermoralische Annahmen. Die Selbsterhaltung des eigenen Volkes unter Knappheitsbedingungen ist eine außermoralische Annahme.
Der Autor vertritt die These, daß die Nationalsozialisten dieselben Grundnormen wie wir, jedoch andere Reichweitenregelungen vertreten haben. So stellt er fest: »Die führenden Nationalsozialisten waren gerade nicht der Meinung, dass sich Juden außerhalb des Geltungsbereichs der moralischen Grundnormen befinden.« Daher hatten sie Rechtfertigungsgründe nötig, um ihr Handeln zu verantworten. Diese muß man einzeln erläutern, um nicht Gefahr zu laufen, daß das ganze Projekt einer Analyse der NS-Moral seinerseits als Rechtfertigung dieser Moral verstanden werden könnte. Fritzes lupenreiner Trennschärfe der Begriffe und Ebenen ist es zu verdanken, daß man auf keiner Seite auch nur Nähe zu dieser Gefahr bemerken kann.
In einer Fußnote liefert er ein Beispiel für diese Klarheit: »Eine Behauptung wird nicht dadurch falsch, dass sie von Nationalsozialisten und dazu noch in einer bestimmten (propagandistischen) Absicht vertreten wurde. (…) Auch Propaganda – und eben auch ›Nazipropaganda‹ – kann, was ihren Aussageinhalt anlangt, den Tatsachen entsprechen.« Es ist in moral philosophischer Hinsicht gleichgültig, ob der Überlebenskampf des »Volkes ohne Raum« nötig oder ob der Bolschewismus reale Bedrohungen waren.
Der Schluß seines Folianten führt in die Fragestellung ein, wie denn auf eine spezifisch innermoralische Art und Weise nationalsozialistische Überzeugungstäter beurteilt werden können. Sie haben kognitive Pflichten verletzt, es also an zutreffender Urteilsbildung, Verantwortungsübernahme und Reichweiteneinschätzung fehlen lassen: »Moralische Schuld entsteht dann, wenn auf einer defizitären kognitiven Basis gehandelt wird, obwohl deren Mangelhaftigkeit erkennbar war und pflichtgemäß hätte erkannt werden müssen«. Da unsere Intuition als Nichtnationalsozialisten dies für unzureichend hält – der gewichtigste Vorwurf liegt in der mangelnden Empathie der Protagonisten ihren Opfern gegenüber – muß Lothar Fritze hier ein großes metaphysisches Faß aufmachen. War der NS Ausdruck von zu viel oder von zu wenig aufklärerischer Rationalität? Der Autor konstatiert, daß Täter mit gutem Gewissen glaubten, daß es geboten war, moralische Grundnormen zu verletzen. Das klingt kopflastig.
Sie moralanthropologisch als rationale Handlungsplaner, in deren Denken man sich hineinversetzen kann, zu betrachten, ermöglicht indes, aus den Verbrechen des NS zu lernen. Kategorisiert man die Täter hingegen als Irre, Böse oder Sadisten, exkulpiert man sie. Wir Heutigen, die wir glauben, für das Gute einzutreten, gleichen Hitler und Himmler in dieser Hinsicht. Fritzes coolness, er selbst spricht von »methodischem Pragmatismus«, kann wirklich nur einem analytischen Philosophen zu Gesicht stehen. Von ihm können wir sie in eigene Überlegungen zu diesem argumentativen Minenfeld übernehmen.
Lothar Fritze: Die Moral der Nationalsozialisten, Reinbek: Lau 2019. 550 S., 38 €. – hier bestellen.
Laurenz
Wenn man die Nationalsozialisten als Erfinder des staatlichen Tierschutzes betrachtet, weißt ihre Radikalität konkrete Parallelen zu heutigen Organisationen auf. Die Annahme, die Mischung von solchen und solchen Menschen sei eine andere gewesen, beruht nur auf religiöser oder konstruierter Geschichtsbetrachtung. Hier wird auch die internationale politische Handhabe ausgelassen. Die Bundesregierung zu Bonn garantierte der DDR-NomenKlatura Straffreiheit für in der DDR von höheren Staatsorganen begangenen Verbrechen wider die Menschlichkeit. Der totale Krieg der Alliierten gegen das Deutsche Reich schloß diese sonst häufig geübte Abmachung aus. Der NS-Führung, außer den Nachkriegs-eminenten Personen, wie zB Heinrich Müller, Chef der Gestapo, blieb nur der Strang in Aussicht, was die politische Handlungsweise logischerweise verändert, solange eine Exekutive zur Ausführung zur Verfügung steht. Solange sich die historische Wissenschaft zur heute zeitgeistigen Bewertung hinreißen läßt, werden diejenigen Völker in einem unerhörten globalen Rassismus mißachtet, welche die damalige Gelegenheit nutzten, sich von unseren Befreiern zu befreien.