Jürgen Habermas, der heute 90 Jahre alt wird, müßte sich, nähme er sich selbst und seine Diskurs-Modelle ernst, freuen über so viel Unbeeindruckbarkeit gegen eine moralisch auftrumpfende und aus allen Rohren feuernde Übermacht, eine mit Steuergeldern und anderen Zwangsabgaben durchgeölte Maschinerie, die zuletzt sogar mit internationaler Hilfe, mit zu Hilfe eilenden Filmgrößen den Machtwechsel in der Renaissance-Kulisse Görlitz verhindern wollte.
Wenn der Eindruck nicht täuscht, haben diese Fremdbestimmungsversuche bereits für die OB-Wahl in Görlitz nicht mehr viel ausgetragen: wieviel bizarres Ungleichgewicht! Die Folgen sollten für jedes weitere “breite Bündnis” in Sachsen und den angrenzenden Bundesländern verheerend sein: Wenn Alle gegen Einen boxen, ihm mit Tiefschlägen beizukommen versuchen und ihn doch nicht kaputtkriegen, geht er als Sieger vom Platz – auch wenn er nach Punkten noch knapp verloren hat.
Es zeichnet sich nach dem grünen Schock ein Weg ab: ganz selbstverständlich antreten, unverbrauchte (also: nicht markierte) Leute ins Rennen schicken, Prellbock sein für die geballte Arroganz, das denunziatorische und übergriffige Happening einer “Zivilgesellschaft”, die in ihren Hochburgen damit Erfolge feiern mag, nicht mehr jedoch dort, wo Schulterschlüsse zwischen CDU, Grünen, SPD und Linken als das bezeichnet werden, was sie sind: Formierungen einer in sich kaum mehr aufgefächerten Einheitspartei.
Es hat beinahe derjenige gewonnen, der dem wahnsinnigen Aufwand, dem geradezu absurden Aufgebot der Gegner keineswegs eine auch nur annähernd ähnliche Umtriebigkeit entgegengesetzt hat. Auch das eine mögliche Verhaltenslehre, die zu prüfen wäre: ob nicht nichts zu sagen außer ein paar schlichten, naheliegenden Sätzen nicht manchmal das Allerbeste ist; nichts sagen, aber wahrnehmbar in die Richtung zeigen, aus der ein panischer Gegner seine Kanonen abfeuert.
Einstecken; den Kopf hinhalten; Populist sein.
Immer wieder das Brechtwort: den Gegner dazu zwingen, sich “zur Kenntlichkeit zu entstellen” – das ist in Görlitz gelungen. Und wenn die AfD in Sachsen eine Geschichte gesucht hat, die sie im Wahlkampf erzählen könnte, dann ist sie jetzt gefunden: Görlitz war das vorletzte Mal, das so etwas gelang, denn er strahlt nun endgültig etwas Irreales aus, dieser ebenso offensichtlich erzwungene wie hohle, phrasengeblähte Kampf gegen den gesunden Menschenverstand und die Normalität einer echten Opposition.
Görlitz ist die erste Stadt in Deutschland, die sich (hellwach, politisch mündig) um ein Haar erfolgreich vom offensichtlich verlogenen Emanzipations- und Ich-Geschwätz emanzipiert hätte. Als ob das verboten sei! Als ob es sich dabei um etwas Unstatthaftes handelte: Widerstand! Alternative!
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Aber Habermas: Der Kulturphilosoph Stephan Schlak verneigt sich in einem Geburtstagsartikel für die Welt vor dem Greis und versucht dabei, dessen gelegentliche Erwähnung auch in unseren Kreisen als Teil der Habermasschern Aura zu deuten: Seht her, auch diese kommen an ihm, “dem einzigen deutschen Denker der Nachkriegszeit von Weltruhm” nicht vorbei.
In der Tat, so ist es: Wir mußten ja alle durch diese furchtbaren 80er- und 90er-Jahre, in denen sich zunächst das bundesdeutsche Schweinchen-Schlau entlang weniger Schablonen ausbildete, um nach der Revolte von 89 Beute zu machen. Diese Stabilität der “Generation Golf”, diese Verhaltensstabilität entlang der Weisungen und Pseudodebatten der zwei, drei großen Leitmedien – das entpolitisierte Konstrukt BRD brauchte einen Theorienbastler, einen soziologischen Konstruktivisten wie Habermas: Stets geht es bei ihm um Transparenz und um Emanzipationen von verbiegenden Mächten, um Begegnungen im Offenen und freundlichen Streit, um aufgeweckte Ichs, und dann, zack, um die Ungestörtheit dieser brav formierten Gesellschaft.
Schlak spricht in seinem Beitrag davon, daß Habermas seit langem ein “Skeptiker des digitalen Diskurses” sei: Das kann man sich lebhaft vorstellen! Etwas so Unkontrollierbares wie “freie Medien” muß demjenigen ein Graus sein, der den Dialog nur schätzt, wenn er in einem Rahmen und in einem Jargon abläuft, den er selbst geprägt hat.
Diese Zeiten sind zum Glück vorbei, und man muß den halben Meter Habermas nicht gelesen haben: Es reicht, wenn’s einem einer zusammenfaßt, der es durchschaute – wenn man also an die Hand genommen wie in einem jener gläsernen Gebäude, in denen der Bürger von draußen an den Scheiben klebend zusehen darf, wie an runden Tischen das Beste für alle verhandelt wird (gläserne Banken, Manufakturen, Kuppeln); an die Hand genommen, durchs Glashaus gezerrt, dorthin, wo in jedem, wirklich jedem solchen Bau sich die Türen zu jenen Räumen befinden, in die der Diskursgläubige nicht hineinschauen kann, die er nicht betreten darf, und vor diesen Türen stehend weiß man: Genau hier wird das Wesentliche entschieden, alles andere ist nur gläserne Fassade, und gerade Habermas war und ist einer der findigsten Wächter dieser unzugänglichen Räume. Ihm nämlich ist es gelungen, gläserne Türen und Transparenz, Fairneß und Herrschaftsfreiheit dort zu suggerieren, wo nichts davon zu sehen und ganz sicher gar nichts davon wirksam ist.
Weg von Habermas, weg mit diesem Nebel, dieser Fassaden-Theorie, die zu unserer Lage, zur knallharten, machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen zwei unversöhnlichen Lagern nicht mehr paßt. Unversöhnlich? Nicht unser Wunsch, aber unsere Prognose seit Jahren, und das Vokabular der “Zivilgesellschaft” bestätigt uns Tag für Tag auf’s Neue.
Weg also von Habermas, hin zu Schmitt (wieder!), zu Gehlen, zu Sloterdijk. Die “längste Legislaturperiode des Geistes” (Schlak) muß ein Ende finden.
Noch einmal Schlak: Der Fehler von so vielen Historikern oder wenigstens historisch Gebildeten, Schlaks Fehler: daß etwas seinen Wert verlöre, seine Funktionstüchtigkeit einbüßte, wenn man daran erinnert wird, aus welcher historischen Kammer man es geholt hat, um es abzustauben und einzusetzen:
Der jüngste „Strukturwandel“ hat nicht Halt gemacht vor der politischen Semantik der linken Intelligenz, deren Stichwortgeber seit 1968 Jürgen Habermas ist. Was einmal Erkennungszeichen der Linken war – die subkulturelle Suche nach der „Alternative“, die Vorbehalte aus der „Lebenswelt“ gegen das „System“, die situationistische Freude an der „Provokation“ und am „Widerstand“, mit der Habermas aber auch schon im studentischen Karneval um 1968 wenig anfangen konnte – all das wird heute von der Rechten auf ihrem langen Marsch zur „kulturellen Hegemonie“ (Gramsci) kopiert.
Hand auf’s Herz: Hat je einer von uns, die wir “einzelne sächsische Lesezirkel und anhaltinische Rittergüter” (Schlak) mit lesendem und nachdenkendem Leben füllen über Habermas als dem Schöpfer wesentlicher Begriffe unserer Arbeit nachgedacht? Natürlich nicht, denn auf die Idee, derlei sei 1968 erst erfunden worden, konnte nur jemand kommen, der das Jahr 45 für eine Stunde Null hält.
“Alternativen” lebte schon der Wandervogel in einer Konsequenz vor, die heute das Jugendamt auf den Plan riefe, denn er schuf sich da eine “Lebenswelt” gegen das “System”, die in jeder Hinsicht gegen-offiziell war (und von einer ernsten Wucht, gegen die 68 eine Karikatur war); “Provokationen” erfand unter anderem die Wahrnehmungselite um die Brüder Jünger in der Weimarer Republik (und lebte sie situationistisch aus), von den Surrealisten und den Dadaisten gar nicht zu sprechen; und “Widerstand”? Den leistete schon immer ernsthaft nur, wer mit schlimmen Konsequenzen rechnen mußte.
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Das alles hat mit Görlitz, diesem Verdichtungspunkt, nichts und zugleich viel zu tun: nichts, weil sich von unserem Theorienstreit und der dringenden Häutung kein halbes Dutzend Wähler beeindrucken oder umstimmen oder auch nur berühren läßt; viel, denn wir können die ebenso irrsinnige wie brachiale Selbstgerechtigkeit der “breiten Bündnisse” als Folge einer geschickt und recht verlogen eingesetzten Selbstgerechtigkeit der Denkschule um Habermas beschreiben: Alternativen sollen keine Berechtigung haben, wenn sie den von den Verfassungspatrioten abgesteckten Raum verlassen wollen.
Nun scheint es aber genau darauf hinauszulaufen. Wir sind auf die Fratze der Toleranz gespannt. Die eine Gesichtshälfte ist ja schon aufgedeckt …
starhemberg
Zu der jahrzehntelang von den 68ern hochgejazzten Kunstfigur Habermas fällt mir nur ein Zitat des tatsächlichen Geistestitanen Ernst Jünger ein:
"Nur wenige sind es wert, dass man ihnen widerspricht."
Habermas gehört sicher nicht zu denjenigen. Ich hoffe daher, in Zukunft auf dieser Seite nicht mehr von dieser Gestalt belästigt zu werden. Da freue ich mich viel lieber über das beeindruckende Ergebnis in Görlitz.